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Erstes Kapitel

Abgespannt und doch leicht beschwingt verließ er das Gasthaus »Zum Zeisig«. Hier hatte er Jozsi, den Zigeunerjungen, verabschiedet, der nicht lernen wollte und nur Krawatten und Parfüms im Kopfe hatte. Deshalb war es auch vollkommen zwecklos gewesen, ihn weiterhin bei Mastart in Paris zu belasten. Er schickte den Jungen also an einen stilleren Ort, nach Löwenberg, in jene kleine deutsche Stadt, wo am Hofe des Fürsten von Hohenzollern der Violinenkünstler Stern wirkte. Diesem vertraute er den Zigeunerjungen an. Aber auch von dort bekam er sehr schlechte Nachrichten. Keine Macht der Welt konnte Jozsi zum systematischen Üben zwingen.

Da führte Franzi einmal der Weg in ein Wiener Gasthaus. Als er mit seiner Gesellschaft Platz genommen hatte, stürzte mit einem Male ein Musiker aus der Zigeunerkapelle auf ihn zu, kniete vor ihm nieder und flehte ihn an, er möge Jozsi seiner Familie zurückgeben. Dieser Zigeuner war der Bruder Jozsis. Franzi hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber der Zigeuner erkannte seinen weltberühmten Landsmann sofort. Diese Szene erregte großes Aufsehen im Gasthaus. Franzi versprach dem bittenden Bruder gleich an Ort und Stelle, daß er Jozsi nach Wien kommen lassen würde, wo er selbst entscheiden solle, ob er ein Violinkünstler oder wieder Zigeuner werden wolle. Er ließ ihn tatsächlich kommen. Als Jozsi da war und erfuhr, daß er zu den Seinigen zurückkehren könne, wurde er beinahe verrückt vor Freude. Franzi verzichtete auf sein romantisches musikalisches Experiment und veranstaltete einen Abschiedsabend für Jozsi. Es wurde viel gespielt und getrunken. Jozsi selbst war so betrunken, daß er sich von seinem Gönner nicht einmal verabschieden konnte. Der Gönner trank nicht viel, gerade nur soviel, um fröhlicher Laune zu sein. Bevor er sich zur Ruhe legte, blätterte er noch in seinen Noten. Da war die spanische Serenade von Leo Festetics, die er für das Klavier umgearbeitet und aus einem schlichten Werk zu einer prächtigen Liszt-Nummer erhoben hatte. Dann besah er sich die Notenseiten der Petrarca-Sonette. In dieser Zeit trug er ständig Petrarcas Gedichte in der Tasche, er hatte sich ganz in die Liebe des Dichters zu der fernen Laura eingelebt und vertonte die klingenden Verse mit großer Hingabe und Begeisterung. Dann stöberte er in einem großen Stoß von Aufzeichnungen herum. Er trug sich mit dem Plan, eine Oper zu schreiben, ein Textbuch mit dem Titel »Sardanapal« hatte seinen Beifall gefunden, und er gedachte, es im italienischen Stil zu komponieren. Eine ganze Reihe musikalischer Skizzen hatte er schon beisammen.

Doch am Klavier, wo diese Aufzeichnungen in Gruppen geordnet lagen, erblickte er eine fremde Arbeit. Zerstreut, mit nicht allzugroßem Interesse, schlug er das Heft auf, denn derartiges strömte ihm in Massen zu.

Er sah aber sofort, daß es das neue Werk Richard Wagners, des Dresdner Kapellmeisters war, dessen »Rienzi« er seinerzeit in der Gesellschaft der Lola Montez gesehen hatte. »Tannhäuser« war der Titel der neuen Oper, Wagner sandte ihm die Partitur.

Oberflächlich, im Stehen, blätterte er darin herum. Mit der unglaublichen Fertigkeit im Partiturenlesen, die jeden musikalischen Sachverständigen überraschte, überflog er die Partitur. Sein Blick erfaßte das ganze Orchester und die ganze Bühne. Wie ein anderer Mensch die Zeitung liest, so las er die Partitur und hörte sozusagen mit den Augen die Stimmen sämtlicher Instrumente und sämtlicher Sänger zugleich.

Sonst pflegte er dergleichen schnell durchzublättern, heute aber blieb er immer wieder stehen. Er zog sich einen Stuhl heran und blätterte interessiert weiter. Endlich bezähmte er seine Ungeduld und fing an, wie es sich gehört, vom ersten Takt der Ouvertüre bis genau zum Ende zu lesen. Der leichte Sektnebel war mit einemmal aus seinem Kopf verschwunden. Er trank schwarzen Kaffee, den man ihm für die Nacht immer zubereitete, rauchte stark und verschlang den »Tannhäuser« förmlich. Als er die Partitur aus der Hand legte, erhob er sich, machte ein paar Schritte im Zimmer, dann fing er noch einmal von vorne an zu lesen, obwohl es draußen schon dämmerte.

