Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Ein früherer Schüler Cornelius, der sich wie ein Einsiedler in eine Waldhütte zurückgezogen hatte, um zu arbeiten, traf in Weimar ein und brachte seine Oper »Der Barbier von Bagdad« mit. Franzi sah sie sofort durch und fand sie ganz hervorragend. Seit Berlioz' »Cellini« und Wagners Werken hatte ihn noch keine andere Oper so interessiert wie diese. Seine Freude war um so größer, als das die erste Oper war, die aus dem Kreise seiner Weimarer Schüler stammte. Er setzte sich auch sogleich mit dem Theater in Verbindung, daß er dieses Stück noch im Herbst aufführen lassen wolle. Dingelstedt aber gab ihm eine überraschende Antwort:

»Ich möchte für nächstes Jahr das Verhältnis zwischen Oper und Schauspiel im Theater anders gestalten. Ich habe so viele ernste und wichtige Pläne, daß mein Programm dazu nicht ausreicht. Ich benötige weitere Abende. Berücksichtige das bitte auch, wenn du deine Entschließungen triffst.«

»Ich berücksichtige gar nichts. Ich denke gar nicht daran. Das Gleichgewicht zwischen Oper und Schauspiel im Theater beruht auf einer Überlieferung, die wir nicht umstoßen können.«

»Wir können sie wohl umstoßen, und du als der große Reformator könntest das in erster Linie einsehen. Ich will hier eine neue Welt schaffen. Ich wiederhole, ich habe sehr große Pläne, die das vollste Vertrauen des Großherzogs besitzen.«

»Auch meine Pläne.«

»Das glaube ich nicht, mein lieber Franzi. Solange hier der Einfluß Maria Pawlownas ausschlaggebend war, lag das Schwergewicht allerdings bei der Musik. Ihr Sohn ist aber kein Musiker, das weißt du ja am besten. Ihm ist die Musik eine zweitrangige Angelegenheit; an der Literatur und Malerei hat er mehr Freude. Wie ich höre, befaßt er sich mit dem Plan einer Schule für bildende Künste, die er hier in Weimar errichten will. Hat er dir davon nichts gesagt?«

»Nein.«

»Mit mir hat er davon gesprochen. Kurz und gut, ich als Intendant bitte dich also, mir von den Musikabenden wöchentlich einen zu überlassen. Mir wäre es lieber, wenn wir das unter uns erledigen könnten, ich will den Großherzog in diese Angelegenheit nicht gleich hineinziehen.«

»Da wird dir aber nichts anderes übrig bleiben, denn das kannst du mit mir nicht erledigen. Es sind schon sowieso zu wenig Opernabende.«

»Na, wenn nicht, dann nicht. Dann werde ich eben versuchen müssen, mir anderweit zu helfen. Wie geht's der Fürstin?«

Dingelstedt ging unvermittelt in einen liebenswürdigeren Ton über. Franzi sah ihn verwundert an. Diesen Mann hatte er nach jahrelanger zäher Arbeit hierher gebracht, weil er ihn als gebildeten, strebsamen und tatkräftigen Mann kannte, der sich jahrelang, wie ein treuer Hund, als sein begeisterter Anhänger gebärdet hatte. Und siehe da, Dingelstedt war auf seinem Platz kaum warm geworden, – von begeisterter Hingabe keine Spur mehr. Er wurde ein ganz anderer Mensch, fremd und zurückhaltend. Dabei behielt er in der Unterhaltung den freundschaftlich-liebenswürdigen Ton bei, damit man ihm keine feindliche Stellungnahme vorwerfen könne.

Bei der nächsten Audienz fragte der Großherzog Franzi tatsächlich, ob man dem Schauspiel nicht einige Opernabende überlassen könne. Er antwortete mit einem entschiedenen Nein, und der Großherzog ließ es dann auch dabei bewenden. Auch ihr Verhältnis zueinander war nicht mehr das alte. An der menschlichen Wärme dieses Verhältnisses war zwar nichts auszusetzen, aber es war unmöglich zu leugnen, daß die erbitterte Presseschlacht, die hundert und aberhundert Kritiker seit dem verhängnisvollen Leipziger Mazeppa-Konzert gegen Franzi geführt hatten, das Vertrauen des Großherzogs in seine künstlerischen Fähigkeiten ein wenig erschüttert hatte. Schließlich kann einer in seinem Vertrauen ja auch nicht fest bleiben, wenn er selbst nicht musikalisch genug, in der Beurteilung einer ganz neuen Richtung auf die Meinung der Sachverständigen angewiesen ist und jahrelang bei jeder einzelnen Gelegenheit in deren Kritiken nur liest, daß die Tondichtungen Franz Liszts verworren und lächerlich seien. Wenn Franzi den Namen Wagner aussprach, wurde der Großherzog schon mißmutig und schwieg. Er erwähnte ihn jetzt gar nicht mehr. Die Tetralogie hätte man ja auch nur dann aufführen können, wenn er an Stelle des Weimarer »Kunstinstituts« ein prachtvolles geräumiges Theater hätte erbauen lassen. Das war das wenigste, was Wagner für erforderlich hielt. Auch dieser Traum kam in die Versenkung, zu der Goethe-Olympiade und den anderen schönen aufgegebenen Träumen.

