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Zwölftes Kapitel

Das Weimarer Theater war unter der Leitung des neuen Intendanten derartig heruntergekommen, daß man wirklich verzweifeln konnte. Das Orchester war undiszipliniert, nicht vollzählig und minderwertig. Nicht ein einziger guter Geiger war darin zu finden. Joachim hatte erst kürzlich einen Ruf nach Hannover angenommen, weil er es hier nicht mehr aushielt. Genast, der Regisseur, legte sein Amt nieder, weil er sich mit Marr, dem dramaturgischen Leiter, nicht vertragen konnte. Die Dekorationen kamen immer mehr in Verfall und rissen sogar entzwei, aber man erneuerte sie nicht; zu jedem Stück, gleichviel welchen Stils, benutzte man dieselben Kostüme, von Erneuerung des Fundus konnte gar keine Rede sein.

Franzi wartete die Aufführung des »Fliegenden Holländers« ab, die ohne jede größere Wirkung verlief. Bisher hatte man dieses Werk nur in Berlin und Kassel gespielt, aber schon vor langer Zeit, vor nunmehr zehn Jahren. Es erinnerte sich niemand mehr daran. Hier war ein ähnliches Schicksal zu erwarten. Franzi setzte es jedoch durch, gleich nach der Uraufführung einen Wagner-Zyklus zu veranstalten und die drei Werke an drei aufeinanderfolgenden Abenden aufführen zu lassen. Er wollte dadurch der Tetralogie den Weg bereiten. Der Wagner-Zyklus wurde zwar gegeben, die Aufführungen waren aber kläglich. Nunmehr verlor auch er die Geduld. Er beschloß, ein Machtwort zu sprechen und diese musikalischen Aufführungen, die unter aller Würde waren, mit seinem Namen nicht mehr zu decken. Er schrieb dem Erbprinzen einen Brief und führte eine so deutliche Sprache, als es der höfische Ton nur gestattete.

»Mögen Eure Königliche Hoheit geruhen, es natürlich zu finden, daß ich fortan absehe von der dauernden Teilnahme an einem Zustand, der zu tief unter den Erwartungen zurückgeblieben ist, die in die geleistete Mühe gesetzt wurden, das Weimarer Theater wieder zu heben, und daß ich es freiwillig vorziehe, zur Disposition gestellt zu werden … Ich glaube der Güte, mit der Ihre Kaiserliche und Königliche Hoheiten mich beehren, besser zu entsprechen, wenn ich meine Zeit und meine, wie immer gearteten Fähigkeiten nützlicher anwende, als mich während der Jahre meiner Reife mit Schwierigkeiten herumzuschlagen, die ihrer Natur wie ihrer Zahl nach unüberwindlich sind … Wenn das Theater Ihr Wohlwollen auch ferner für sich in Anspruch nehmen darf, so möchte ich mir gestatten, zu bemerken, daß ich zu der Untätigkeit, die ich mir auferlegen muß, gezwungen bin, weil es durchaus versäumt worden ist, meinen Vorschlägen Folge zu leisten … Ich habe nur das unbedingt Notwendige gefordert, das man also nicht entbehren kann. Die gründliche Auffrischung der Chöre und die Verstärkung des Orchesters in dem bescheidenen Maße, wie ich sie seit mehreren Jahren angegeben habe, ist unerläßlich …«

Der Erbprinz antwortete noch am gleichen Tage. Er lobte die unbedingte Aufrichtigkeit Franzis und versprach, den Dingen auf den Grund zu gehen. Franzi ging nicht mehr ins Theater. Jetzt hatte er beinahe schon Augst davor, daß man seine Bedingungen erfüllen könnte und er wieder die in ein Witzblatt gehörenden Zänkereien dieses Kleinstadt-Theaters über sich ergehen lassen müßte. Daß es ihm vergönnt sein würde, den Nibelungenring Wagners von hier aus in die Welt gehen zu lassen, darauf hatte er im stillen schon verzichtet. Die Bühnenbilder dieser vier Opern müßten ganz prächtig sein, den gesanglichen Aufgaben der Musik Wagners waren immer nur ganz hervorragende Künstler gewachsen, und die Musik des »Ringes« versprach noch schwerer zu werden als alles frühere. Mochte die Zukunft auch noch andere Aufführungsmöglichkeiten bieten, es sprach doch gegen die Sache der neuen Musik, den »Ring« mit einem so minderwertigen Ensemble aufzuführen. Er sah ein, daß es zweckmäßiger war, den Ruhm der Uraufführung anderen Städten zu überlassen, die dann die Früchte seiner unmenschlich schweren Weimarer Arbeit ernten würden. Zu alledem kam noch, daß dem Hof nicht einmal besonders daran gelegen war, ihn für die Arbeit am Theater zurückzugewinnen. Den endgültigen Entschluß hielt der Großherzog in der Hand, und als er sah, daß nach Ablauf mehrerer Wochen Opernaufführungen im Theater auch ohne Liszt stattfinden konnten, ließ er den Dingen freien Lauf, weil er durch die Umstände selbst schon ein müder, unentschlossener Mensch geworden war.

Franzi ging an die Faust-Symphonie heran. Wie er es bei jeder Arbeit gewohnt war, so hatte er auch hier schon seit Jahren aufgezeichnet, was ihm dazu eingefallen war. In dem Bündel, das die Aufschrift »Faust« trug, gab es Zettel, die schon achtzehn Jahre alt waren. Diese Niederschriften sah er nun durch. Er war sich von Anfang an darüber im klaren, daß er als Tondichter Goethe nicht allenthalben werde folgen können. Goethe hatte ihn nicht so sehr in seinen Bann gerissen, wie andere. Am Horizont des menschlichen Geistes sah er ihn nicht als Sonne, sondern als Mond, in dessen herrlichem Glanz man auch frieren konnte. In dem Alter, als sein Geist noch am aufnahmefähigsten war, wirkten die Himmel und Erde erschütternde unbändige Kraft Dantes und der um Hilfe schreiende, flammende Weltschmerz Byrons stärker auf ihn. Die unerschütterliche Weisheit, die sichere Überlegenheit des alles überragenden, über allem stehenden Genies, mit der Goethe die Welt betrachtete, erfüllte ihn mit großer Achtung, fand aber den Weg zu seinem Herzen nicht. Und wenn er den Faust-Gedanken, die ewige Sehnsucht des die Geheimnisse der Gottheit und der Liebe erforschenwollenden Mannes darzustellen beabsichtigte, dann sollte das nicht Goethes Faust, sondern sein eigener werden. Die für Goethe schwärmende Carolyne war ganz verblüfft, als ihr Franzi bei Beginn seiner Arbeit davon unverhohlen Mitteilung machte.

