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Fünfzehntes Kapitel

Am Geburtstage des verstorbenen Großherzogs brachte ein Hoflakai ein kleines Päckchen in den »Erbprinzen« und dazu ein Schreiben in französischer Sprache.

 

»Den Morgen des Tages, der eine so teure und bewegte Erinnerung in mir wachruft, nehme ich zum Anlaß, diese Zeilen an Sie zu richten, mein lieber Freund, und ihnen diesen am Halse zu tragenden Orden beizufügen, den ich für Sie bestimmt habe. Ich habe diesen Tag gewählt, weil ich die Gefühle, die ich Ihnen gegenüber hege, mit dem Andenken meines Vaters verbinden will, denn ich weiß, wie sehr insbesondere er Sie hoch schätzte, und ich tue jetzt auch nur das, was der verewigte Großherzog an meiner Stelle getan hätte, wenn er noch lebte. Sie wissen seit langem, welche Gefühle ich Ihnen entgegenbringe, möge also dieser Brief für alle Zeiten der beredte Ausdruck der Aufrichtigkeit und Beständigkeit der Gefühle sein, die Ihnen immer entgegenbringen wird

Ihr Ihnen sehr geneigter
Karl Alexander.«

 

Aus dem Päckchen kam das Ritterkreuz des Falkenordens zum Vorschein, die höchste Auszeichnung, die das Weimarer Großherzogtum zu vergeben hatte. Franzi wußte, was er für diese Auszeichnung zu opfern hatte: seine Nerven im Theater. Er mußte die Leitung der Oper mit unverändert schwachen Darstellern und unvollkommenem Orchester wieder übernehmen, denn Geld war ja nicht vorhanden, nur guter Wille und Wertschätzung. Die Versprechungen des Intendanten nahm er mit einem tiefen Seufzer zur Kenntnis, da er ja wußte, wieviel sie wert waren, und übernahm die Theaterleitung von neuem. In einem geheimen Winkel seiner Seele lebte immer noch die Hoffnung, daß vielleicht doch noch einmal ein Wunder geschehen und er den Hof überreden könnte, Wagners Tetralogie mit gebührender Pracht und mitreißendem Prunk in Weimar zur Aufführung zu bringen. Wagner hatte ihm schon mitgeteilt, daß er fleißig gearbeitet habe, seit sie von Paris zurückgekehrt seien; die Musik zum »Rheingold« wäre schon fertig und er arbeite bereits mit voller Kraft an der Vertonung der »Walküre«.

Für den Geburtstag der Großherzogin-Witwe bestimmte Franzi den »Orpheus« von Gluck. Während der Proben tauchte immer wieder die alte Erinnerung in ihm auf, wie die Gräfin Liline aus dem Louvre mit der Entdeckung nach Hause kam, daß die Orpheus-Gestalt auf einer alten klassischen Vase ihm, Franzi, ähnlich sehe. In seinem Liebesglück hatte er sich seinerzeit über diesen Vergleich sehr gefreut. Jetzt bewegte es ihn tief, daß er nicht nur sich als Orpheus sehen mußte, sondern auch in der Eurydike Lilines Andenken lebendig wurde. Während der Proben setzte er sich hin und schrieb sich den niemals erloschenen, jetzt wieder stärker gewordenen Schmerz um die verlorene Liline von der Seele herunter. Die Fürstin Carolyne hatte er unendlich lieb, er fühlte sich zu ihr sehr hingezogen, aber ihre in den höchsten Sphären begonnene Liebe war durch das qualvolle Hin und Her der Scheidungsverhandlungen, die verwickelten Familienbeziehungen zu einem alltäglichen, an die irdische Wirklichkeit geketteten Roman herabgemindert worden, die alte Erinnerung hingegen schwebte unverändert in der Unendlichkeit der vollkommenen Gefühle.