Die Oper von Cornelius ließ er aber nicht im Stich. Er glaubte daran, sie war ihm ans Herz gewachsen, er betrachtete sie als sein erstes musikalisches Enkelkind, als den Erstgeborenen seines musikalischen Erstgeborenen, Cornelius. Bei der Einteilung des Spielplanes geriet er zwar oftmals mit Dingelstedt aneinander, trotz allem konnte er aber an einem Dezembertage die Aufführung zustande bringen.

Schon vor der Vorstellung lag etwas in der Luft, irgend etwas Unaussprechliches, unbestimmt Erregendes, ganz etwas anderes als die geladene Spannung der üblichen Uraufführungen. Als das großherzogliche Paar in der Hofloge erschienen war, begann die Vorstellung. Franzi dirigierte selbst, der Komponist wartete aufgeregt hinter den Kulissen. Die Ouvertüre und der erste Akt verliefen glatt. Im selben Augenblick jedoch, als der Vorhang zusammenschlug und der Applaus einsetzte, ertönte ein im ganzen Theater hörbares Zischen. Verwundert drehte sich Franzi nach dem Parkett um, und die Sänger, die vor den Vorhang getreten waren, vergaßen sich zu verbeugen. Der Großherzog neigte sich aus seiner Loge und begann auffallend zu applaudieren, das Zischen wurde daraufhin noch stärker, und schon wurde auch gepfiffen. Die Applaudierenden wollten sich nicht zufrieden geben. Der Komponist stand verwundert und erstarrt vor dem Vorhang. Jetzt fing Franzi erst recht an, Beifall zu klatschen, und sämtliche Musiker mit ihm. Zischen und Pfeifen wurden darauf noch stärker. Hier war kein Zweifel, diese Demonstration war von langer Hand vorbereitet. Und nicht einmal gegen Cornelius, sondern gegen den Geist, den Franzi in seinem Opernspielplan vertrat. Er stand am Dirigentenpult, das er noch nicht verlassen hatte. Er wandte sich zu den Zuschauern um und blickte unbeweglich in den Sturm der Demonstration. Der Skandal war von seinen Urhebern gut organisiert: die Zischer waren der Zahl nach wenig, aber geschickt über den ganzen Zuschauerraum verteilt. Franzis Auge suchte Dingelstedt. Der war nirgends. Er war nicht einmal ins Theater gekommen, um ein Alibi zu haben.

Denn daß er diese Sache veranstaltet hatte, wurde bald offenbar. Der Theaterklatsch wußte es bereits am anderen Tage, daß bezahlte Individuen das Zischen besorgt hatten. Die ganze Angelegenheit war so peinlich und widerlich, daß sogar die Presse, die doch gewiß nicht auf der Seite Franzis stand, diese Art Kulissenintrigen ablehnte; mehrere Zeitungen bezichtigten Dingelstedt als Urheber dieses Skandals. Der aber, als er dann Franzi auf der Straße begegnete, redete ihn an:

»Bitte, Franzi, einzelne Zeitungen schreiben, daß zwischen uns Differenzen bestehen. Ich will dich offen fragen, sind dir solche bekannt?«

Franzi blickte diesem Menschen ins Gesicht, den er hierher gebracht und dem er Wirkungskreis und Brot verschafft hatte. Er war über eine so maßlose Unverfrorenheit gar nicht mehr empört. Sein Auge hing an dem vertrauenerweckenden, scheinheiligen Gesicht, und er lächelte bitter. Er gab ihm keine Antwort und setzte seinen Weg fort. Dingelstedt blieb mit der verklungenen Frage zurück, wie einst Mendelssohn auf der Straße Berlins. Franzi aber ging ins großherzogliche Schloß. Dort übergab er dem wachhabenden Offizier persönlich einen Brief, in dem er mitteilte, daß er sich mit der musikalischen Leitung des Theaters nicht mehr zu befassen wünsche. Der Großherzog antwortete ihm noch am selben Tage und bat ihn, keine Umstände zu machen, fragte sogar nach den Bedingungen für ein Weiterverbleiben. Franzi setzte sich hin und schrieb einen langen Brief. Er rechnete mit der ganzen Weimarer Situation ab und schüttete sein ganzes Herz offen aus. Der Form halber nannte er zwar einzelne künstlerische Bedingungen, fügte aber sofort hinzu, daß er seine künftige Arbeit auch dann für hoffnungslos erachte, wenn sie erfüllt würden.