Auch die Handlung ergriff ihn. Der Komponist hatte Geschichtliches aus der Minnesängerwelt sehr geschickt mit der alten Sage verknüpft. Das Werk behandelte den ewigen Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Liebe. Die reine Elisabeth stirbt darüber, daß Tannhäuser, ihr Ritter und Sänger, die dämonischen Wonnen des Venusberges der erhabenen Liebe vorzieht. Und als er, ohne die ersehnte Seelenruhe gefunden zu haben, von seiner Pilgerfahrt zurückkehrt, wird er an der Bahre Elisabeths ihrer großen Liebe bewußt und, durch seine Reue erlöst, folgt er ihr in den Tod. Diese Handlung ging Franzi sehr nahe, dessen Leben ein wahrer Venusberg war und der sehnsüchtig und hoffnungslos auf seine Elisabeth wartete …

Die Musik rüttelte ihn auf und riß ihn mit sich, insbesondere die Ouvertüre. Zweimal kehrte er zu ihr zurück. Als er ihren Sinn erfaßt hatte, entdeckte er in ihr immer neue Schönheiten. An dem religiösen Motiv, das dem breit angelegten Werk die Grundlage gab, konnte er sich nicht satt hören. Was für eine ausdrucksvolle Kraft lag in diesen sechzehn E-dur-Takten, die aus den Klarinetten, Trompeten und den tiefen Stimmen der Fagotts ertönten! Welch gelungenes Spiel der Kadenzen mit den Dominanten! Dann der andere Teil dieses religiösen Motives. Welch sehnsüchtiges Hasten der durstigen Seele in den aufwärtsstrebenden Linien der Celli, welch mächtig aufwärtsreißender Schwung der Sehnsucht, als im neunten Takt auch die Geigen die Melodie übernehmen! Dann übernehmen die Blasinstrumente das ganze Thema, ihr mächtiges Schmettern in den Höhenlagen begleiten die nach unten schreitenden Sechzehntel-Triolen der diatonischen Ornamente wie Flammenzungen das wogende Lager. Bis der ganze Satz stufenweise langsamer und leiser werdend zum einfachen Septim-Akkord gelangt und dann wiederum der andere Grundton des ganzen Operngedankens, das Venusmotiv der Wonne, die wollüstige, buhlende Verführung der Sirenen ertönt. Auf den schwingenden Hintergrund zeichnete der Komponist überraschende zuckende Blitze. Eine sonderbare, launische Melodie, beunruhigend und fordernd, die die Bratschen, dann die Oboen und Klarinetten verkünden. Die sinnliche Atmosphäre der Venusgrotte wogt mächtig, summt und saust, das Vorbeihuschen der Nyhmphengestalten zieht wonniglich schmerzende Arabesken im Orchester nach sich, und mitten in diese Sintflut der betörenden Orgie hinein schreit der auf dem Fis-Ton aufgebaute schrille Hilferuf der versuchten Seele. Dem Verzweifelten bringt der Coda-Satz der Ouvertüre Hilfe. Abermals erklingen die erhabenen Sätze der himmlischen Liebe, jetzt schon pulsend, sieghaft, befehlend, im leidenschaftlichen Einhersprengen der Sechzehntel förmlich einen sieghaften Einzug haltend, um den Irrenden endlich durch ihr übermenschliches Schmettern mit elementarer Kraft mitzureißen, zugleich aber die formvollendete, exakte Parallele zu dem strengen, künstlerischen Gleichgewicht der Anfangstakte bildend.

Franzi las beim Kerzenschein bis zur Morgendämmerung. Diese Ouvertüre war ein Meisterwerk! Er hatte das Empfinden, daß man durch Musik nicht ausdrucksvoller mehr sprechen könne. Wer ein Herz und Ohren hat, kann das nicht anders verstehen: den reinen, zur Liebe geschaffenen Menschen führt die teuflisch-süße Sinnlichkeit in Versuchung, er fällt. Die Sehnsucht nach seelischer Vollendung und reiner Hingabe ist aber doch stärker. Der sündige Körper verwest zwar, die Seele aber siegt und ist unsterblich. Alles das erzählte das Orchester dieses fabelhaften Tondichters so klar, verständlich und eindringlich, daß die Ouvertüre im Grunde genommen schon die ganze Oper vorwegnahm. Richard Wagner, dieser kleine Dresdner Dirigent mit den erschrocken blickenden blauen Augen und dem stark hervortretenden Kinn, dieser Richard Wagner war ein ganz großer Künstler! Alles, was er sagte, war edel und vornehm. Seine Grundgedanken, die die Gefühle kennzeichnenden Motive, entsprachen letzten Endes der fixen Idee bei Berlioz. Gewiß hatte Berlioz hier auf ihn eingewirkt und trotzdem gehörte das alles ihm ganz allein. Denn so hatte das noch niemand ausgedrückt, wie es ihm hier gelungen war.