Mit dieser Tondichtung wurde er sehr bald fertig und brachte sie als Ouvertüre am Festabend der Gluck-Aufführung. Dem Programm gab er einige erklärende Worte bei: »Orpheus beweint Eurydike, das Symbol des im Übel und im Schmerz untergegangenen Ideals. Es ist ihm vergönnt, sie den Dämonen des Erebus zu entreißen und heraufzubeschwören aus den Finsternissen der Unterwelt, aber nicht, sie für das Leben zu erhalten.« Auch die Fürstin Carolyne las diese wenigen Zeilen im Theater. Sie, die von der Jugendliebe ihres Geliebten zwar alles wußte, mußte doch jetzt erkennen, daß sie aus seiner Seele, die sie vollständig als die ihre wähnte, diese eine Erinnerung doch nicht auslöschen könne. Sie hatte wohl an die Stelle der einstigen Liebe treten können, mit der Zauberkraft jenes reinen und wehmütigen Andenkens konnte sie sich aber nicht messen. So geisterte diese Frau, die zwar noch lebte, sich aber noch bei Lebzeiten in ein mystisches Phantom verwandelt hatte, immer wieder durch ihre Liebe.

Andere Liebende kommen erst in der Ehe dahin, daß der zauberhafte Glanz ihrer Gefühle langsam erblaßt, sie waren schon vor der Eheschließung da angelangt. Ihre Zusammengehörigkeit war über jeden Zweifel erhaben, aber die sich schon so lange hinschleppende Lösung der Scheidungsfrage beschleunigte nicht mehr ihre gegenseitige Liebe, sondern der gesellschaftliche Zwang. Den Töchtern Franzis wäre es sehr nützlich gewesen, wenn ihr Vater, statt in einem berüchtigten Liebesverhältnis zu leben, eine rechtmäßige Ehe geführt hätte, und für das Schicksal der kleinen Manja war es erst recht nicht gleichgültig, ob lediglich das ostentative Wohlwollen des Hofes die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Mutter sicherte. Carolyne wollte jetzt aus fraulichem Stolz und mütterlichem Pflichtbewußtsein unter allen Umständen heiraten, Franzi aus Ritterlichkeit. Im übrigen waren sie es schon müde geworden, sich nach der legitimen Ehe zu sehnen. Ihr nun schon sechs Jahre währendes Liebesverhältnis hatte die einst so stürmische Sehnsucht besänftigt. Und die Scheidung, einer sich reckenden Riesenschlange gleich, zog sich von einer Woche zur anderen, von einem Monat zum anderen hin. Der Familie Sayn-Wittgenstein fiel es nicht einmal im Traum ein, die getroffene Vereinbarung einzuhalten, nach der sie im Hinblick auf die Vermögenszugeständnisse seitens Carolynes die Scheidung der Fürstin zu beschleunigen hätten. Allem Anschein nach waren sie im Gegenteil bemüht mit allen Mitteln den kirchlichen Streit zu nähren. Jede Kleinigkeit kam ihnen gelegen, und als die kleine Manja dessen überdrüssig wurde, in der Bastille zu schlafen und auch für die Nacht zu ihrer Mutter zurückgezogen war, traf vom Vater alsbald eine energische Verwahrung ein. Offensichtlich hatte er einen Bevollmächtigten, der ihn über alles unterrichtete. Sofort setzte sich auch der Hof des Zaren in Bewegung, und die Fürstin bekam abermals eine Aufforderung, unverzüglich in ihr Vaterland zurückzukehren, um die streitigen Fragen persönlich zu verhandeln. Es lag aber klar auf der Hand, warum man sie nach Hause rief. Wenn sie einmal die russische Grenze überschritten hätte, bekäme sie nie wieder einen Paß, und die Familie hätte ein für alle Male verhindert, daß Carolyne eine Ehe unter ihrem Rang eingehe. Carolyne blieb also in Weimar und versuchte durch die Vorlegung ärztlicher Atteste Zeit zu gewinnen. Am Hofe konnte ihr jeder nur einen einzigen Rat geben. Sie möge ihre Tochter schnellstens verheiraten, denn in ihrem ungeheuren Vermögen läge ja nur der wahre Grund aller Schwierigkeiten. Die Familie wollte die kleine Prinzessin in Rußland verheiraten, damit ihr das Riesenvermögen erhalten bliebe. Selbst Maria Pawlowna empfahl mehrere Auserwählte, vor allem einen jungen Herrn Talleyrand. Allen Verheiratungsversuchen widersprach aber die Tochter selbst. Sie hatte ihr Ideal in der Person des Fürsten Konstantin Hohenlohe gefunden, auf den sie wartete. Ihre Mutter war also gezwungen, weiter zu korrespondieren, weiter zu leiden und zu kämpfen.