»Die feindlichen Elemente«, beendete er seinen langen Brief, »können mich grausam verwunden, nicht aber erniedrigen. Und je mehr sie mich bedrohen, um so mehr schulde ich es mir und einer anderen, die mir teurer ist als das Leben und jede Genugtuung dieser Welt, daß man einst, wenn ich nicht mehr bin, sagen könne, ich hätte ein besseres Los verdient. Ich liebe die Einsamkeit, aber eine vollkommene, und Eure königliche Hoheit wollen in jeder Beziehung geneigtest darüber entscheiden, indem Sie mich meines Dienstes entheben. Ich bitte nur, überzeugt zu sein, daß ich die Dankbarkeit unveränderlich bewahre, aus der ich mir stets eine Ehre machen werde, um der Freundschaft willen, die Sie, gnädigster Herr, während langer Jahre mir zu bezeugen geruhten.«

Der Brief ging ab. Der Großherzog ersah daraus, daß man hier nichts wieder gutmachen konnte. Der Adjutant berichtete Franzi noch am selben Tage, daß der Großherzog, nachdem er den Brief gelesen, gesagt hätte:

»Einen schönen Dienst hat mir dieser Dingelstedt hier erwiesen. Das kann man wohl sagen!«

Franzi entgegnete bitter:

»Dingelstedt benimmt sich genau so, wie man erwartet, daß er sich benehmen soll.«

Das Ganze ging ihm sehr nahe. Den Großherzog hatte er noch als Erbprinzen kennengelernt. Er sah ihn für die Regierung heranreifen, heiraten, arbeiten, sich begeistern, er war ein häufiger Gast des hohen Hauses, unzählige Erinnerungen an vertraute Stunden dieser zehn Jahre lebten unvergeßlich in ihm. Daß Dingelstedt ihn auf eine so niederträchtige Art und Weise verriet und hinausdrängelte, das schmerzte ihn viel weniger, als daß er erleben mußte, wie ihm das einst so unerschütterliche Zutrauen des Großherzogs langsam entglitt. Als ob ein fürchterlicher Dämon der Unterwelt die letzten Jahre seines Lebens begleitete … Der Dämon lauerte hinter seinem Rücken und raubte ihm einzeln alles, was ihm das Liebste und Teuerste war: seinen Glauben an die alten Freunde, seine Zuversicht in die Güte und Anständigkeit der Menschen. Aber Wagner war noch als Trost da, der arme, aufgewühlte, leidende Wagner, der sich aus seiner zerfallenen Ehe verzweifelt nach Venedig geflüchtet hatte und dort das Meisterwerk seiner glühenden Liebe zu Mathilde Wesendonck, den »Tristan«, schrieb. Den ersten Akt hatte er dem Freunde auch schon zukommen lassen. Franzi versenkte sich aufgeregt in die Schönheiten dieses von lodernder Leidenschaft erfüllten Werkes und war tief erschüttert. In seinem eigenen leidvollen Seelenzustand schrieb er dem umherirrenden Gehetzten einen außerordentlich warmen Brief. Er teilte ihm mit, daß er mit dem Theater in Weimar gebrochen, daß er auch den »Rienzi« zurückgezogen habe, den er jetzt hatte aufführen wollen, und deshalb auch kein Geld schicken könne. Er wäre aber über die Schönheiten des Tristan ganz entzückt gewesen und schätze sich glücklich, daß er dieses Werk habe kennenlernen dürfen. Dann berichtete er ausgiebig über die Dante-Symphonie mit dem Zutrauen und der Liebe eines sich nach dem Freunde sehnenden Herzens.

Er bekam eine sehr unerfreuliche Antwort von Wagner:

»Du antwortest mir viel zu pathetisch! Laß mich Dir meinen letzten Brief ganz humoristisch, realistisch kommentieren. – Was Dingelstedt! Was Großherzog! Was Rienzi! – Alles dummes Zeug. – Ich brauch' Geld …«

Franzi stierte erschrocken auf die Zeilen dieses Briefes.

»Es ist um verrückt zu werden! – Ich sehe, Du kennst die Not gar nicht – Glücklicher!«

Und den ganzen Brief lang dieser Ton.