»Das haben Sie mir aber in Woronice gar nicht gesagt. Dort haben wir uns immer von Goethes Faust unterhalten. Und jetzt ist auf einmal Goethe nirgends mehr? Warum nennen Sie diese Symphonie dann überhaupt ›Faust‹?«

»Weil das ein Begriff ist. Dieser Name bedeutet etwas Allumfassendes, er ist nicht nur Goethe eigen, sondern gehört der Menschheit. Ich drücke mich vielleicht am verständlichsten aus, wenn ich sage, daß der Name Faust überhaupt eine Weltanschauung bedeutet. Ich werde der Menschheit nunmehr meine Weltanschauung darlegen, die von Goethes Anschauung ziemlich abweicht. Er war eine geschlossene Seele, das größte Ich, das die anderen Teile der Welt mit seinem über den Jahrhunderten stehenden Geist von sich ausschloß. Ich dagegen bin eine offene Seele, ich bin der Schlußchor der neunten Symphonie, wenn man so sagen will. Wissen Sie, wie mich Wagner nennt? ›Der Mensch ohne Geheimnis‹.«

Der Mensch ohne Geheimnis ging also an die Tondichtung heran. Drei Motive, die er der Musik zugrunde legen wollte, schwebten ihm vor: der grübelnde, mit sich ringende, strebende, sich nach der Unendlichkeit sehnende Mensch, das Urschlechte, die selbstsüchtige Sinnlichkeit, der Eigennutz, das Düstere, die Verlogenheit, das Materialistische, und die bezaubernde Verherrlichung der Liebe, die Verklärung in der Hingabe, – mit einem Worte: Faust, Mephisto und Gretchen. Jede größere Arbeit legte er jetzt zur Seite, nur kleinere Kompositionen behielt er auf seinem Schreibtisch, um sich nach seiner Gewohnheit durch leichtere Arbeiten bei der Anstrengung einer größeren Arbeit zwischendurch zu erfrischen. Und bei dieser Arbeit empfand er zum ersten Male den Mangel, daß Carolyne kein gelehrter Musiker war. Was er jetzt komponierte, war von der Natur der durch die literarische Sprache begrifflich zu bestimmenden Symphonien so weit entfernt, jeder seiner Gedanken war so ausschließlich musikalisch, daß er nach Beendigung seines Tagespensums selbst nicht hätte in Worte kleiden können, was er an diesem Tage geschaffen hatte. Nur am Klavier vermochte er etwas von seiner Arbeit zu zeigen, und die täglich vorgespielten Teile gefielen der Fürstin nicht immer. In seiner größten Erregung hätte er am liebsten gleich verraten, daß er mit seinem kühn angewendeten übermäßigen Dreiklang, mit seiner Oktaven-Verdoppelung, etwas gefunden hatte, was bis jetzt noch niemandem eingefallen war. Als er in einem der die Gefühlswelt Fausts darstellenden fünf Motive diesen Dreiklang ertönen ließ, packte ihn seine eigene kühne und herrliche Erfindung so heftig, daß er von seiner Arbeit emporschnellte und in dem engen Zimmer des »Erbprinzen« auf und ab rannte. Sein Gesicht leuchtete und zuckte, immer wieder lachte er auf vor Freude über seinen Einfall. Vergeblich versuchte er aber am Abend, der, die er liebte, zu erklären, was ihn in solche Begeisterung versetzte. Carolyne hörte liebenswürdig und aufmerksam das sonderbare Motiv an, sie lobte es beglückt, konnte aber natürlich nicht ahnen, daß das, was sie anhörte, ein außerordentlicher Schritt in der Musikgeschichte war. Und Franzi fühlte jetzt zum ersten Male, daß die Welt seiner Seele ein Gebiet hatte, dessen Schwelle Carolyne nie überschreiten könnte. Bis jetzt hatte er noch nie daran gedacht, daß die Fürstin Carolyne seine künstlerische Sehnsucht, die aus der Paarung seiner Wünsche mit der Gestaltungskraft entstandenen Schöpfungen, sein ureigenes künstlerisches Ich, nicht verstehen könnte. Die geistvolle und sehr musikalische Frau hatte ihm bislang als Lebensgefährtin vollauf genügt. Jetzt aber, als er mit dem mächtigsten Atemzug seines bisherigen Lebens sein größtes Werk schuf, ließ ihm seine Sehnsucht das Unmögliche begehren: daß Carolyne als Zuhörerin auf derselben Höhe stehen sollte, wie er selbst als Musiker. Für ihre Liebe war der Augenblick gekommen, wo ihm bewußt wurde, daß die Frau nicht mehr neben ihm stand, wo er das Gefühl hatte, er wäre ganz allein … Sein ritterliches Gerechtigkeitsgefühl wies ihn sofort zurecht, er ließ es vor sich selbst nicht zu, der Fürstin gegenüber anmaßend und ungerecht zu sein. Daß er aber bei der schönsten und größten Arbeit seines Lebens allein war, dieses Gefühl konnte er in sich doch nicht unterdrücken.

Eines Tages brachte man ihm eine Visitenkarte: Agnes Denis-Street, née de Klindworth. Er wußte sofort, wer das war. Sein jugendlicher Schüler, Karl Klindworth, hatte ihm schon erzählt, daß ein anderes Mitglied der Familie Klindworth, die junge Agnes, die, mit ihren beiden kleinen Kindern auf sich selbst angewiesen, einen Beruf zu ergreifen gezwungen war, gleichfalls nach Weimar kommen würde, um ihre Ausbildung im Klavierspiel zu vollenden, um dann als Liszt-Schülerin durch Stundengeben bequem leben zu können. Franzi wußte auch bereits Bescheid über die Familie. Der alte Klindworth hatte einst als Diplomat in Metternichs Diensten gestanden, nach Metternichs Sturz hatte aber auch er seine Stellung verloren. Er versuchte alles mögliche, sogar die Leitung eines Theaters … Endlich ließ er sich in Brüssel nieder und übernahm geheimnisvolle diplomatische Aufträge, mit anderen Worten: er betrieb Spionage für das französische Außenministerium. Diese Tätigkeit sicherte ihm jedoch auch nur ein sehr kärgliches Einkommen, und seine Tochter, die sich unglücklich verheiratet hatte, konnte auf eine väterliche Unterstützung nicht rechnen.

Franzi riß sich aus seiner vertieften Arbeit und eilte in die Halle des »Erbprinzen«. Dort erwartete ihn eine auffallend elegante, schon auf den ersten Blick Pariser Einfluß verratende junge Dame, neben ihr zwei Knaben, die aussahen, als ob sie aus einer vornehmen englischen Zeitschrift herausgeschnitten wären. Franzi empfing sie, wie gewohnt, sehr zuvorkommend, und mit jener herablassenden Höflichkeit, mit der er jede Dame zu begrüßen pflegte.

»Ich weiß schon alles, Madame. Ich glaube sogar, daß ich im Hause Metternichs auch Ihrem Herrn Vater begegnet bin, ich erinnere mich noch seines Namens. Sie möchten also von mir unterrichtet werden?«

»Wenn es möglich wäre, ja. Ich befürchte aber, daß meine Mittel …«

»Meine liebe gnädige Frau, verletzen Sie mich nicht gleich am Anfang unserer Freundschaft. Ich bin kein Klavierlehrer. Wie stellen Sie sich das vor, daß Sie meinen Unterricht mit Geld bezahlen? Das hätten Sie schon von Karl erfahren können. Warum hat er Sie übrigens nicht hierher begleitet? Ach ja, richtig – er liegt ja zu Bette. Kurz und gut: ich werde mich freuen, Ihnen bei Ihren Klavierstudien mit praktischem Rat zu dienen. Vor allem muß ich hören, wie Sie Klavier spielen. Geht es bereits heute abend? Gut! Dann habe ich also die Ehre, Sie im Namen der Fürstin Sayn-Wittgenstein zum Abendessen in die Altenburg einzuladen, auch sie wird sich der lieben Bekanntschaft sehr freuen. Wir essen um sieben Uhr. Haben Sie jemanden an Hand, dem Sie Ihre beiden kleinen Söhne anvertrauen können? Ja? Also dann um sieben Uhr.«

Die Dame verabschiedete sich und die beiden Knaben reichten dem sonderbaren langhaarigen Onkel artig die Hand, der, die Treppe emporschreitend, um sich wieder an seine Arbeit zu begeben, das feine und interessante Gesicht der jungen Frau sich nochmals vor Augen rief. Verborgene Trauer, lebhafte Intelligenz und eine weltstädtische Gepflegtheit standen in diesem Gesicht geschrieben. Eine seltene Erscheinung in Weimar. Sie weckte plötzlich Erinnerungen an Paris in ihm, an die Oper, die Soirées, die vornehmen Familien … Jetzt hatte er aber keine Zeit zu phantasieren. Tausendmal mehr als alles andere auf der Welt beschäftigte ihn jetzt das zwischen die Melodie und die erste Violine geschobene Fagottsolo, in dem er die qualvolle Seligkeit der Sehnsucht auf das Notenpapier gebannt hatte.