Als Franzi am hellichten Morgen von Müdigkeit übermannt wurde, legte er sich nieder, verfiel aber nur in einen leichten Halbschlaf, und als er aufstand, war sein erster Gedanke die »Tannhäuser«-Ouvertüre. Er setzte sich ans Klavier und spielte aus dem Gedächtnis den Pilgerchor, das quirlende, funkelnde, wollüstig duftende Gewimmel des Venusberges, dann legte er die Partitur vor sich und spielte mit seinem auf der ganzen Welt einzig dastehenden Können die Oper von Anfang bis zu Ende durch. Er hatte sich nicht geirrt: mau konnte Wagner nicht nur in der stimmungsvollen, verführerischen Stunde der Morgendämmerung, sondern auch im nüchternen und kahlen Tageslicht für einen großen Künstler halten! Er war größer als jeder andere, der bis jetzt auf der Welt Opern komponiert hatte, viel größer noch als Berlioz.

Die »Tannhäuser«-Musik eroberte sein Herz, die Gedankenwelt »Tannhäusers« sein Gehirn. Diese Komposition war ihm zu einem Zeitpunkt in die Hände gefallen, als er für eine derartige Kunst am empfänglichsten war. Die Liebe zur Gräfin Liline war in seinem Herzen zu einem Heiligtum geworden, das er anbetete, wie man eines geliebten Toten gedenkt. Auch Marie lebte in seinem Gedächtnis, aber als störende und quälende Macht; die Küsse und Liebkosungen waren verschwunden und an ihrer Stelle nur ernüchternde Gewissensbisse geblieben. Und Leere. Und die Sehnsucht, daß jemand diese Leere ausfüllen möge, eine Elisabeth der vollkommenen Liebe, die niemals lügen könnte und die man auch nicht zu belügen brauchte. Die ihm das seltene und wertvolle Gefühl geben könnte, daß er nicht allem sei. Denn gerade jetzt fühlte er sich sehr verlassen. Seiner Mutter hatte er sich längst entwöhnt, und wenn auch seine kindliche Liebe im Grunde seines Herzens noch lebendig war, so war das doch eher kindliche Anhänglichkeit, als Gefühl der Gemeinschaft. Seine Kinder kannte er kaum. Er schrieb ihnen öfters und bekam auch oft von ihnen Briefe, aber der abenteuerliche Verlauf seines Lebens hatte es mit sich gebracht, daß er zu Putzi in viel engerer Berührung stand, als zu den eigenen Kindern. Er war allein, unrettbar und grausam allein, obwohl ihm der Herrgott seine Mutter erhalten, Kinder und viele Freunde geschenkt hatte und die Landstraße seines Lebens auf beiden Seiten von zärtlichem Frauenlächeln gesäumt war.

Mit seiner Familie war es ähnlich bestellt wie mit seinem Vaterland. So oft er nach Pest kam, begann sein Herz in einem glückseligen Freudenfieber zu pochen. Er vergötterte das heimische Bild der beiden Donau-Ufer; die Leute auf den Pester Straßen hätte er am liebsten wie seine eigenen Geschwister umarmt. Und ebenso lebte in ihm die Sehnsucht nach einer innigeren, berauschenderen Umarmung an der Brust einer ganzen Nation. Er sehnte sich danach, wie ein Kind nach der Brust seiner Mutter verlangt. Genau so aber, wie er seine Kinder nicht kannte, so kannte er auch sein Heimatland nicht; über die kleinsten Einzelheiten des nationalen Lebens der Franzosen hätte er einen Vortrag halten können, von der Sehnsucht, vom Stolz und von den Schmerzen Ungarns wußte er so manches Mal das Wichtigste nicht, und was man ihm dann erklärte, das verstand er nur unvollkommen infolge seiner geringen geschichtlichen Kenntnisse.