 

»Mein Franz, wenn Du den zweiten Akt von Tristan sehen wirst, so wirst Du zugeben, daß ich viel Geld brauche. Wenn Du den zweiten kennen wirst, so wirst Du mir auch verzeihen, wenn ich heute nichts anderes schreie als – Geld! Geld! – Gleichviel wie und woher. Der Tristan zahlt alles wieder! – Wenn ich ganz verrückt werde, telegraphiere ich Dir noch mit meinem letzten Napoleon! – Schick' Dante und Messe! Aber zunächst – Geld! Honorar – für Gott weiß was! Sag' Dingelstedt, er wär' ein Esel, so lang er wäre. Und dem Großherzog, seine Dose sei versetzt – wahr! Er soll sie mir einlösen. – Aber nur sonst mir nie ernsthaft und pathetisch schreiben! Gott! Ich hab' doch schon letzthin gesagt, daß Ihr langweilig seid. Hat denn das gar nicht gefruchtet?«

 

Franzis Augen wurden über diesem Brief feucht. Das Schicksal will also auch diese Freundschaft vergiften? Er schritt lange auf und ab, dann saß er lange am Tisch in sich versunken. Dann schrieb er den schweren Brief wie einer, dem die Überschwemmung alles geraubt hat und der nun seinen letzten Schatz freiwillig in die schmutzigen Fluten wirft.

 

»Um nicht mehr der Gefahr ausgesetzt zu sein, Dir durch ›pathetisch ernste‹ Redensarten lästig zu fallen, schicke ich den ersten Akt des Tristan an Härtel zurück und werde mir ausbitten, die übrigen erst nach ihrem Verlagserscheinen kennenzulernen. –

Da die Dante-Symphonie und Messe nicht als Bankaktien gelten können, wird es überflüssig, sie nach Venedig zu senden. Als nicht weniger überflüssig erachte ich auch, fernerhin telegraphische Notdepeschen und verletzende Briefe von dort zu erhalten.

In ernster getreuester Ergebenheit verbleibt Dir

F. Liszt.«

 

Auf diesen Brief kam ein langer und ausführlicher Entschuldigungsbrief aus Venedig.

»Ich bin sicher«, schrieb Wagner, »Dich nicht verloren zu haben!«

Er antwortete herzlich und sah zugleich auch ein, daß er in seinem aufgebrachten Nervenzustand diesen sonderbaren Menschen vielleicht etwas zu streng beurteilt hatte, den man nur mit seinem eigenen Maß messen durfte. Sie söhnten sich auch aus. Der Vorfall hinterließ aber trotzdem einen Schatten in seiner Seele. In Wahrheit hatte er in Weimar niemand anders mehr als Carolyne, seine Gedanken an seine in drei verschiedene Richtungen verstreuten Kinder und die Arbeit.

Da er nicht einmal in die Nähe des Theaters kam, beschloß er, in seiner reichlichen Freizeit nunmehr sein Buch über die Zigeuner zu schreiben. Nicht nur, weil er selbst schon seit langem große Lust dazu hatte, sondern vor allem auch, um Carolyne zu beschäftigen. Die mit ihren Nerven vollständig heruntergekommene Frau mußte unter allen Umständen etwas zu tun haben. Denn, ihren Selbstqualen überlassen, peitschte sie sich derart in hysterische Erregung, daß man schon fast eine Geistesverwirrung befürchten mußte. Der Fürst von Hohenlohe hatte sich inzwischen endlich geäußert und offiziell um die Hand Manjas angehalten. Man hätte meinen können, daß diese Freude der leidenden Frau einen neuen Aufschwung geben würde. Aber das Gegenteil war der Fall: Carolyne verfiel in Verzweiflung darüber, daß sie ihre Tochter jetzt verlieren sollte, und schluchzte untröstlich. Sie hatte wieder schlimme Visionen, und der kleine Tausig, den sie nicht sehen konnte, mußte ihretwegen das Haus verlassen.