Am Abend erschien Frau Denis-Street pünktlich in der Altenburg. Sie hatte ein Abendkleid angelegt, das, ohne prunkvoll zu sein, durch den weich fließenden Stoff sehr vornehm wirkte. Der Fürstin gelang es nie, sich so zu kleiden. Entweder vernachlässigte sie sich, oder sie trug so bunte Sachen, daß sich das Auge nur schwer daran gewöhnen konnte. Der Blick Franzis verglich die beiden Frauen und sandte einen liebevollen treuen Blick zu der nicht eleganten Carolyne. Sie konnte sich anziehen, wie sie wollte; diese schlanke zarte Figur, die sich in ihren eigenartigen Kleidern verbarg, war für ihn die verkörperte Liebe selbst. Und er schenkte ihr einen warmen Blick, eigens für die Güte und Zärtlichkeit, mit der sie die vor einer schweren Laufbahn stehende Frau aufnahm.

Bei Tisch kam das Gespräch bald auf die Diplomatie, und die Verliebten sahen sich oft bedeutungsvoll an: die junge Frau legte bewunderungswürdige Kenntnisse an den Tag, jeder Diplomat Europas war ihr bekannt, und trotz ihrer auffallenden Bescheidenheit berichtete sie fesselnd und spannend über einzelne Ereignisse aus der außenpolitischen Welt, in der sie ihre ganze Jugend verbracht hatte. Als ob sie auch jetzt an einer prunkvollen diplomatischen Soirée teilnehme, handhabte sie das Besteck, – ihre Unterhaltung verriet die glatte Sicherheit der hoffähigen Dame. Sie sprach zu Manja wie zu einer Erwachsenen und behandelte die Miß außerordentlich zuvorkommend. Nach dem Abendessen setzte sie sich ans Klavier. Sie schien zuerst etwas befangen. Sie spielte aber eine Beethoven-Sonate sehr geläufig und war zweifellos berechtigt, dem jetzt von ihr erwählten Beruf nachzugehen. Franzi lobte sie, hieß sie dann noch ein paar andere Stücke spielen, machte sie sogleich auf einige besonders wichtige Einzelheiten aufmerksam, besprach mit ihr die Stunden, in der sie mit den anderen Jüngern zu ihm in die Altenburg kommen sollte, – und damit war die Laufbahn der jungen Dame entschieden. Während Franzi vom Wesen des Anschlags sprach, setzte er sich selbst ans Klavier.

»Würden Sie nicht vorspielen«, bat Carolyne, die sich eine Zigarre angesteckt hatte, »woran Sie heute gearbeitet haben?«

Sie erläuterte dem Gast kurz, daß der Meister an einer Faust-Symphonie arbeite. Dann begann Franzi zu spielen. So wie er es gewöhnt war, lässig, mit der im Mund hängenden Zigarre, die er ab und zu zwischen zwei Finger nahm und so weiter spielte, jeden Klavierverständigen mit dieser Zauberkunst verwirrend. Die junge Frau achtete aber plötzlich nicht mehr auf das unerhörte Können der meisterhaften Finger.

»Entschuldigung«, unterbrach sie sichtlich überrascht, »darf ich diesen Satz noch einmal hören?«

Franzi sah sie an, und wiederholte den Satz.

»Sonderbar«, flüsterte Agnes Klindworth, »das ist etwas ganz Neues. Das ist so erregend, daß ich gar nicht weiß, wohin damit. Die Dissonanz sagte mir alles. Als ob man mir von einem Menschen erzählte, der etwas Tragisches in sich birgt …«

»Fühlen Sie das heraus?« fragte Franzi in glücklicher Überraschung. »Mit dieser Dissonanz wollte ich gerade das zum Ausdruck bringen. Ich bemerke aber erst jetzt, daß es mir auch wirklich gelungen ist. Ich hätte es jedoch bisher noch nicht in Worte fassen können. Ist es wirklich so neu?«

»So neu, daß ich darüber erst noch nachdenken muß, um ganz sicher zu werden. Im ersten Augenblick wirkt es erschreckend. Fünf solche Akkorde hintereinander, das hat bis heute noch keiner niederzuschreiben gewagt. Wenn ich überhaupt eine Bemerkung machen darf … ich bitte aber wirklich um Verzeihung wegen meiner Unbescheidenheit …«

»Aber, aber, aber! Es ist ja bewunderungswürdig, was für ein feines Gefühl Sie haben. Aber hören Sie mal weiter, was sagen Sie dazu

Er spielte in mächtigen und dröhnenden Baß-Passagen, immer wieder zerrissen abwärtsgehend, und rief damit eine atemraubende Spannung hervor, als ob jedesmal ein Blitzschlag den nahen Donner verkünden wollte.

»Posaune und Klarinette, nicht wahr?« fragte der Gast. »Ich höre ganz deutlich die Klangfarben.«

Beglückt überließ sich Franzi dem Spiel, das Gesicht dieser Frau unentwegt im Auge behaltend. Ab und zu riefen sie sich einzelne Fachausdrücke zu, durch die sie sich ganze erklärende Sätze ersparten, wie wenn sie sich einer Geheimsprache bedienten. Carolyne stand schweigend da, auf das Klavier gestützt. Franzi spielte ausschließlich für den Gast, in dem er mit einem Male die vollkommene Zuhörerschaft gefunden hatte. Erst nach geraumer Zeit fiel ihm Carolyne ein. Schnell sandte er auch ihr einen vertrauten Blick zu mit einer fragenden Kopfbewegung.

»Sehr schön!« lobte die Fürstin sofort gedankenlos, man fühlte über deutlich, daß sie von dem geheimen Zwiegespräch der beiden nichts begriff.

Das Klavierspiel wurde dann unterbrochen, Franzi hatte das bisher von ihm Geschaffene zur Genüge erläutert. Nun kamen auch die beiden Frauen ins Gespräch, ab und zu nahmen auch die kleine Prinzessin und die Erzieherin an der Unterhaltung teil, er aber sah schweigend diese plötzlich aufgetauchte Frau an, die ihm so plötzlich wie eine alte vertraute Bekannte erschienen war. Beim Abschied umarmte die Fürstin den Gast und küßte ihn.

»Ich bin Ihnen sehr zugetan, meine Liebe«, sagte sie plötzlich in ihrer stürmischen Art, »weil Sie die Arbeit Liszts so gut verstehen.«

Sie entfernten sich zu viert: Manja und die Miß begaben sich wie jeden Abend in die Bastille. Vom Tor der Bastille aus begleitete Franzi Agnes Klindworth noch zum »Russischen Hof«. Sie sprachen von Musik, das heißt, Franzi redete, die Dame sagte mit artiger Bescheidenheit nur dann etwas, wenn sie eine Frage beantworten mußte. Sie war untadelig zurückhaltend und ehrerbietig. Als sie sich aber vor dem Eingang des Hotels getrennt hatten, und Franzi nochmals zurücksah, begegnete sein Blick einem ihm nachgesandten Blick.