Franzi litt mit ihr und kämpfte mit ihr. Jetzt aber schon mehr aus ritterlicher Pflicht und nicht mehr aus der Ungeduld des Verliebten. Zur Ohnmacht verdammt, mußte er abwarten, bis durch irgendeine glückliche Wendung die Waage sich zu ihren Gunsten senkte. Die vielen Qualen trieben ihn zur Arbeit, in der er seine einzige Freude fand. Nach dem »Orpheus« holte er die Aufzeichnungen hervor, die er einst unter dem Eindruck der Verse des französischen Dichters Aubray: »Die vier Elemente« zu Papier gebracht hatte. Damals hatte er aber bald die Lust an diesem unbedeutenden Gedicht verloren. Später hatte ihn dann ein Gedanke Lamartines beseelt, den er in den » Méditations poétiques« gelesen hatte: »Was anders ist unser Leben als eine Reihenfolge von Präludien zu jenem unbekannten Gesange, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt?« Zu diesem Gedanken paßten die alten Aufzeichnungen sehr gut. Er schrieb den Titel: » Les Préludes« und begann zu arbeiten. Nach den mächtigen und schweren Gedanken der Faust-Symphonie, die er nach dem bewährten Grundsatz des Horaz zur Seite gelegt hatte, wollte er jetzt, leichtbeschwingt, bunt und farbig über das menschliche Leben hinwegschweben. Flimmernde lyrische Lieblichkeiten fielen ihm ein, und als er den Hauptgedanken des ganzen Werkes fand, summte er ihn mit frohlockender Miene, über das Notenpapier geneigt. Jeden Takt schrieb er in dem Bewußtsein, daß diese Dichtung sehr anziehend und volkstümlich werden müsse, obwohl er keinerlei Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack zuließ; ihre melodiöse Art, ihre Vielfalt und sonnenbeschienene Buntheit würden sie aber so werden lassen. In schnellem Fluge beendete er diese Arbeit, und kurz nach dem »Orpheus« führte er die neue Komposition bereits bei einem Hofkonzert auf. Der Erfolg entsprach seinen Erwartungen, alles war von dem Werk entzückt. Nach den schmetternden, steghaften C-dur-Schlußtönen schlug ihm ein schon seit langem nicht mehr erlebter, unbändiger Beifallssturm entgegen.

»Jetzt sind Sie glücklich, nicht wahr?« fragte erfreut die Fürstin. »Ich bin so froh, daß ich es Ihnen gar nicht sagen kann.«

»Ich bin froh, aber nicht weil die Zuhörer Beifall gespendet haben. Diesen Beifall verachte ich ebenso sehr, als wenn mir jemand ein Bein stellte. Die haben ja keine Ahnung davon, was meine Musik ist, oder was die Musik Wagners ist. Ich werde ihnen die Nibelungen-Oper von Heinrich Dorn vorführen und mir ins Fäustchen lachen. Was wissen denn die, was ich mache und was ich will …«