Franzi setzte sich also an den Schreibtisch und ließ sie an der Arbeit teilnehmen. Schon nach den ersten Tagen stellte sich heraus, daß er sehr weise und sehr fürsorglich gehandelt hatte. Die Fürstin, die bis dahin nicht wußte, wohin sie gehörte, gab sich mit leidenschaftlichem Eifer der Diskussion über das werdende Buch hin, sobald sie das Gefühl hatte, daß auch ihr Leben einen Zweck bekam. Franzi plante, das ganze Werk in zwanzig bis zweiundzwanzig Kapitel einzuteilen. Auf den Ergebnissen der völkerkundlichen Forschung fußend, wollte er darstellen, welche Bedeutung die alte naive Epik für die Kunst einer Rasse besitzt, und dann den unverkennbaren Einfluß der Mythologie der Zigeuner auf ihre Musik nachweisen. Er behauptete ferner, daß überall, wo auf dieser Welt Zigeuner spielen, sie ihre uralte Musik in die Musik der betreffenden Nation hineintragen, sei es durch die Tonfärbung, die Art des Vortrages oder sonst irgendwie. Nun setzte sich aber Carolyne mit großem Eifer dafür ein, daß, wenn das Buch sich schon mit einem in der Welt zerstreuten Volke beschäftigte, zur Abrundung des Bildes auch das zweite zerstreute Volk, die Juden, mit behandelt werden sollten. Franzi hatte dazu nicht viel Lust, ihm war es um die Zigeuner zu tun und nicht um die Juden. Als er aber sah, wie Carolynes Nerven sich von Tag zu Tag mehr beruhigten, war er so glücklich über die rettende Arbeitsfreudigkeit seiner Freundin, daß er ihr nicht widersprach. Stundenlang saßen sie täglich über Franzis Aufzeichnungen, bis in das Ganze langsam Ordnung kam. Schließlich legten sie die Überschriften der vierundzwanzig Kapitel fest, jedes Kapitel war in Unterkapitel gegliedert, deren das ganze Buch einhundertvierzig zählte. Die Bearbeitung einiger von diesen Unterkapiteln überließ Franzi der Freundin vollständig: so die Schilderung der Gewohnheiten und Bräuche der polnischen und russischen Zigeuner. Carolyne war mit einem Male wie ausgewechselt. Sie sah und hörte nichts, sie wollte sich nur noch mit dem Buche beschäftigen, ja sogar das Schlafen betrachtete sie als verlorene Zeit. Und, was seit langer, langer Zeit nicht mehr vorgekommen war: sie konnte jetzt auch hin und wieder einmal gutmütig lachen. Franzi war tief ergriffen über den Erfolg seines glücklichen Einfalls. Wie es eine entsetzliche Qual für sein Gewissen gewesen war, sehen zu müssen, wie diese Frau neben ihm zugrunde ging, so sah er jetzt mit gerührter Freude, daß sie sich zu beruhigen begann und zu neuem Leben zu erwachen schien.

Da traf die große Nachricht aus Petersburg ein: der Metropolit Hotoniewski war gestorben. Der hartnäckige und mächtige Gegner der kirchlichen Scheidung war nicht mehr. Zur selben Zeit verschied in aller Stille in Weimar auch Maria Pawlowna, die so lange Jahre hindurch die Feindseligkeit des Petersburger Kirchengewaltigen voller Güte auszugleichen bemüht gewesen war. Und weil aus der ganzen Welt sich nichts so schnell bewegt wie das Geld, – bevor sich Carolyne überhaupt entschlossen hatte, wie sie die neue Aufgabe in der veränderten Situation anfassen sollte, erschien in der Altenburg der gute Ratgeber höchstpersönlich. Eines Tages gab ein Mann namens Okraszewski seine Visitenkarte ab, ein alter Pächter von einem der Güter der Fürstin. Sie empfing ihn unverzüglich. Dieser Okraszewski war ein kleiner, schwarzhaariger Mann mit schlauem Gesicht, der so gut zu reden verstand, daß einem fast schwindelig wurde. Er berichtete genau über den Stand der kirchlichen Scheidung, er bezeugte eine auffallende Kenntnis der kleinsten Einzelheiten dieser Angelegenheit und machte der Fürstin den Vorschlag, die Erledigung dieser Sache ihm zu überlasten. Bis zum endgültigen Erfolg verlangte er nur die Ersetzung seiner wirklichen Spesen. Wenn aber die Scheidung ausgesprochen sei, bedingte er sich hunderttausend Rubel als Belohnung aus. Nach anderthalbstündigem Feilschen und Handeln einigten sie sich auf siebzigtausend Rubel unter der Bedingung, daß das Geld nur dann fällig würde, wenn die Ungültigkeit der Ehe tatsächlich ausgesprochen sei.

Okraszewski erhielt einen Vorschuß auf seine Spesen und fuhr ab. Die Fürstin verfiel aus ihrer früheren Tiefsinnigkeit ins Gegenteil. Mit einem Male konnte sie sich über die Heirat ihrer Tochter freuen. Der junge Hohenlohe, der in österreichische Dienste getreten war, wurde Adjutant bei Franz Josef und bekleidete bereits den Rang eins Majors, sein jüngerer Bruder spielte in der bayrischen Politik eine wichtige Rolle, und der dritte Hohenlohe, der Geistlicher geworden war, war bereits erster Geheimkämmerer des Papstes und Bischof von Odessa. Die drei Brüder besaßen zusammen ein großes Vermögen, und einen liebenswürdigeren und hübscheren Freier als den Fürsten Konstantin hätte man sich gar nicht erträumen können. Alles das erkannte plötzlich auch Carolyne, und jetzt stimmte sie die Trennung von ihrer Tochter nicht mehr traurig, denn sie sah ja nunmehr den Traum in Erfüllung gehen, um den sie schon seit zwölf Jahren litt: jetzt konnte man damit rechnen, daß sie innerhalb von wenigen Monaten Franzis Frau werden konnte.