Agnes Klindworth ließ sich in Weimar nieder. Sie mietete sich eine ständige Wohnung und war bald eine alltägliche Erscheinung in den Straßen der kleinen Stadt, wo sie ihre beiden Knaben spazieren führte. Die einheimischen Frauen musterten mißgünstig ihre Pariser Eleganz, niemand konnte aber etwas Nachteiliges über sie sagen, da sie ein sehr sittenstrenges Privatleben führte. Nachdem sie die Schüler Liszts kennengelernt hatte, war sie zu allen sehr liebenswürdig und höflich, ließ sich aber nie begleiten; in Gesellschaft war sie sehr schweigsam, auf ihrem feinen Gesicht war nicht die geringste Regung zu erkennen. Die Fürstin gewann sie sehr lieb und lud sie bei jeder Gelegenheit ein. Agnes kam pünktlich und entfernte sich früh. Zum Längerbleiben wagte man sie nicht aufzufordern, weil man ja von ihr wußte, daß sie schon in aller Frühe wieder aufstehen mußte, ihre beiden Söhne versorgte, mit schonungslosem Fleiß arbeitete und mindestens sechs Stunden am Tage übte.

Franzi war tief versunken in seine Faust-Arbeit, lebte nur für sie und von ihr, und sah die Außenwelt nur durch diese Arbeit. Seit Agnes neben ihm lebte, vertiefte er sich instinktiv noch mehr in sein Werk. Er fühlte, daß er gegen etwas ankämpfen mußte. Die junge Frau reizte ihn über Gebühr. Teils weil sie Carolyne glich, teils weil sie wiederum ganz anders war. Sie war ebenso gebildet, klug und geistig hochstehend wie die Fürstin, ihr Temperament aber war vollkommen anders geartet: neben der slawischen Mitteilsamkeit der Fürstin, neben ihrer zu unbeherrschten Gefühlsausbrüchen neigenden Natur hatten Agnes' ernste Verschlossenheit und ihre wehmütige Schweigsamkeit einen besonderen Reiz. Sobald Franzi sich über sein wachsendes Interesse klar geworden war, ging er mit sich zu Rate und nahm sich fest vor, dieses Gefühl zu erdrücken. Drei Nachmittage in der Woche verwandte er darauf, seine Schüler in der Altenburg zu empfangen, sie Klavier spielen zu lassen, sie zu lehren und zu unterweisen. Während dieser Nachmittage vermied er alle persönlichen Äußerungen, er konnte aber auch unausgesprochen betonen, daß er mit Leib und Seele zur Fürstin gehörte. Ab und zu sah er bei einer solchen Gelegenheit Agnes mit forschendem Blick an, ihr Gesicht blieb jedoch stets regungslos wie das einer Statue.

Die Faust-Arbeit ging schnell vorwärts, und so war er in der Komposition bald beim Gretchen-Satz angelangt. In der Musik dieser Partie sah Franzi wie in einem verzauberten Spiegel immer klarer die Umrisse eines Gesichts. Es war Agnes' Gesicht. Als er bei der Prüfung seiner schon seit langem gesammelten Notizen überlegte, mit welchen musikalischen Zügen er die lieblichste aller Frauengestalten ausstatten solle, wußte er schon, daß er einen Verrat begehen würde. Diese ideale, so ganz weibliche, blumenkelchzarte Gestalt, die er mit den unzähligen Farben seines Orchesters malen wollte, glich nicht Carolyne. Ihre innigen Liebesgeheimnisse vermochte er in diese Musik nicht hineinzutragen, der Roman ihrer Zusammengehörigkeit lag außerhalb dieses Themas. Er war bestrebt, in seiner grausam vollständigen Beichte, auf die sein Werk letzten Endes hinauslief, seiner Liebe wenigstens insoweit treu zu bleiben, daß er bei der musikalischen Formung der zurückhaltenden, unwiderstehlich liebreizenden, die Blicke schamhaft senkenden jungfräulichen Gestalt Gretchens an die kleine Prinzessin Manja dachte. Diesem jungen Mädchen war er aus ganzem Herzen zugetan. Er betrachtete sie fast als sein eigenes Kind, und über die Gefahr, sich etwa in dieses junge Mädchen zu verlieben, konnte er nur väterlich lächeln. An Manja dachte er also bei dem Liebreiz der As-dur-Partie, ihr bezauberndes Wesen ließ er in dem C-Grundton der Faust-Stücke auftauchen. Wie aber der Satz unter seiner Feder sich immer mehr formte und vervollkommnete, merkte er verstört, daß aus den Klangfarben des Orchesters trotz allem das Gesicht Agnes' hervorleuchtete. Als er das zum ersten Male entdeckte und ehrlich vor sich selbst zugeben mußte, daß ihn unbewußt schon seit Wochen nur die feine Gestalt dieser Frau beschäftigte, erfaßte ihn eine tiefe Trauer. Eine Trauer, ähnlich der, die er beim Tode lieber Bekannter verspürte.

Seine Liebe war zwar keineswegs gestorben, ohne Carolyne hätte er nicht leben können. Seine Hoffnung aber war gestorben, die Hoffnung, mit seiner ganzen Seele ewig nur dieser einen Liebe angehören zu können. Bisher war er davon überzeugt, daß er in seiner reifen Männlichkeit die Fähigkeit für eine vollkommene Liebe in sich gefunden habe; nur Carolyne war dazu erforderlich gewesen! Und wenn er sich früher als einen Nihilisten in der Liebe bezeichnet hatte, der trotz seiner Güte, Anständigkeit und Ritterlichkeit unfähig war, nur einer einzigen Frau zu gehören, so hatte er seit dem ersten Kuß Carolynes gefühlt, daß diese Frau seine Erlösung war. Nun war mit einem Male sein schöner Glaube zusammengebrochen. Er mußte erkennen, daß er niemals bis jetzt in seinem Leben jemanden vollkommen hatte lieben können und daß er auch niemals vollkommen lieben werde. Er war nicht von Carolyne ernüchtert, sondern von seiner eigenen Liebe. Und von da ab führte nur noch ein Schritt zu dem Entschluß, daß es nicht viel Zweck habe, mit bürgerlicher Moral sich selbst vor Abenteuern zu bewahren, die nach der üblichen männlichen Auffassung mit Liebe nichts zu tun haben, wenn ihm schon die wunderbare, das ganze Leben erfüllende, mit der Heiligkeit der Religion verwandte Fähigkeit der großen Liebe nicht eigen war.

Und wie ein mit klopfendem Herzen zögernder Gelegenheitsdieb in einem Warenhaus, streichelte er schon mit seinen Blicken die schlanke Gestalt Agnes' während der Unterrichtsnachmittage. Es war ihm schon eine Freude, ihre Hand in der seinen zu halten und nicht gleich wieder loszulassen. Er arbeitete an der Symphonie und wartete, was mit ihm geschehen würde. Wenn statt Agnes irgendeine gelangweilte Dame dagewesen wäre, die der Zauber eines berühmten Mannes zu allem fähig macht, – und in seinem Leben waren solche Frauen keine Seltenheit, – so wäre Franzi zu Fall gekommen, wie die koketten, vor der Versuchung nicht einmal flüchtenden Mädchen. Bei Agnes aber kam zu untadeligem Benehmen der guterzogenen Dame noch jene wachsame Vorsicht, die alleinstehenden Frauen durch ihre Lage geboten wird.