So fügte es sich in seinem sonderbaren Leben, daß er all das, was die Herzen anderer Menschen mit dem Gefühl vollkommener Einheit und Geborgenheit erfüllt, nur mit der Hoffnungslosigkeit des Verjagten tief und inbrünstig lieben konnte. Wenn er einmal von seiner Zügellosigkeit in der Liebe absah, konnte er sich mit Recht für einen treuen, braven Menschen halten. Trotzdem war er kein wahrer Vater seiner Kinder, kein wahrer Sohn seiner Mutter, kein wahres Kind seiner Heimat. Wenn er daran dachte, mit welch ehrlicher und selbstloser Hingabe er das ihm von Gott anvertraute Gebot der Kunst verkündete, wähnte er, ein Priester zu sein. Wenn er daran dachte, in welchem Wirrwarr und in welch erschreckender Verwüstung die erhabensten Gefühle seiner Seele brachlagen, dann kam er sich wie ein Zigeuner vor. Wer bin ich? fragte er sich oft selbst. Darauf konnte er sich aber keine Antwort geben. Er wunderte sich nur, wie unverständlich alles dieses war, wie er gewissermaßen Himmel und Hölle gleichzeitig in sich trug.

In Wien, wohin er aus Pest zurückkehrte, widerfuhr ihm eine große Freude: seine begeisterten Verehrer machten ihm Beethovens Klavier zum Geschenk. Mit andächtiger Liebe glitten seine Finger über die Tasten, dann seufzte er tief. Auch dieses Klavier mahnte ihn daran, daß er kein wirkliches Heim hatte, dessen schönster Schatz dieses fürstliche Geschenk sein könnte. Er konnte es nur nach Paris in die Wohnung seiner Mutter senden, wie jemand, der seine Möbel irgendwo unterbringt, denn er stand wieder vor einer monatelangen Reise. Durch die Kleinstädte Österreichs kam er wieder nach Ödenburg. Hier wählte man ihn zum Stuhlrichter. Er verstand nicht ganz, was das bedeutete. Dann fuhr er nach Köszeg. Hier wurde er Ehrenbürger der Stadt. Er besuchte abermals Raiding und schenkte seinem Geburtsort Geld in Hülle und Fülle. Dann besuchte er die kroatischen Städte und ging nach Debreczin.

Unter den verlausten, zerschlissenen, kesselflickenden, aber glücklichen und zufriedenen Zigeunern dieser Stadt entdeckte er Jozsi. Den einst so eleganten Pariser Jungen erkannte er kaum wieder.

»Willst du nicht doch lieber lernen«, fragte er ihn auf französisch, »mit hinausfahren in die große Welt?«

»Nein, nein«, rief Jozsi erschrocken und wich zu den Seinen zurück, als ob er bei ihnen Schutz suchen wollte.

Franzi lächelte nachdenklich. »Der ist nicht allein«, dachte er bei sich und überließ den romantischen Helden seines gescheiterten musikpädagogischen Versuches seinem Schicksal, um ihn nie wiederzusehen.

Er war in Fünfkirchen, wo er sich mit dem Bischof Scitovszky anfreundete. Dieser war ein sehr gebildeter Mann von vornehmem Geschmack, der die kirchliche Musik ausnehmend liebte. Er brachte auch den Gedanken auf, ob Franzi nicht für seine Landsleute eine Messe komponieren könnte. Die ungarisch-katholische Kirche habe doch ein doppeltes Recht darauf, von Franz Liszt eine Messe zu verlangen. Erstens, weil es eine ungarische, und zweitens, weil es eine katholische Kirche sei. Dieser Gedanke war ganz nach seinem Herzen. Das immer stärker werdende Gefühl seiner Verwaistheit hoffte in dieser Arbeit einen lindernden Balsam zu finden, die Möglichkeit, in einer großen, geliebten Gemeinschaft über alle sprachlichen und sonstigen Schranken hinweg aufzugehen.

In Szegszárd war er Gast des Barons Augusz. Er stahl sich einige Tage, um sich in diesem trauten Familienkreis ein wenig auszuruhen. In einer der gemütlichen Plauderstunden konnte er endlich seinen als sachlich und gescheit bekannten Freund nach etwas fragen, was ihn schon lange beschäftigte: wer war dieser Ludwig Kossuth, was wollte er und was war eigentlich zwischen Kossuth und Széchenyi los? In der letzten Zeit war der Name Kossuth in aller Munde. Er konnte aber seine Bedeutung nicht ganz begreifen, andererseits widerstrebte es ihm, seine Unerfahrenheit durch Fragen zu verraten. Baron Augusz aber war sein vertrauter Freund, vor dem brauchte er sich nicht zu schämen.