Von jetzt an mußte Franzi die Arbeit an seinem Buche meist allein fortsetzen, die Fürstin bereitete die Aussteuer ihrer Tochter vor. Und es kam der Tag, da die Prinzessin Manja von der Altenburg Abschied nahm. Die Hochzeit wurde in München gefeiert. Franzi nahm an dieser Zeremonie nicht teil, sein Erscheinen bei dieser aristokratischen Hochzeit wäre unzweckmäßig gewesen, da sie ohnedies schon ihren Schönheitsfehler hatte, denn über das Privatleben der Mutter der Braut hatte man starke Nachsicht walten lassen müssen. Als die schöne Braut abreiste, küßte Franzi sie auf die Stirn und segnete sie. Er war dem Herrgott dankbar, daß diese Ehe zustande kam. Er hätte sich sonst anklagen müssen, diesem entzückenden zärtlichen Wesen das Leben zugrunde gerichtet zu haben. Er blieb allein in der Altenburg zurück. Sein Buch über die Zigeuner war längst beendet, er hatte es auch bereits seinem französischen Verleger geschickt und das umfangreiche Werk war sogar schon erschienen. Er hatte aber keine Freude daran. Wegen Daniel lasteten schwere Sorgen auf ihm. Von dem Jungen kamen keine guten Nachrichten. Jeder Brief Eduards berichtete nur darüber, daß Daniel wie ein junger Heiliger lebe. Trotzdem er schon achtzehn Jahr alt sei, meide er die Gesellschaft, lebe nur für seine Bücher, bete sehr viel und sei so rein wie ein auf die Erde herabgekommener Engel. Aber sein Gesundheitszustand verschlechtere sich immer mehr. Er hatte jetzt ständig Fieber, sein Appetit war schlecht, er nahm zusehends ab, und die Arzte konnten keinen ernstlichen Rat erteilen. Den sorgenden Vater beschäftigte jetzt nur das, nichts anderes. Die Kritik beurteilte sein Buch sehr ungünstig. Das erste eingehende Urteil stammte von seinem alten Pariser Freund Scudo und erschien in der » Revue des Deux Mondes«. Er riß das Buch mächtig herunter, nannte es einen fürchterlichen Wirrwarr, ein Sammelsurium nicht nachweisbarer unbestimmter Behauptungen. Franzi zuckte mit den Achseln, – dieses Buch war im Augenblick nicht seine Hauptsorge. Er zuckte erst dann zusammen, als er von Pest die Nachricht erhielt, daß die dortigen Zeitungen sich die französische Ausgabe des Buches verschafft hätten und mit der größten Empörung darüber berichteten. Eine Zeitung meinte, daß man nicht ernst nehmen könne, was diese gutmütige aber kindliche Schauspielerseele schriebe. Graf Stephan Fay, sein alter guter Bekannter, griff ihn offen an: er bezeichnete das Buch als verletzend und unbedacht. Ein Artikel der »Vasarnani Ujsag« wurde ihm in deutscher Übersetzung zugeschickt. Hier schrieb ein Kritiker, der Autor des Buches sei alles andere, nur kein Ungar.

»Wenn Vörösmarty ihn in seiner herrlichen Ode aufgefordert hat, ›er möge uns ein Lied singen‹, so hat er uns ein Lied gesungen, von dem die ungarischen Ohren nur so dröhnen. Und mit dem Ehrensäbel hat er die ungarische Ehre wahrhaft vor dem Ausland verteidigt: das hergelaufene Zigeunervolk hält er für begabter als die Ungarn …« Ein Komponist namens Simonffy stellte den größten Tageszeitungen der Welt eine Veröffentlichung zur Verfügung, in der er gegen die Behauptungen des Buches Einspruch erhob.

Jedem Schmerz gegenüber unempfindlich, nahm Franzi diese Angriffe mit Gleichmut zur Kenntnis. Daß das Buch nicht gut war, wußte er. Er hatte dem Dilettantismus der Fürstin viel zu viel nachgegeben, und über die Naivität einzelner Teile mußte man sich wirklich schämen. Aber gerade diese Teile hatten ja Carolyne wieder zum Leben erweckt. Er fand es also ganz in Ordnung, daß sein Buch nicht gefiel. Daß er aber durch die darin enthaltenen Behauptungen gegen das Ungartum gesündigt haben sollte, vermochte er nicht einzusehen. Daß es keine ungarische Musik gebe und daß das ungarische Volk seine Musik von einer fremden Rasse erhalten habe, hatte er ja gar nicht behauptet. Wenn er dieser Überzeugung gewesen wäre, so hätte er seine Rhapsodien nicht »Ungarische Rhapsodien«, sondern »Zigeuner-Rhapsodien« genannt. Aber sein Buch war nun einmal eindeutig abgelehnt, und er war viel zu müde, um seinen Standpunkt in allen Einzelheiten zu erläutern, er ließ es bei einigen Privatbriefen bewenden. Und er bemühte sich, die schlechten Kritiken vor Carolyne zu verheimlichen.