Das Weimarer Theater führte tatsächlich eine Nibelungen-Oper auf, während Wagner in die Vertonung der Tetralogie vertieft war. Diese Oper stammte von einem einflußreichen Berliner Tondichter namens Dorn, der zufällig seinen Text ebenso wie Wagner aus der germanischen Mythologie entnommen hatte. Auch seine Hauptgestalten waren Hagen, Siegfried und Kriemhilde, seine Musik erhob sich aber in keiner Weise über das Niveau der sogenannten Dirigentenmusik. Franzi führte diese Oper aus zweierlei Gründen auf. Erstens hielt er es für richtig, noch vor Erscheinen der Tetralogie im Publikum das Interesse für die Nibelungenwelt zu erwecken, zweitens hatte er dem verpflichteten Dorn das Versprechen abgenommen, daß dieser in Berlin wiederum den »Tannhäuser« aufführen werde. Inzwischen ging ein Brief nach dem anderen zwischen Wagner und Franzi hin und her. Wagner arbeitete unentwegt an seinem großen Werk, und während er das Neue, das Große schuf, taten seine bisherigen Werke unaufhaltsam, langsam aber sicher ihre gärende Wirkung. So war der »Lohengrin« in Leipzig aufgeführt worden. Das Interesse wurde einmal da, einmal dort wach, der Pressekrieg der musikalischen Zeitschriften wurde nicht einen Augenblick lang unterbrochen. In Weimar aber wuchs ständig die Zahl der Jünger, die aus allen Ländern Europas hierher kamen, um in der Umgebung des ersten Klavierspielers der Welt die Generalstabsarbeit dieser mächtigen Revolution aus nächster Nähe mitzuerleben, die der freiwillige Führer mit zäher Hartnäckigkeit, mit Ausdauer und Überzeugung im Namen des Thronprätendenten der neuen Opernbühne leitete.

Unter den Jüngern tauchte um diese Zeit Anton Rubinstein auf, den Franzi vor vielen Jahren in Paris zu unterrichten begonnen hatte. Der damalige russische Wunderknabe besuchte ihn jetzt als vierundzwanzigjähriger, hochgewachsener junger Mann. Nach einer langen Reise fand er sich bei ihm im »Erbprinzen« ein. Franzi wußte zuerst gar nicht, wer dieser breitschultrige, glattrasierte Mann war.

»Ich bin Anton Gregorjewitsch Rubinstein, ich habe dem Meister bereits geschrieben, daß ich komme.«

» Sie sind's? Ich hätte Sie nie erkannt. Nehmen Sie Platz und erzählen Sie. Wie geht es Ihnen, was haben Sie seit dieser Zeit gemacht, wo ich Sie nicht gesehen habe?«

Der junge Russe erzählte, daß er sich viel gequält habe, daß er viel herumgekommen sei, ehe er nach Rußland zurückgekehrt wäre und dort eine dauernde Anstellung erhalten habe. Er sei jetzt Leiter der Hofkonzerte der Großfürstin Helene. Heute noch betrachte er das Klavier als seinen Hauptberuf, aber nebenbei habe er auch komponiert. Drei seiner Opern, denen russische Stoffe zugrunde lägen, seien in Petersburg mit Glanz und Gloria durchgefallen, er habe aber jetzt eine vierte geschrieben, den »Sibirischen Jäger«, den er jetzt in Weimar aufführen lassen möchte, nebenher wolle er aber bei dem großen Meister sein Klavierspiel noch vervollkommnen.

»Also hören wir dann mal, wie weit Sie gekommen sind, seit Sie in Paris die letzte Unterrichtsstunde von mir erhalten haben.«

Rubinstein ließ sich nicht bitten und setzte sich ans Klavier. Er spielte Chopin. Beim Zuhören schnippte Franzi mit den Fingern. Das war schon etwas. Eine beispiellose Fertigkeit, lyrischer Farbenreichtum, ein feiner und samtartiger Anschlag!