Der Baron erzählte ihm auch bereitwilligst den Lebenslauf Kossuths. Er stammte aus einer landadeligen Familie und geriet nach seiner auf dem Land verlebten Jugend, die nicht ganz makellos war, in die Landespolitik. Durch seine unwiderstehliche rednerische Begabung lenkte er bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Ein schöner Mann, der geborene Volksredner, ein wenig demagogenhaft, aber mit unbeirrbarem und unübertrefflichem Gefühl für die Wirkung seiner Worte. Er war reiner Politiker. Frei von allen Erwägungen wirtschaftlicher Art bekämpfte er die zentralisierenden Bestrebungen der Dynastie. Ohne Genehmigung der österreichischen Zensur veröffentlichte er Zeitungsberichte über den Preßburger Reichstag und wurde daraufhin zu Gefängnishaft verurteilt, was seine Volkstümlichkeit natürlich verhundertfachte. Sein Wirken drohte verhängnisvoll zu werden. Wenn er einmal genügend Einfluß erlangt haben würde, müßte es zu einem Konflikt zwischen der mächtigen Dynastie und der in kultureller und wirtschaftlicher Beziehung noch völlig unselbständigen Nation kommen. Die Politik Széchenyis dagegen beruhte auf der Grundlage des nüchternen Einmaleins. Er wollte das Ungartum zuerst stark, reich und gebildet machen, damit die Dynastie von selbst gezwungen werde, das Schwergewicht ihrer Regierung auf Ungarn zu legen.

»Schöne Reden zu halten ist natürlich viel leichter«, sagte Augusz, »als die Kettenbrücke zu erbauen.«

Er liebte es außerordentlich, fortwährend über die Kettenbrücke zu sprechen. Er verherrlichte Széchenyi und hatte den Bau der Brücke durch einen großen Betrag wesentlich gefördert. Ein Bürgerkrieg war nicht nach seinem Geschmack.

»Sehen Sie nicht so düster in die Zukunft, mein lieber Baron.«

»Ich kann mich nur auf Széchenyi berufen. Er hat mir mehr als einmal prophezeit, Kossuth werde das Land in Feuer und Blut stürzen, wenn es nicht beizeiten gelingen sollte, seine weitere politische Tätigkeit zu verhindern.«

Franzi wußte nicht recht, ob er an diese schicksalhaften Prophezeiungen glauben sollte, obwohl er Széchenyi sehr schätzte und für einen Feuergeist hielt. Der Bericht des Barons Augusz machte jedenfalls einen tiefen Eindruck auf ihn, und er dachte befremdet an Kossuth, den er nicht kannte. Über Arad, Temesvar, Lugos kam er nach Klausenburg, wo er die meiste Zeit mit seinem alten Freund, dem Grafen Teleki, verbrachte. Sein Aufenthalt in Hermannstadt war ganz der Geselligkeit gewidmet. Im Kreise der lustigen jungen Magnaten erschien ihm die ganze Welt in rosigem Licht. An einem Abend veranstaltete die Gräfin Domokos Teleki, an einem anderen die Baronin Albert Bauffy ihm zu Ehren ein Fest. Die berühmtesten Magnaten Siebenbürgens waren anwesend. Da war Graf Andreas Bethlen, der Sohn jenes Bethlen, der einst in Preßburg mit als erster seine Hilfe für die Ausbildung des Wunderkindes angeboten hatte. Da waren die Wesselenyis, Mikes, Kemenyis, Zeyks, Thorotzkays, alles schwerreiche Herren und Grundbesitzer. Die Überlieferungen ihres gebirgigen Landes sind farbiger, reizvoller und viel ursprünglicher als die der Magnaten des übrigen Ungarn. Die Abendgesellschaften wurden frühzeitig beendet, dann aber ging es erst richtig los. Die Jugend ließ irgendwoher Zigeuner kommen, und bald gab sich alles zügellosester Wildheit hin. Franzi verlangte nach dem Rausch. Seine Tage flossen im Wirbel dahin, die tobenden Erfolge seiner Konzerte und das heiße Durcheinander der ständigen Feiern hoben ihn über das wirkliche Leben hinaus. In seinem Kopf schwirrten sonderbare ungarische Lieder, denn Alexander Teleki hatte ihm von weither zwanzig der besten Zigeuner herbeischaffen lassen. Und mitten unter den Klängen des Cembalo tauchten auch hier die politischen Fragen auf. Graf Alexander Teleki sah die Dinge anders als Baron Anton Augusz.