Noch ganz empört über die ungarischen Presseartikel erhielt er die Mitteilung, daß ihn Franz Josef in den Adelsstand erhoben habe. Das war ein prächtiges Diplom mit einem langen Text in altertümlicher Sprache, von Franz Josef eigenhändig unterzeichnet. Als er es in Händen hielt, sah er lange sinnend vor sich hin. Er erinnerte sich, wie während der Donau-Überschwemmung in Pest dieser Gedanke zum ersten Male aufgetaucht war. Wie aufgeregt war er doch damals in der Eitelkeit seiner zweiundzwanzig Jahre, in dem unerhörten Rausch seiner künstlerischen Erfolge! Mit welch glücklichem Hochmut schrieb er damals an Marie nach Venedig, sie möge irgendein schönes Wappen ausfindig machen. Jetzt war das schöne Wappen da: im rechten Ober- und linken Unterfeld prangte ein silbernes Einhorn. In der Mitte, auf rotem Feld zwischen drei silbernen waagerechten Streifen, glänzte ein goldener Stern. Zwei Ritterhelme krönten diese verschnörkelten Zeichnungen, über dem einen Visier erhob sich ein Einhorn, über dem anderen ein Adler.

»Franz von Liszt, Franz von Liszt«, murmelte er leise, fast unverständlich vor sich hin. Dann, ganz versunken: »Daniel von Liszt …«

Dabei fiel sein Blick auf einen Satz des Adelsbriefes: »und auf seine ehelichen Nachkommen.«

Er schloß den in einen prächtigen Umschlag gebundenen Adelsbrief und legte ihn beiseite. Was nützt das Ganze, wenn Daniel sich nicht darüber freuen kann? Und wie soll er selbst diese Würde tragen, wenn er sie seinem Sohn nicht weitergeben kann? Soll er seinen Sohn dadurch brandmarken, daß man sie auf zwei verschiedene Arten anredet: ihn selbst mit dem Adelsprädikat und seinen außerehelich geborenen Sohn mit einem ihm nicht zustehenden bürgerlichen Namen? Wie kann er den Adel annehmen, wenn der Kaiser gleichzeitig seinen Sohn dieser Auszeichnung für unwürdig erachtet? Wie er sich verhalten würde, das wußte er noch nicht. Darüber aber war er sich völlig im klaren, daß der Name seines Sohnes unter keinen Umständen entehrt werden dürfe.

Der Junge hielt sich jetzt in Berlin bei Cosima auf. »Daniel geht es nicht gut, Daniel hat ständig Fieber« lauteten die Nachrichten von dort. Eines Tages fuhr er zu ihm hin.

Gebrochen, um Jahre gealtert, kam er am Krankenbette an. Es war nachts um ein Viertel zwölf. Daniel lag hoch gebettet, auf seiner Decke viele Bücher und Noten. Neben dem Bett kniete mit verweinten Augen Cosima. Ein durchgeistigtes, verklärtes Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen, als sein Vater bei ihm eintrat. Franzi setzte sich auf den Bettrand und umarmte ihn zärtlich. Er erschrak über den abgezehrten Körper, den er in seinen Armen hielt. Mit bebender Stimme fragte er:

»Wie geht es dir, mein kleiner Alter?«

»Danke, Papa, ich habe sehr viel Blut verloren.«

»Womit beschäftigst du dich denn hier im Bett?«

»Ach, das wird Sie sehr interessieren. Wissen Sie, ich habe mich immer schon sehr viel mit Philosophie befaßt. Ich habe Philosophie von jeher lieber als Jura gehabt. Mit Onkel Eduard habe ich deshalb auch schon oft gestritten. Er konnte mich aber nicht überzeugen. Ein einziges philosophisches Buch enthält mehr, als die gesamte juristische Literatur. Insbesondere Pascal habe ich sehr liebgewonnen. Haben Sie die › Lettres Provengales‹ gelesen? Und die › Pensées‹«.