Inzwischen wurde es in der Altenburg sehr lebendig. Es tauchten immer mehr Schwärmer auf, ein Gast löste den anderen ab. An einem Frühsommernachmittag fand sich bei ihm eine dreiköpfige Gesellschaft zusammen. Joachim war der eine, der ungarische Geigenvirtuose Reményi der zweite, und ein vornehmer Junge von mädchenhafter Schönheit der dritte. Es stellte sich bald heraus, daß er Johannes Brahms hieß, zwanzig Jahre alt war und mit herzlichen Empfehlungen Schumanns als Pianist in der großen Welt umherreiste. Reményi und Brahms gaben gemeinsame Konzerte, es ging ihnen aber nicht allzugut, manchmal reichte es nicht einmal für die Eisenbahn, und sie mußten von einer Stadt zur anderen den Weg zu Fuß zurücklegen. Der Vater des jungen Brahms spielte die Baßgeige im Orchester des Hamburger Theaters, wo jetzt Joachim als erster Geiger wirkte. So fanden sich die drei Musiker zusammen und machten sich auf den Weg, um Liszt zu besuchen. Franzi ließ sie wochenlang nicht weg. Platz war ja in der Altenburg genügend vorhanden, die Zimmer, die immer noch vergeblich auf seinen Einzug warteten, standen leer. Die Fürstin nahm die jungen Leute gern auf. Die Altenburg hallte plötzlich von ungarischer Musik wider. Reményi, der eigenartige, phantastische Zigeuner, spielte stundenlang mit Franzis Begleitung, und wenn sie in einen Csardas übergingen, konnte Reményi nur tanzend Violine spielen. Er reckte und streckte sich, er ging im Rhythmus mit seinem ganzen Körper mit, er trippelte abwechselnd zu Carolyne und der kleinen Manja und spielte ihnen in die Ohren; kurz, auch ein Tauber hätte daran seine Freude gehabt! Franzi spielte seine ungarischen Rhapsodien vor, die mit der Zeit immer zahlreicher geworden waren, denn zwischen seinen anderen Arbeiten setzte er sich immer wieder, um sich zu erfrischen, ans Klavier, versuchte das eine oder andere Motiv, bis dann plötzlich aus der ganzen Fülle seiner Virtuosität heraus die Melodie wie ein mächtiger Springbrunnen die Reihen der Tasten entlang sprudelte. Sehr viel wurde auch von der neuen Musik gesprochen. Der junge Brahms, der goldblonde Jüngling, um dessen rosige, weiße Porzellanhaut ihn jedes junge Mädchen hätte beneiden können, zog die Stirn in Falten, wenn er Wagnersche Motive vernahm. Er gestand, daß er diese Musik nicht verstehe. Da fielen sie alle wie ein aufgestöberter Bienenschwarm über ihn her, zerrten ihn unter schreienden Erklärungen nach drei verschiedenen Richtungen, versuchten ihn zu überreden, nötigten ihn, – er aber schüttelte nur den Kopf.

»Ich habe den Geschmack eben noch nicht erfaßt, aber ich werde ihn sicherlich noch finden. Sein beispielloses Können lasse ich ja heute schon gelten.«

»Laßt ihn in Ruhe«, beschwichtigte Franzi, »er ist ein guter Musiker, dieser Junge, und hat ein gutes Herz. Er ist bestimmt unser Mann. Sprechen wir von etwas anderem. Was gibt's Neues in Ungarn?«

Reményi begann zu erzählen. Auch er hatte an der achtundvierziger Revolution teilgenommen. Er hatte im Lager Görgeys Geige gespielt und berichtete von den Aufregungen des Hauptquartiers, von der Heldenhaftigkeit des aussichtslosen Kampfes und dessen unbeschreiblichem Elend. Was seit dieser Zeit geschehen war, wußte er auch nicht. Als politischer Flüchtling trieb er sich in der großen Welt herum, wie abertausend andere Ungarn auch. Da ergriff Agnes das Wort. Sie wußte, wie es jetzt in Ungarn aussah. Sie kannte Bach, den österreichischen Politiker, der bestrebt war, für den jungen Franz Josef mit starker Hand ein friedliches und einiges Reich zu schmieden. Es vergingen keine fünf Minuten, und schon tobte der heftigste politische Streit. Reményi und Joachim, die beiden Ungarn, schlugen mit den Fäusten auf den Tisch, gerieten ganz außer sich und beschimpften zornig die Tyrannei, Agnes hingegen, die ihren ruhigen Ton nicht einen Augenblick gewechselt hatte, bemühte sich zu beweisen, daß die Ungarn jetzt ihr Land wirtschaftlich hochbringen könnten, wenn sie nicht dauernd rebellieren würden. Der Streit wurde so heftig, daß Carolyne Franzi aufforderte zu entscheiden, wer recht habe, damit der Lärm endlich ein Ende nehme.

»Wenn ich wüßte, wer recht hat«, entschied Franzi, »hätte ich es längst gesagt. Ich glaube, ich habe recht, der ich zwar in Ungarn geboren wurde, aber weder nach rechts noch nach links sehe, sondern fleißig arbeite. Alles andere überlasse ich dem lieben Gott, denn alles andere ist nicht meine, sondern seine Aufgabe. Daniel lernt fleißig ungarisch, nicht so wie sein Vater. Seiner Heimat kann er auch nicht treuer sein als ich. Jetzt ist's aber genug von der Politik, Agnes, setzen Sie sich ans Klavier.«

Agnes setzte sich ans Klavier, und wenn ihr Meister sie lobte, dann dankte sie ihm mit einer gewissen Huldigung, aber immer sehr gemessen. Monate vergingen, und sie standen sich nicht vertrauter gegenüber, als am ersten Tage ihrer Bekanntschaft. An einem musikalischen Nachmittag geschah dann etwas Sonderbares. Der kleine Pruckner, der immer zu Späßen aufgelegt war, stellte die spielerische Frage, welcher Tonart die einzelnen Anwesenden entsprächen. Den immer düster gestimmten Brahms bezeichneten sie mit b-moll, für die lebhafte, fleißige und bestimmte Natur Raffs erschien ihnen D-dur am bezeichnendsten und so weiter. Sie nahmen alle vor und ließen keinen aus. In ihrer begeisterten Achtung behaupteten sie von Franzi, daß er die chromatische Skala selbst wäre in allen Tonarten der Welt.

»Und Agnes?« fragte Hans.

Agnes sah keinen der Jungen, sondern nur den Meister an, als ob sie nur von ihm eine Antwort erwartete, und Franzi erwiderte:

» As-dur.«

Die Jugend nahm den Entscheid des Meisters mit Ehrerbietung zur Kenntnis, sie versuchten nicht, seine Antwort zu analysieren, und begannen von etwas anderem zu sprechen. Agnes aber ließ absichtlich etwas auf die Erde fallen, um sich bücken zu müssen und ihr Erröten zu verbergen. Sie war die einzige, die das As-dur verstanden hatte. In der werdenden Symphonie war das die Tonart Gretchens. Dieses Erröten bemerkten die Schüler nicht. Als sich der Meister und die Schülerin später ansahen, gestand ihr Blick rückhaltlos alles ein … Reményi, Brahms und Joachim fuhren wieder ab, und die Fürstin entschloß sich, zur Kur gegen ihr Gallenleiden nicht nach dem mit verhängnisvollen Erinnerungen verknüpften Eilsen zu gehen, sondern nach Karlsbad. Anschließend wollte sie mit ihrer Tochter einige Besuche machen und sich dann für einige Wochen auch in München aufhalten, denn man durfte ja nicht außer acht lassen, daß Manja langsam ins heiratsfähige Alter kam. Als geeignetester Umgang für sie erschien der Mutter die bayrische Aristokratie. Franzi entschloß sich ebenfalls, für diese Zeit Weimar zu verlassen. Die neben ihm lebende Fürstin hätte er fast schon betrügen können, daß er aber die Abwesende wie ein kleinbürgerlicher Strohwitwer betrügen sollte, verbot ihm seine Ritterlichkeit. Da ihn Wagner seit langem in jedem seiner Briefe flehentlich für ein paar Tage eingeladen hatte, teilte er seine Zeit so ein, daß er zunächst die Symphonie beendete, dann zu Wagner nach Zürich reiste, anschließend die Fürstin in Karlsbad besuchte und endlich auf eine Einladung des Großherzogs von Baden an dem Musikfest in Karlsruhe teilnahm. Bis dahin würde die ganze Klindworth-Angelegenheit sich klären und die treue und verliebte Carolyne nie erfahren, was einige Wochen lang ihrem Geliebten so viel Unruhe bereitet hatte.