»Es ist höchste Zeit, daß wir das ganze Land lüften. Mit dem viehischen Schicksal unserer Leibeigenen stehen wir zur Schande Europas einzig da. Ja sogar als Schande der Dynastie, der es selbstverständlich sehr bequem ist, über Millionen von Sklaven zu regieren. Diese Zeit ist aber vorbei. Vom Westen her verkündet man seit Jahrzehnten die Freiheit, und wir haben den Ruf gehört. Unsere ganze Gesetzgebung müssen wir über den Haufen werfen, die Unterdrückten wollen leben. Und sie werden es auch!«

»Was soll aber werden«, wandte Franzi ein, »wenn das nicht so glatt geht? Ich habe von vielen Seiten gehört, daß Nation und Dynastie sehr leicht in Konflikt geraten können, und das würde eine Katastrophe geben.«

»Worauf Sie sich verlassen können!« rief Teleki heftig und schlug auf den Tisch. »Es wird eine Katastrophe geben! Aber nicht für uns. Hören Sie nicht auf Augusz und Festetics, die sind ganz überzeugte Pecsovics.«

»Pecsovics? Was bedeutete Pecsovics?«

»Das ist der Gutsverwalter der Familie Festetics in Tolna, Stefan Pecsovics, der im ganzen Lande berüchtigte Rädelsführer der altkonservativen Partei. Das ganze Gut in Tolna hat er schon von den Wählern auffressen lassen. Nach ihm nennt man die Rückständigen Pecsovics. Aber ich verstehe nicht, Franzi, daß Sie noch schwanken können. Sie haben doch immer gesagt, daß Ihr Herz der Freiheit gehört. In Temesvar sagte mir Graf Guido Karacsonyi, daß …«

»Selbstverständlich, natürlich. Das sage ich auch heute noch. Ich bin nur dessen nicht ganz sicher, daß die Erlangung der Freiheit … ach, politisieren wir lieber nicht, ich werde aus alledem sowieso nicht klug. Kann der Zigeuner noch ein neues Lied?«

Die Getränke flossen in Strömen, das Cembalo, unter dessen Saiten man silberne Tabletts geschoben hatte, damit es noch lauter klinge, klirrte, der Fußboden dröhnte, – der eine Baron Kemény tanzte einen siebenbürgischen Nationaltanz, dick stand der Tabaksqualm in der Luft. Franzi kümmerte sich um nichts, legte den Arm um die Schultern Alexander Telekis und trank.

In Herrmannstadt erging es ihm, wie es ihm schon einmal in Leipzig ergangen war: er fiel durch. Hier sogar noch viel offenkundiger, denn man pfiff während des Konzerts. Das war aber keine künstlerische Demonstration, sondern eine politische. Die Sachsen fanden das Programm zu ungarisch. Franzi lächelte über den Mißerfolg, er war sogar ein wenig stolz darauf.

»Ich verstehe nicht«, sagte er zu Teleki, der ihn auch hierher begleitet hatte, »sind die Sachsen denn so ungarnfeindlich?«

»Mau wiegelt sie von Wien aus auf. Bezahlte Agenten hetzen auch die Walachen gegen uns. Daraus können Sie ersehen, wie die Dinge hier tatsächlich liegen. Schreiben Sie das ruhig an Augusz.«

»Sonderbar«, meinte Franzi nachdenklich, »mir fällt das Konzert in Rohitsch ein. Ich habe in Bad Rohitsch gespielt, die Zuhörer waren fast ausnahmslos Kroaten. Als ich eine Rhapsodie nach der anderen spielte, spendeten die Kroaten nicht nur keinen Beifall, sondern ich konnte sie auch zischen hören.«

»Auch die hetzt man von Wien aus gegen die ungarische Krone auf, das ist ja allgemein bekannt. Und was haben Sie gemacht?«

»Ich wurde zornig und spielte ihnen den Rakoczi-Marsch. Ich dachte mir: jetzt könnt ihr zischen. Sie haben aber nicht gezischt. Sie applaudierten wie die Verrückten.«

»Bravo, Franzi, Sie sind ein Ungar. Wenn Sie nur auch noch Siebenbürger wären. Alle ordentlichen Leute bei uns stammen aus Siebenbürgen.«

Sie lachten. Das Siebenbürgertum war ein alter Gesprächsstoff Telekis. Franzi verging das Lachen aber, wenn er daran dachte, daß der von Széchenyi als so gefährlich bezeichnete Kossuth ein Protestant war, der sich gegen den römisch-katholischen apostolischen König auflehnte. Zwar war auch seine alte Festigkeit schon erschüttert, mit der er seinen Glauben als den allein seligmachenden angesehen und von vornherein jeden Protestanten von seinem Herzen ferngehalten hatte. Viele an Erfahrungen reiche Jahre waren seitdem vergangen. Er hatte protestantische Freunde, denen er aus ganzem Herzen zugetan war, und kannte katholische Pfarrer, die ihn befremdeten. Dessenungeachtet aber hielt er sich immer noch für einen guten, gläubigen Katholiken.