»Das ist kein Spaß, junger Mann. Das können nur drei auf der ganzen Welt. Ich, Hans von Bülow und Sie. Haben Sie Bülow schon gehört? Ein äußerst liebenswürdiger Junge und eine große Begabung. Sie müssen sich mit ihm befreunden. Er hat lange hier an meiner Seite gelebt, jetzt ist er Klavierlehrer in Berlin am Sternschen Konservatorium. Vielleicht haben Sie auch schon etwas von ihm gehört?«

»Ich habe schon von ihm gehört und bin sehr neugierig auf ihn. Noch viel neugieriger bin ich aber darauf, was Sie zu meiner Oper sagen. Darf ich sie hier lassen?«

»Ja. Und jetzt beginnen wir sofort mit der ersten Unterrichtsstunde. Gehen Sie nur weg von dort, mein Sohn, ich werde Ihnen einmal dasselbe vorspielen, was Sie gespielt haben, aber so, wie man es wirklich spielen muß.«

Er setzte sich und begann zu spielen. Er nahm sich vor, diesen jungen Russen zum Weinen zu bringen. Ob er noch die alte Kraft besaß, mit den Zuhörern zu machen, was er wollte? Er vertiefte sich in sein Spiel und warf zwischendurch immer wieder einen Blick auf den einzigen Zuhörer seines Konzertes. Der Russe lauschte und war ganz Ohr, mit einem Male fingen seine Mundwinkel an zu beben, sein Gesicht zuckte, und schon glitzerten seine Augen feucht. Er weinte.

»Haben Sie es jetzt verstanden?« fragte ihn der Meister.

»Das ist zum Verzweifeln«, entgegnete der Russe, an seinem Taschentuch herumzerrend, »das kann man ja niemals im Leben erreichen! Warum quäle ich mich denn überhaupt noch? Und warum geben Sie keine Konzerte mehr, Meister? Ist es nicht eine Sünde, das der Welt vorzuenthalten?«

»Keine Sünde, mein Sohn. Ich habe jetzt eine wichtigere Aufgabe, ich komponiere. Und ich muß aus Wagner einen Menschen machen, das heißt, ein Mensch ist er schon, ich muß aber der Welt erklären, was für einer er ist. Wie lange wollen Sie in Weimar bleiben?«

»Ich weiß es nicht, ein bis zwei Monate. Das hängt von meiner Oper ab.«

»Also hier werden Sie schon erfahren, wer dieser Wagner ist.«

»Ich möchte aber eher erfahren, wer dieser Liszt ist.«

»Sehr liebenswürdig, der anderen Frage können Sie aber hier nicht ausweichen. Hier müssen Sie Farbe bekennen, mein Sohn. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.«

Rubinstein blieb da. Noch am gleichen Tage meldete er sich auch bei der Fürstin, die ihn ebenfalls sehr liebenswürdig empfing.

Franzi war zufrieden und guter Laune; ihn erwartete eine große Freude: Daniel sollte nach Weimar kommen. Sein neu entdecktes Vaterglück hatte ihm so viel Freude bereitet, daß er seine Kinder jetzt am liebsten immer um sich gesehen hätte. Von den Mädchen konnte zwar keine Rede sein, der Fürstin wegen durfte er sie nicht hierher bringen, Daniel aber wollte er nicht entbehren.

Der Erzieher begleitete den Jungen. Mit jauchzender Freude umarmte er seinen Vater. Der Knabe war in guter Verfassung, hatte viel zu erzählen und noch mehr zu fragen. Er wurde in der Altenburg untergebracht, was aber gar nicht nach seinem Geschmack war, er wollte unbedingt auch dort wohnen, wo sein Vater wohnte, damit er ihn beim Erwachen sehen und sich des Abends mit dem Bewußtsein schlafen legen könne, daß er neben seinem Vater schlafe. Es blieb nichts anderes übrig, man mußte ihn in den »Erbprinzen« ziehen lassen. Der stolze Vater nahm ihn überall mit hin. Er stellte ihn Maria Pawlowna und dem großherzoglichen Paar vor. Er brachte ihn mit den Kindern des Großherzogs zusammen, er nahm ihn mit ins Theater zu einer Orchesterprobe, er zeigte ihm die einstigen Wohnstätten Goethes, Schillers, Herders und ließ ihn nicht von seiner Seite. Der Junge war so froh, so lieb, verriet in seinem Denken so viel Vornehmheit und Zärtlichkeit und war so frühreif in seinen Anschauungen, daß Franzis Herz vor Rührung überschwoll. Nicht ganz ohne Eifersucht betrachtete die Fürstin dieses schwärmerische, vertraute Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Sie schwieg zwar, weil ihr Taktgefühl sie zurückhielt, aber als einmal in einem vertrauten Beisammensein ihr Kopf mit geschlossenen Augen an der Brust des Geliebten ruhte, sagte sie nach langem Schweigen:

»Franzi, ich fühle, daß Sie langsam aus meiner Hand gleiten. Sie gehören mir nicht mehr so restlos an, wie früher.«

»Aber reden Sie doch keinen Unsinn. Ich werde mein ganzes Leben lang bei Ihnen bleiben, das steht felsenfest.«

»Natürlich, aber warum bleiben Sie bei mir? Weil Sie ein anständiger Mensch sind und vom Scheitel bis zur Sohle ein Kavalier? Oder aber: weil Sie mich lieben? Mir wäre es fast lieber, Sie wären ein nichtsnutziger Mensch, der mich aber so lieb hat wie seinerzeit im Grätzer Schloß. Antworten Sie jetzt nicht. Ich will nicht, daß Sie aus Zärtlichkeit lügen. Und heute ist auch noch dazu der dreizehnte, wie töricht bin ich doch, daß ich von solchen wichtigen Dingen an diesem Tage spreche.«

»Sind Sie schon wieder abergläubisch? Wie oft habe ich Sie schon gebeten …«

»Sollen wir uns wieder deswegen streiten? Ich bin eine Polin, obendrein noch eine Frau, wie soll ich da nicht abergläubisch sein?«

»Ja, ja, jeder Mensch ist abergläubisch, bei Ihnen beginnt aber die Sache schon auszuarten. Sie regen sich nur unnötig auf und bringen sich ganz durcheinander. Wenn vormittags Ihre Augen verweint sind, dann weiß ich schon, daß Sie von dem Petersburger Metropoliten geträumt haben. Nicht wahr, und jetzt bekreuzigen Sie sich schon vor Schreck, daß ich diesen alten, bösen Pfaffen erwähne? Wenn Sie jede Einladung für abends ausschlagen, dann weiß ich bestimmt, daß Ihnen eine schwarze Katze über den Weg gelaufen ist. Einmal fällt das Salz um, einmal ist es Freitag, einmal haben nachts die Möbel geknarrt … Meinen Sie denn im Ernst, daß der liebe Gott das billigt?«

Die Fürstin schwieg. Sie hörte aber nicht auf, abergläubisch zu sein. Ihr war das Schicksal jener zuteil geworden, deren Lebenslauf Gewalten ausgeliefert scheint, über die sie keine Macht haben. Ein derartig hilfloser Mensch tappt im Dunklen, er sucht die Lösung der geheimnisvollen Zusammenhänge, und wenn er auch noch von Natur aus bigott und dem Mystischen zugeneigt ist, so vermengt er seinen Aberglauben mit seinem religiösen Glauben. So war es auch mit der Fürstin. Die Angst vor ihrem Schicksal hatte sie so abergläubisch gemacht, und was früher etwa nur eine frauliche und halb scherzhafte Angst vor der Zahl Dreizehn gewesen, war jetzt zu einem blinden Glauben an das Verhängnisvolle der tausendfachen kleinlichen und lächerlichen Zufälle des Alltags ausgeartet. Ihre mütterliche Autorität der Tochter gegenüber geriet ins Wanken, und es gehörte schon ein gewisses Quantum Geduld dazu, um es ständig neben ihr auszuhalten.