An einem heißen Julitag kam er in Zürich an. Als der Mietwagen ihn nach einer endlos scheinenden holperigen Fahrt bei den Escherhäusern, weit im äußeren Gürtel der Stadt, abgesetzt hatte, suchte er die Hausnummer des Zeltweges. Nach langem Hin und Her fand er endlich die Wohnung. Auf sein Läuten ertönte innen ein helles Hundebellen, dann öffnete ein Mädchen die Tür, schon kam aber auch Minna, die Frau Wagners, herbei. Als sie den seltenen Gast erkannte, schrie sie laut auf und bat ihn dann einzutreten. Schon kam auch Wagner selbst, munter und aufgeräumt, prächtig aussehend, in einem neuen modischen Anzug. Er kam nicht, er rannte, er benahm sich wie ein Irrsinniger. Er sprang Franzi um den Hals, umarmte ihn, drückte und küßte ihn und war ganz außer sich vor Freude. Er ließ die Hand des Gastes nicht los, überschüttete ihn mit einem Schwall langer Sätze, fiel ihm wieder um den Hals und küßte ihn abermals. Inzwischen kam auch ein kleiner, dick gewordener, träger Hund zum Vorschein. Wagner setzte sich neben ihn auf den Teppich und redete mit ihm.

»Peps, alter Hund, was denkst du denn, wer da ist, guter Hund, alter Pepsili, was sagst du denn zu Franzi? Nicht wahr, du freust dich auch?«

Dann sprang er abermals auf und umarmte den Gast wieder. Nur langsam kam Franzi zu Atem. Er blickte sich um und sah sich von Wohlstand umgeben: schwere Teppiche, kostbare Gardinen, gute Möbel und teuere Sachen. Das überraschte ihn etwas nach der langen Reihe klagender und um Geld flehender Briefe.

»Siehst du«, rief der Hausherr, »das alles hast du aus mir gemacht! Sieh dich um, die Wohnung ist schön, nicht wahr? Das habe ich alles dir zu danken. Und sieh dir meinen Anzug an. Ich sehe endlich menschlich aus. Das ist alles dein Werk. Kann man denn überhaupt noch Worte finden für meine Dankbarkeit?«

Er umarmte und küßte ihn abermals. Franzi lächelte liebevoll über die ausgelassene Freude seines Freundes. Endlich kamen sie in ein regelrechtes Gespräch. Franzis erste Frage war, wieviel von dem »Ring« fertig sei. Es stellte sich heraus, daß der Text aller vier Opern schon abgeschlossen war. Wagner brachte schnell das Manuskript, und schon kümmerten sie sich um nichts anderes mehr.

»Natalie soll die Tür schließen«, rief Wagner hinaus, »ich bin für niemanden zu Hause«, schlug das Manuskript auf und begann zu lesen.

Mit wenigen erklärenden Worten wies er zuvor auf das »Rheingold« hin, das Franzi bereits kannte. Dann begann er die »Walküre« zu lesen.

Er las prächtig. Mit breiter, erhobener Stimme, die sich senkte, sobald es der Text erforderte, zwar in der Art der alten klassischen Schauspieler, aber mit soviel Feuer, mit einem so lodernden Glauben an sein eigenes Werk, daß sein Fanatismus den Zuhörer ungewollt mit sich riß. Obendrein war das, was er las, auch noch wunderbar schön. Er erzählte die Geschichte Siegmunds und Sieglindes, der beiden Zwillingsgeschwister, die sich in Liebe finden. Sieglinde ist das Weib Hundings, ihre Hütte ist um den Stamm jenes großen Baumes gebaut, in den einst Wotan den Notung, das Zauberschwert, bis zum Schaft hineingestoßen hat. Der Sieg über die finstere Gewalt ist dem beschieden, der es aus dem Stamm herausziehen kann. Siegmund gelingt es, und er flüchtet mit Hundings Weib, seiner Schwester. Hunding sucht nun den Sprößling Wotans zu töten, und der Gebieter Walhalls, dem die Göttin Wala neun Töchter geboren hatte, die neun Walküren, befiehlt einer dieser Töchter, der Walküre Brünnhilde, sich im Zweikampf zwischen Siegmund und Hunding auf die Sette Siegmunds zu stellen. Da tritt aber sein Weib Fricka dazwischen, die als Göttermutter sich für die Heiligkeit der Ehe einsetzen muß. Sie hat genug unter der Untreue des germanischen Jupiter gelitten und hat also allen Grund, dem blutschänderischen, ehebrecherischen Geschwisterpaar Feind zu sein. Sie zwingt ihren Gemahl, den der Brünnhilde erteilten Befehl zu ändern: Siegmund muß im Zweikampf sterben. Brünnhilde findet im Walde den auf den Gegner wartenden Siegmund und teilt ihm mit, daß er sterben müsse. Der verliebte Siegmund will darauf auch seine Geliebte, die ein Kind unter dem Herzen trägt, töten. Da wird Brünnhilde von Mitleid erfaßt. Sie mißachtet den Befehl ihres Vaters und hilft dem Siegmund. Wotan aber hält, was er seiner Gattin versprochen hat: als er sieht, daß Brünnhilde seinem Befehl zuwider dem Siegmund hilft, tritt er dazwischen. Seine Macht ist unbeschränkt. Er schiebt seinen göttlichen Speer zwischen die Kämpfenden, und an dessen Schaft bricht das Wunderschwert, der Notung, entzwei. Siegmund fällt. Die Walküre kann Sieglinde noch rechtzeitig retten, sie selbst aber erhält von dem strengen göttlichen Vater eine harte Strafe für ihren Ungehorsam: er umgibt sie mit einem Flammenmeer, dort muß sie in Schlaf versunken harren, bis der Held kommt, der keine Furcht kennt und durch das Flammenmeer dringt, sie zu erlösen. Aber nicht nur Brünnhilde muß erlöst werden, auch Walhall, die herrliche Burg der Götter ist von Unheil bedroht, da der Wunderring und die Tarnkappe immer noch im Besitze der Riesen sind. Das Land der Götter vermag nur ein junger Held zu retten, der aus ureigenster Kraft ohne Wotans Hilfe dem Drachen Fafner den Hort raubt.

Auch die Sprache dieses Werkes war herrlich; Wagners Vortrag erhöhte die Wirkung noch. Die Liebesszene des ersten Aufzuges, wo durch die aufgehende Tür der warme Hauch des Frühlings hereinstürmt, gefiel Franzi so gut, daß er mitten im ersten Akt Beifall klatschte.

»Winterstürme wichen
dem Wonnemond,
in mildem Lichte
leuchtet der Lenz;
auf lauen Lüften
lind und lieblich,
Wunder webend
er sich wiegt …«

Ohne Vorbehalt lobte er die Arbeit und nötigte den Komponisten, weiter zu lesen. Das nächste Werk der Tetralogie, den jungen Siegfried, kannte er schon. Es blieb nur noch das vierte Stück: Siegfrieds Tod.