Nach Kronstadt kam eine neue Gegend, ein bisher noch nicht gesehenes Land, Jassy, Bukarest und andere Städte Rumäniens. Dann abermals eine Landesgrenze: die wohlbekannte Uniform der russischen Grenzsoldaten. Die Ukraine. Unabsehbare Flächen unter Schnee, weiße Unendlichkeit, endlose Schneefelder und endlose Fahrten, strohbedachte kleine Häuser, sehr weit voneinander entfernt. Endlich ragten aus den näherkommenden Häusergruppen die zwiebelförmigen Türme der russischen Kirchen empor. Eine große Stadt: Kiew. Und auch hier, wie überall, das ewige Hotelzimmer, das Belloni schon im voraus bestellt hatte, darin das unentbehrliche, stets ungestimmte Klavier, auf dem Tisch eine entkorkte Kognakflasche und schwarzer Kaffee. Acht bis zehn Wartende: der ortsansässige Komponist, das Wunderkind mit den Eltern, die darbende Witwe des Musiklehrers, die zum Mittagessen einladende ungestüme Dame der Gesellschaft, eine um Andenken bettelnde Musikschwärmerin … überall dieselben Gesichter: in Brünn, Besançon, Rustschuk, Padna. Derselbe würdevolle, etwas lampenfiebrige Schriftleiter der Lokalzeitung, mit dem man auf Bellonis Flehen hin sehr liebenswürdig sein mußte. Dieselbe dreiköpfige Abordnung im Gehrock, die den wegen seines guten Herzens auf der ganzen Welt bekannten Künstler um ein Wohltätigkeitskonzert bittet, diesmal zugunsten der durch die Feuersbrunst in Odessa Verunglückten. Und dieselbe Liste, die schon die Unterschriften mit den gespendeten Beträgen zu diesem Wohltätigkeitskonzert aufweist. Fünf Rubel, sechs Rubel, zwei Rubel, fünf Rubel.

»Wer ist das?« erkundigte sich Franzi, auf einen Namen deutend, neben dem in der Liste überraschenderweise hundert Rubel vermerkt waren.

»Die Fürstin Sayn-Wittgenstein. Ich habe mich schon nach ihr erkundigt, mau weiß aber nur wenig von ihr, weil sie nicht von hier ist. Mir ist erzählt worden, daß die ukrainischen Grundbesitzer nach alter Sitte um diese Zeit nach Kiew kommen. In der ersten Hälfte des Februar pflegen sie ihre notwendigen wirtschaftlichen Besorgungen in der Stadt zu erledigen. Diese Dame war auch nur ein paar Tage hier, sie lebt getrennt von ihrem Mann und verwaltet ihr Gut allein.«

»So. Dann wäre es geraten, für dieses Geschenk persönlich zu danken. Erkundigen Sie sich einmal, wo sie wohnt, und sagen Sie ihr, daß ich gern bereit sei, ihr zum Dank etwas vorzuspielen.«

Belloni meldete noch am selben Tage, daß er die Fürstin aufgefunden und mit ihr gesprochen habe. Die Dame sei für dieses seltene Angebot sehr dankbar, zu ihrem größten Leidwesen könne sie es aber nicht annehmen, da sie kein Klavier habe.

»Gut, dann will ich mich wenigstens persönlich bei ihr bedanken. Was für eine Frau ist sie? Alt, jung, hübsch, häßlich?«

»Eine junge Frau, man kann sie aber nicht hübsch nennen.«

»Um so besser, dann kann sie es nicht mißverstehen.«

Am Tage darauf besuchte er die wohltätige Fürstin. In der Vorhalle des Hotels geleitete man ihn zu einer Dame. Mit einem einzigen Blick prägte er sich ihr Bild in seine Erinnerung ein: eine kleine, schlanke, schwarze Frau, tatsächlich nicht hübsch, aber auch nicht häßlich, einfach unscheinbar. In ihren nicht besonders reizvollen Zügen lag viel Asiatisches; es war kein tatarischer, eher ein arabischer Typus. Sobald sie jedoch den Kopf hob, war mit einem Male das Unscheinbare fort: aus ihren großen schwarzen Augen, die den Eindruck machten, als seien sie versehentlich in dieses fahle, stark gelbliche Antlitz geraten, leuchtete Verstand, Lebhaftigkeit und Wärme. Und der Bewegung, mit der sie dem Künstler ihre Hand zum Kuß reichte und einen Sitz anbot, sah man die Schule vornehmen gesellschaftlichen Lebens an. Auch ihr Französisch war untadelig.