»Ich habe alle beide gelesen.«

»Wie schön sind sie doch, nicht wahr? Am besten gefällt mir der Abschnitt, wo er erklärt, wie erhaben die Demut und die Reinheit sind. Sehen Sie, den einen Band habe ich auch jetzt hier auf meiner Decke liegen. Aber sehen Sie auch, was gleich daneben liegt: Ihre Graner Messe. Denken Sie, ich habe entdeckt, daß Pascal und Ihre Messe ein und dasselbe sagen. Ich studiere abwechselnd die Musik und das Buch Pascals und entdecke immerfort die gemeinsamen Gedanken. Papa, dafür bin ich Ihnen unendlich dankbar! Erst jetzt begreife ich, was für ein wahrhaft großer Mensch Sie sind …«

Das Gesicht des Jungen, das schon hauchartig durchsichtig war, erglühte geheimnisvoll. Er sah seinen angebeteten Vater an, wie die Heiligen auf den alten Bildern gen Himmel blicken. Franzi empfand ein tiefes Glück und einen furchtbaren Schmerz zugleich. Es genügte, seinen Sohn nur anzusehen, um zu erkennen, daß er nicht mehr zu retten war. Schon dieses Gespräch ging über seine Kräfte, er schloß die Augen und schien ermattet einzuschlummern. Eine lange Weile sprach er nichts, dann öffnete er die Augen wieder.

»Ich werde Ihnen jetzt ein ungarisches Gedicht vortragen, Papa.«

Er murmelte irgend etwas, was weder sein Vater noch seine Schwester verstehen konnte, dann schwieg er von neuem. Man hätte glauben können, er schliefe. Aber er schlief nicht. Wiederum nach einer langen Zeit bewegte sich seine Hand auf der Decke, sie suchte die Hand des Vaters. Der Vater schob ihm seine Hand hin. Cosima weinte still. Wieder eine lange Pause. Dann öffnete Daniel die Augen, lächelte Vater und Schwester an und schloß sie abermals.

Im Zimmer herrschte tiefe Stille. Unentwegt liefen an Franzis Wangen die Tränen herab. Er raunte Cosima leise zu:

»Warum habt ihr mich nicht kommen lassen? Es geht ja zu Ende mit ihm.«

»Wir haben es nicht gewußt«, flüsterte Cosima mit vor Schluchzen zuckendem Munde, »heute nachmittag wurde ihm auf einmal schlecht. Noch gestern sagte der Arzt, daß keine unmittelbare Gefahr bestehe. Sie haben es aber anscheinend gefühlt, da Sie heute kommen, Papa.«

Sie schwiegen. Eintönige Unendlichkeit lag über ihnen. Und nach einer abermals langen Pause sagte Daniel:

»Ich werde sterben.«

Er sagte das ganz sanft, leise und mit einer unheimlichen Ruhe. Franzis freie Hand ballte sich vor Schmerz krampfhaft zusammen. Nach einer kleinen Weile flüsterte der Junge kaum hörbar:

»Ich gehe voran, ich bereite Ihren Platz vor …« Dann bewegten sich seine Lippen tonlos, offenbar betete er für sich. Dann hörten auch die Lippen auf, sich zu bewegen. Sie blieben fest geschlossen aufeinanderliegen. In dieser Stille hatte die ewige Vergänglichkeit der Zeit keine Gestalt mehr: es konnten fünf Minuten sein, es konnte aber auch eine halbe Stunde sein, als Franzi still und heiser sagte:

»Sein Atem ist nicht mehr zu hören.«

Cosima fuhr vorsichtig unter das Hemd ihres Bruders und legte ihre Hand auf sein Herz. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Es schlägt nicht mehr.«

Und dann zog sie vorsichtig ihre Hand zurück, als ob sie befürchte, den Toten zu erwecken. Sie schrien nicht auf vor Schmerz, sie schluchzten auch nicht laut. Sie sahen nur unbeweglich den für ewig entschlafenen Jungen an, der ihnen beiden so ähnlich war. Und sie blieben noch lange neben ihm, als ob sie noch immer seinen Schlaf hüten müßten.

Franzi wartete das Begräbnis ab, an dem auch die Fürstin teilnahm. Dann fuhren sie gemeinsam nach Hause, nach Weimar. Zwei Tage lang kam kein Wort über seine Lippen. Ab und zu setzte er sich ans Klavier und, als ob er sich in seiner Tatenlosigkeit auf okkulten Wegen befände, sprach er durch das Klavier zu seinem Sohn. Er weinte viel und betete oft. Nach zwei Tagen schrieb er ein Gesuch an Se. Majestät, den Kaiser. Sich für die höchste Gunst des Kaisers untertänigst bedankend, bat er ihn, den ihm verliehenen Adel auf seinen Onkel väterlicherseits, den Staatsanwalt Doktor Eduard Liszt und besten gesetzliche Erben zu übertragen. Carolyne blickte über seine Schulter in das Schriftstück und schrie auf:

»Was machen Sie, Franzi? Sie verzichten auf das, was Sie mit der Arbeit Ihres Lebens verdient haben?«

»Ja, meine Teure. Ich lege es auf Daniels Grab nieder.«


 << zurück weiter >>