»Die Titel werden nicht so lauten«, sagte Wagner, »ich habe sie geändert. Der Titel des dritten Werkes ist einfach ›Siegfried‹ und des vierten ›Götterdämmerung‹. Wie gefällt es dir?«

»Götterdämmerung, Götterdämmerung«, wiederholte Franzi das ungewohnte Wort wie ein Weinprüfer, der den Trunk abschmeckt, »ein sonderbarer Titel, aber sehr schön. Götterdämmerung … Ja, je öfter ich es sage, um so schöner klingt es. Aber lies weiter, denn ich bin furchtbar neugierig.«

Wagner las das Drama in einem Zuge vor. Seine Stimme wurde nicht müde, aber auch Franzis Aufmerksamkeit ließ nicht nach. Der vierte Teil des großen Werkes führt in das Reich der Nibelungen, Gunther, Gutrune und Hagen. Hagen, der Sohn des schlimmen Zwerges Alberich, hat einen Plan ersonnen, wie man sich den Zauberring verschaffen könnte. Durch heiße Liebe soll Gunther an Brünnhilde und Gutrune an Siegfried gefesselt werden. Mit teuflischer Geschicklichkeit führt er sein Vorhaben aus. Gutrune reicht Siegfried einen Zaubertrank, der ihn Brünnhilde vergessen und zu Gutrune in Liebe entflammen läßt. Nun verhilft er selbst Gunther zum Besitz Brünnhildes, er raubt von Brünnhilde den Wunderring mit Hilfe der Tarnkappe, die es ihm ermöglicht, in der Gestalt Gunthers vor der Walküre zu erscheinen. Zwei Hochzeiten folgen: Gunther und Brünnhilde, Siegfried und Gutrune. Am Tage nach der Hochzeit wird Siegfried aber unter dem Vorwand einer Jagd in den Wald gelockt und Hagen, der inzwischen erfahren hat, daß der unverwundbare Siegfried au einer bestimmten Stelle seines Rückens doch verwundbar ist, tötet ihn. Den Zauberring kann man ihm nunmehr entwenden, über diesen verfluchten Schatz geraten aber Gunther und Hagen in Streit, wie einst Fasolt und Fafner. Hagen sticht Gunther nieder, aber der Ring gelangt trotzdem nicht in seinen Besitz. Brünnhilde streift ihn von dem Finger ihres toten Geliebten und wirft ihn in den Rhein. Die Wassernixen aber reißen den Hagen mit sich in die Tiefe. Siegfried wird auf einem mächtigen Scheiterhaufen aufgebahrt, und die Walküre reitet auf ihrem Roß in das prasselnde Feuer, um mit Siegfried gemeinsam den Flammentod zu sterben und in Walhall einzuziehen. Die Geschichte des Wunderringes, der Götter, Zwerge, Riesen und Helden durch seinen verfluchten Besitz unglücklich gemacht hat, ist zu Ende. Die Götter verlieren mit dem Ring ihre Allmacht, auch ihre Burg Walhall geht in Flammen auf. Der Ring aber ruht auf dem geheimnisvollen Grund des Rheines.

»Du bist der größte Geist des Jahrhunderts«, sagte Franzi nach der Vorlesung, »obwohl es noch gar nicht vertont ist, was du gedichtet hast. Ich weiß aber, daß auch das ganz groß wird! Dieser Plan stellt dich vor ungeheure Aufgaben, du hast aber die Kraft in dir, sie zu lösen.«

»Ja«, entgegnete Wagner, von der langen Vorlesung vollständig erschöpft, »das Ganze ist großartig. Ich weiß, daß ich ein Genie bin. Du weißt es auch, aber die ganze Welt muß es erfahren.«

»Wir werden uns Mühe geben«, lächelte Franzi, »aber ich muß dich etwas fragen. In deiner Tetralogie spielt der Zaubertrank eine ganz besondere Rolle. Im letzten Teil führt er die entscheidende Wendung im Drama herbei. Was bedeutet bei dir dieser Zaubertrank? Was willst du damit sagen? Der Zaubertrank ist doch eigentlich kein Mittel dramatischer Wirkung, warum bedienst du dich seiner immer wieder, obwohl du ein so bedeutender Dramatiker bist?«

»Ich weiß nicht«, sprach Wagner vor sich hin, »der Gedanke des Zaubertrankes hat mich schon seit meiner Jugend immer angezogen. Schon in meiner Kindheit ist es mir fortwährend durch den Kopf gegangen, was für eine aufregende Sache es sein müsse, irgend etwas Schicksalhaftes zu schlucken. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie wunderbar etwa ein Liebestrank sein konnte, wenn es so etwas überhaupt gäbe. Als ich von den Fluten des Lethe las, reizte mich auch das außerordentlich, und es schien mir eine wunderbare Vorstellung. Das Leben schafft doch furchtbar viel böse Verhältnisse, wenn zum Beispiel ein Mann einer Frau überdrüssig wird und eine andere begehrt. Wie einfach ist es dagegen in der Kunst: Siegfried trinkt einen einzigen Schluck und vergißt Brünnhilde vollkommen. Keine Gewissensqualen, kein Mitleid, keine Schwierigkeiten: er streckt einfach seine Hand nach Gutrune aus. So müßte das auch im Leben sein! Bist du nicht auch dieser Meinung?«

Er lachte dazu, aber es klang hart und gequält. Franzi sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

»Du bist innerlich sehr aufgewühlt, Richard.«

»Das will ich meinen. Du hast es leicht, geheimnisloser Mann. Wie ich aber mit mir selbst kämpfe und mich quäle, das ist unbeschreiblich. Sag einmal, was soll ich bloß mit Minna machen? Weder mein Körper noch meine Seele verlangt nach ihr, und wieviel Jahre leben wir trotzdem miteinander! Irgend etwas bindet mich an sie, was ich selbst nicht erklären kann … Wenn das nicht wäre, würde ich sie ohne Zögern verlassen, denn die Ruhe für meine Arbeit geht mir vor; im Interesse meiner Arbeit habe ich das Recht zu jeder Grausamkeit. Ich habe es schon auf alle beide Arten versucht: ich kann weder mit ihr, noch ohne sie leben. Obendrein ist nun noch eine andere Frau da, die Gattin eines Seidenfabrikanten Wesendonck. Sie ist musikverständig, und zwar so musikverständig, wie ich es brauche, – sie schwärmt für meine Musik. Minna, die Schauspielerin war und jahrelang in der Musik gelebt hat, versteht nicht das Geringste von allem, was ich schaffe … Aber langweilt dich das nicht?«

»Es langweilt mich nicht«, sagte Franzi mit beherrschter Ruhe, »im Gegenteil, es interessiert mich sehr, erzähle nur weiter.«

»Jetzt ist es nun so, daß Mathilde, Frau Wesendonck heißt nämlich Mathilde, mich außerordentlich fesselt. Ich könnte ohne sie gar nicht sein. Ich habe schon daran gedacht, sie einfach schonungslos ihrem Manne zu rauben. Ich tue es trotzdem nicht …«