Franzi aber harrte in Geduld aus. Er hätte sich selbst verachtet, wenn sich seine Anhänglichkeit deshalb auch nur um Haaresbreite vermindert hätte. Und dann hatte er auch genug zu tun. Als er sich von Daniel trennen und ihn nach Paris zur Erziehung zurückschicken mußte, setzte er sich als seelisch ganz neuer Mensch mit viel Lust und Liebe wieder an seine Arbeit. Er komponierte, er schrieb Besprechungen, er machte Reisen, um zu dirigieren, er korrespondierte mit Wagner, er beschäftigte sich mit seinen Schülern, er arbeitete den ganzen Tag. Und das war keine leichte Aufgabe, denn die leidenschaftlichen Wellen des Kreises um die »neue Musik« waren schon bis nach Weimar vorgedrungen. Langsam begann er zu bemerken, daß sich das Weimarer Publikum geteilt hatte und er bei dem überwiegend größeren Teil sehr unbeliebt geworden war. Wenn er im Theater dirigierte, vernahm sein gutes Gehör die schüchternen Proteste eines oder zweier Zuhörer, er hatte Bekannte, die ihm seit geraumer Zeit aus dem Wege gegangen waren, der neue Weimarer Hofprediger war herausfordernd kühl zu ihm, überall war irgend etwas los. Wenn das plötzlich eingetreten wäre, hätte das sicherlich seine schon seit frühester Kindheit verwöhnte Natur sehr schmerzlich berührt. Es kam aber langsam, unbemerkbar, Schritt für Schritt, so daß er sich gewissermaßen daran gewöhnen konnte. Das eine stand jedenfalls fest, daß er zu dieser Zeit zu den beliebtesten Menschen von Weimar zählte.

Er zuckte mit den Achseln, soweit es seine Person betraf. Sobald aber die von ihm vertretene Sache betroffen wurde, ließ er es nicht dabei bewenden. Hoffmann von Fallersleben, der bekannte Dichter, der seit einiger Zeit in Weimar lebte und sich mit Franzi sehr angefreundet hatte, wurde ein begeisterter Anhänger der neuen musikalischen Richtung und lehnte die Aufforderung ab, Mitglied des »Schlüsselvereins« zu werden. Dieser »Schlüsselverein« war eine Tischgesellschaft, die unter dem Vorwande wissenschaftlicher Vorlesungen lustige Bierabende veranstaltete mit allen jenen Mitgliedern, die von ihren Frauen zu dieser Gelegenheit den Hausschlüssel erhielten. Der Direktor der Weimarer Kunstsammlungen, Schöll, war Präsident und Pfarrer Dittenberger das tonangebende Mitglied. Die anderen waren kleinstädtische Honoratioren, wie der Herr Gymnasialdirektor, der Herr Oberbibliothekar und der Herr Hofrat. Dieser Schlüsselverein nun verschwor sich gegen die der Weimarer großen Tradition angeblich unwürdige neue Musik und verurteilte sie durch einen Ratsbeschluß. Die zurückweisende Antwort Hoffmanns hatte die Herren richtig in Zorn versetzt, und sie verkündeten laut und offen, daß sie von der Tyrannei Liszts nunmehr genug hätten; statt des Wagnerischen Unfuges wollten sie endlich wieder die alte schöne und für jeden genießbare deutsche Musik hören. Darauf schlug Hoffmann, der durch und durch Deutscher war, vor, daß auch die Gegenpartei einen Verein bilden müßte. Dieser Gedanke gefiel Franzi. Mit seiner Person wollte er allerdings nicht den Anstoß zu dieser Gründung geben, deshalb wurde Pohl damit beauftragt, der »Hoplit« genannte geschickte Verfasser der Wagner-Artikel. Nach längeren Vorbesprechungen wurde am Silvesterabend in der Altenburg die feierliche Gründersitzung abgehalten. Die Mitglieder setzten sich aus den besseren Theatermusikern und aus Franzis Schülern zusammen. Ihren Verein nannten sie den »Neu-Weimar-Verein«, auf den Antrag Hoffmanns, wenn auch nach langem Streit. Sie beschlossen, sich jeden Montagabend zu treffen und als Stammsitz ein Zimmer im Gebäude des Rathauses zu beantragen. Präsident: Dr. Franz Liszt, Vizepräsident: Hoffmann von Fallersleben. Die Mitglieder beschlossen, ein mit der Hand geschriebenes Witzblatt herauszugeben, das den Titel »Laterne« tragen sollte. Der Vizepräsident verlas sofort ein Gedicht, in dem er die Bestimmungen und Ziele des neuen Vereines zum Ausdruck bringen wollte. Dieses Gedicht bestand aus drei Strophen mit dem folgenden Refrain:

»Trinkt aus! Schenkt ein!
So soll es sein
Für jeden allein,
Für all' im Verein!
Anders nimmer
Trotz Philistergeschrei!
Heut und immer!
Es bleibt dabei!«

Dieses Gedicht vertonte Franzi heiter für vierstimmigen Männerchor. Am ersten Montag im Januar des Jahres 1855 konnten die Mitglieder des »Neu-Weimar-Vereins« ihr eigenes Lied schon lustig schmettern. Diese Vereinsgründung entfachte eine riesige Erregung in der Kleinstadt. Daß Liszt und Hoffmann mit Musikern des Theaters und jungen Klavierschülern einen Gegenverein zu dem alten würdigen Schlüsselverein der angesehensten Bürger zu gründen wagten, das bezeichnete Schöll, der Präsident des Schlüsselvereins, als eine empörende Nichtachtung. Wie man sich erzählte, hatte Pfarrer Dittenberger in seinem aufwallenden Zorn die Absicht, die ganze Angelegenheit in seine nächste Predigt einzuflechten. Später sah er aber doch von diesem Plan ab. Die Sensation war in der ganzen Stadt gewaltig. Mit großem Eifer versammelten sich die Mitglieder des »Neu-Weimar-Vereins« und berieten die Statuten. Sie taten das so gründlich und so heftig, daß sie jedesmal in Streit gerieten. Franzi konnte kaum Ordnung unter ihnen halten. Die Fürstin ließ schadenfrohe Bemerkungen fallen, ihr gefiel dieses regelmäßige montägliche Ausbleiben überhaupt nicht, denn sicher war damit eine große Kognaktrinkerei verbunden. Über die Schwierigkeiten des neuen Vereins erstatteten ihr die Liszt-Schüler genau Bericht.

»Sie werden schon noch zurecht kommen«, beschwichtigte Franzi, »das ist immer so, wenn man einen Verein gründet. Sie werden die Sache schon richtig anfassen, ich überlasse ihnen das getrost, weil ich jetzt andere wichtige Angelegenheiten zu erledigen habe. Lesen Sie einmal diesen Brief. Er ist von Baron Augusz, meinem ungarischen Freund, von dem ich Ihnen schon so oft erzählte habe. Er hat mir mit diesem Brief eine unsagbare Freude gemacht.«

Die Fürstin las. Der Baron Augusz erinnerte Franzi daran, daß er vor ungefähr neun Jahren dem Bischof Scitovszky in Fünfkirchen eine Messe versprochen hatte. Aus dem einstigen Bischof von Fünfkirchen sei inzwischen Ungarns Fürstprimas geworden, der in seiner Residenz Gran die herrliche neue Basilika im nächsten Sommer einweihen wolle. Zu diesem Zweck brauche man die Messe.

»Übernehmen Sie es?« fragte die Fürstin mit stürmischer Freude.

»Und ob ich es übernehme! Ich beginne sogar noch heute. Und ich werde in Gran selbst dirigieren. Ach Ungarn, liebes Ungarn … Wissen Sie, was mir eingefallen ist? Ich möchte Daniel zu dieser Einweihung mitnehmen.«

Die Fürstin wollte schnell etwas erwidern, vermied es aber nach kurzer Überlegung. In einer so ungeklärten gesellschaftlichen Lage konnte eine Frau einen Fürstprimas schwerlich besuchen. Franzi hatte den nicht vollendeten Satz erraten.

»Kopf hoch, mein Liebling. Vielleicht sind auch wir bis dahin in Ordnung. Wie schön wäre es, uns dort trauen zu lassen, nicht wahr?«


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