»Du hast den Mann gerne, wie? Ein häufiger Fall.«

»Nein, das würde mich nicht stören. Wenn jemand leiden muß, dann mag nur er leiden und nicht ich. Die Seidenzucht wird auch ohne ihn bestehen, die neue Musik ohne mich aber nicht. Die Ruhe meiner Nerven liegt im Interesse der Gesamtheit. Nein, das ist nicht das Schlimmste. Aber die Angelegenheit wäre schon materiell nicht durchführbar, denn Mathilde hat kein nennenswertes Privatvermögen, nur ihr Mann ist reich. Dann würde aber auch diese unglückliche Minna meine Seele allzusehr bewegen. Was für ein Leben ist das, Franzi! Wenn du wüßtest, was das für eine Hölle ist! Aber Minna, diese unglückselige Frau, die meinetwegen schon soviel gelitten hat, hält neben mir aus. Als ich mich vor einigen Jahren in eine Frau Laussot verliebte und sie heiraten wollte, ist Minna fast irrsinnig geworden. Trotzdem hat sie durchgehalten. Genau so ist es jetzt mit der Frau Wesendonck. Minna und ich quälen uns hier entsetzlich und sprechen tagelang keine Wort miteinander. Hölle, Hölle! Und ich hätte meine Nerven gerade jetzt so nötig, wo ich vor der Vertonung des ›Ringes‹ stehe. Mit meinen Nerven ist übrigens fortwährend etwas los. Ich glaube, das begann schon in meiner Kindheit … Ach, wieviel könnte ich dir erzählen von dieser fürchterlichen Kindheit … von meinem Stiefvater, dem ich dankbar sein müßte, weil er mich erzogen hat, den ich aber im geheimen tödlich haßte und an den ich auch heute noch nicht ohne Erbitterung denken kann. Darum ist ja auch der Antisemitismus so stark in mir.«

»Wieso, war Geyer Jude?«

»Manche behaupten es. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr trug ich seinen Namen. Ich besuchte die Schule als Richard Geyer. Einer meiner Lehrer hat dann auf Grund meines Taufscheins erst meinen richtigen Namen festgestellt. Es ist unbeschreiblich, was ich als Kind, verschlossen wie ich war, durchgemacht habe, ohne daß jemand irgend etwas davon geahnt hat. Ich glaube, ich kranke heute noch daran.«

»Was fehlt dir bloß? Du stehst doch sehr gesund aus.«

»Ich? Haha! Von einer Wasserheilanstalt wandere ich in die andere. Wenn du mich fragst, was mir fehlt, kann ich dir nicht antworten. Ich bin nervös, das ist alles. Ich bin aber so nervös, daß sich auf meiner Haut Ausschlag bildet, wenn ich mich aufgeregt habe, der dann wochenlang nicht wieder vergeht. Es ist gar nicht gut, daß wir so viel davon sprechen, sprechen wir von etwas anderem. Wie steht es mit deiner Arbeit?«

Franzi setzte sich aus Klavier. Er begann den »Faust« zu erklären. Sie vertieften sich so darin, daß sie gar nicht merkten, wie schon der späte Sommerabend dämmerte, obwohl sie ihre Unterhaltung unmittelbar nach dem Mittagessen begonnen hatten. Nach der Hausordnung war es Minna nicht erlaubt, sich bemerkbar zu machen, solange ihr Mann ihr nicht Bescheid sagte. Jetzt rief er endlich nach ihr, und die Frau machte in aller Eile den Tisch zurecht. Beim Abendessen sprach man wieder über Musik, Minna sagte kaum fünf Sätze; sie antwortete nur, wenn sich Franzi höflich an sie wandte, um sie an der Unterhaltung teilnehmen zu lassen. Sonst saß sie stumm neben den beiden, die ehemalige Wanderschauspielerin mit ihrer bewegten Vergangenheit; ihr Gesicht zeigte noch einige Spuren einstiger Schönheit, die durch die grausame Not der vergangenen Jahre gerade dann zu verfallen begann, als ihr Mann in kühnem Fluge zum Gipfel des Ruhmes emporstrebte. In diesem Heim lauerte etwas Erdrückendes in den Ecken, etwas Unerträgliches, Quälendes. Sobald sie den letzten Bissen geschluckt hatte, verschwand die Frau ohne Gruß und zeigte sich nicht mehr. Die beiden aber sprachen noch bis tief in die Nacht hinein vom »Ring« und vom »Faust«.

Franzi blieb acht Tage in Zürich. Er lernte nacheinander die Freunde Wagners kennen und stellte überrascht fest, daß der in Exil lebende Dresdner Revolutionär mit den radikalen Elementen überhaupt nicht zusammen kam, von denen Zürich und die ganze Schweiz nur so wimmelte. Außer Schriftstellern und Musikern, über die er mit schonungsloser Tyrannei herrschte, pflegte er nur mit den Gutsituierten eine engere Freundschaft. Als Franzi das zur Sprache brachte, bemerkte Wagner lässig:

»Ich hasse die Armut.«

Herwegh, der Dichter, war ständig in Wagners Umgebung, für Franzi ein erfreuliches Wiedersehen. Herwegh war einer seiner literarischen Freunde, er hatte mehrere Gedichte von ihm vertont, unter anderem das Gedicht von der Sehnsucht nach dem Tod, das nach dem Wiedersehen mit Liline Saint-Cricq in Pau entstand. Wie weit lag dieses Wiedersehen schon zurück. Wie lange bestand schon dieses Gelübde, daß sie bei jedem abendlichen Glockengeläute aneinander denken wollten. Nur eine schneeweiße und schmerzliche Erinnerung war davon zurückgeblieben. Jetzt trat sie aber wieder aus der düsteren Ecke seines Herzens hervor, wohin er die Erscheinung Lilines verbannt hatte. Die Fürstin war ihm ja auch nicht die vollkommene liebespendende, wundersame Gefährtin geworden. Und der Geist mit dem Alabastergesicht tauchte wieder aus der Vergangenheit hervor: »Sieh mich an, ich hätte es sein können …« Franzi hielt sich noch in Zürich auf, als er ein Telegramm aus Weimar erhielt: Der Großherzog war gestorben. Später las er die Einzelheiten über den unerwarteten Tod des Herrschers in der Presse. Der alte Herr war an der Rose erkrankt, und dieses Leiden raffte ihn dann sehr schnell dahin. Mit tiefem Bedauern trauerte Franzi; der Großherzog war stets gütig und liebenswürdig zu ihm gewesen. Er richtete sowohl an Maria Pawlowna als auch an den neuen Großherzog einen langen Beileidsbrief. Stärker aber als das menschliche Bedauern war in ihm die Erwartung, was dieser Thronwechsel für die beiden Dinge bedeuten würde, die für ihn die wichtigsten waren: wie würde sich der Streit um die Scheidung der Fürstin Carolyne weiter entwickeln, und was würde Karl Alexander, der neue Großherzog, für die »Zukunftsmusik« tun?

Sein Besuch bei Wagner schloß mit einem Ausflug an den Vierwaldstättersee, an dem auch Herwegh teilnahm. Sie sahen sich auch die Rütliwiese an, und tranken, wie es die alten Schweizer zu tun pflegten, auch aus der Rütliquelle auf eine bis in den Tod währende Freundschaft. Dann nahmen sie Abschied voneinander. Wagner umarmte und küßte seinen Freund.

»Du kehrst in dein Himmelreich zurück und ich in meine Hölle.«

Franzi entgegnete nichts. Und Wagner ahnte nicht, daß sein Freund kein geheimnisloser Mensch mehr war, denn Franzi hatte ihm verschwiegen, daß zwischen ihrer beiden Lage kein Unterschied bestand. Beider Leben war weder Himmel noch Hölle. Beides war ein irdisches Leben. Wie das eines jeden auf der Welt: Sehnsucht nach dem Unerreichbaren im ewigen Kampf mit der Wirklichkeit des Alltags, – die Faust-Symphonie selbst, wie sie der Tondichter aus seiner eigenen Seele heraus zu Papier gebracht hatte …


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