»Sie haben nichts zu danken. Ich habe sehr gerne gegeben. Bei solchen Gelegenheiten nicht zurückstehen, ist Pflicht. Ihnen gebührt ebensoviel Dank wie mir. Sie geben Ihre Arbeit, ich mein Geld. Ihr Opfer ist zweifellos sogar viel wertvoller.«

»Durchlaucht überschätzen meinen Beitrag, wenn Sie ihn als Opfer bezeichnen. Ich helfe mit Freuden, wo ich nur helfen kann.«

Beflissen unterhielten sie sich in wohlgeformten Sätzen, die die französische Sprache für solche Unterhaltungen zu Dutzenden bereit hat. Franzi begann schon langsam zu überlegen, daß er, nun er der Pflicht der Höflichkeit genügt hatte, sich wieder erheben und verabschieden könnte. Aber in Beantwortung irgendeiner Frage erwähnte er seine Reisen, die Fürstin wollte mehr hören, er gab ihr eingehend Bescheid, und mit einem Male waren sie mitten im lebhaftesten Gespräch. Auch die Fürstin Wittgenstein war in ihrem Leben schon viel herumgekommen, obwohl sie offensichtlich noch nicht ganz dreißig Jahre alt war. Es genügte, den Namen einer europäischen Stadt, die sie beide kannten, zu nennen, dann kamen die anderen von selbst hinterher. Launenhaft waren sie auf der Landkarte Europas kreuz und quer umhergeirrt, und wenn sie entdeckten, daß sie beide eine bestimmte Trattoria in Venedig kannten, daß sie beide im Wiener Hause Metternichs verkehrt hatten, daß sie beide über den stotternden Direktor des Hotels »London« in Wien gelacht hatten, wurde der Ton ihrer Unterhaltung immer wärmer und unverbindlicher. Sie entdeckten auch viele gemeinsame Bekannte. Es stellte sich heraus, daß die Fürstin polnischer Abstammung war und die Warschauer Gesellschaft gut kannte. Es stellte sich ferner heraus, daß sie auch Berlioz kannte. Und über ihn allein unterhielten sie sich nun noch eine ganze Viertelstunde. Der für einige Minuten geplante Höflichkeitsbesuch zog sich beträchtlich in die Länge.

»Großer Gott«, erschrak die Fürstin plötzlich, auf die Wanduhr blickend, »wissen Sie, wieviel Uhr es ist? Ein Viertel nach zwei. Ich habe gedacht, es wäre erst ein Uhr.«

Sie erhoben sich gemeinsam. Die Fürstin reichte ihm die Hand. Beide zögerten. Maa mußte doch irgend etwas sagen, damit diese angenehme Bekanntschaft mit diesem Abschied nicht schon zu Ende sei. Aber Franzi schwieg. Bei solchen Gelegenheiten sagte er nie etwas. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sich einer hochgestellten Person, sei es ein Mann oder eine Frau, aufgedrängt. Dem Gesicht der Fürstin sah man an, daß sie die Angelegenheit vom gesellschaftlichen Standpunkt aus abwog, offenbar war sie mit Künstlern noch nie zusammengekommen. Schließlich sagte keiner von ihnen etwas, und sie verabschiedeten sich. Franzi wandte sich nochmals um und sah die schlanke Gestalt die Treppe hochschreiten.

Er ging nach Hause und begann zu üben. Seiner Gewohnheit gemäß legte er ein Buch auf den Notenständer. Während der langen Jahre hatte er gelernt, so mechanisch zu üben, daß er auf seine Finger nicht mehr zu achten brauchte, die arbeiteten in der Tretmühle der chromatischen Terzen gutgedrillten Sklaven gleich, während er sich in den italienischen Text der »Divina Commedia« vertiefte.

Es klopfte. Es war Belloni, nur er konnte mit diesem vereinbarten Zeichen klopfen: ein Daktylus und ein Spondeus. Franzi ließ ihn eintreten. Belloni erstattete ausführlich Bericht über den Lauf der Dinge. Franzi hörte zu und übte weiter.

»Haben Sie mit dieser Fürstin gesprochen, Meister?«

»Ja, ich habe mit ihr gesprochen. Ich bin sogar über anderthalb Stunden bei ihr gewesen.«

»Und wie fanden Sie sie?«

»Außerordentlich klug. Ich habe mich schon lange nicht mehr mit einer geistig so hochstehenden Frau unterhalten.«

Die arbeitenden Finger schwiegen mit einem Male. Franzi starrte vor sich hin und lächelte.

»Woran denken Sie, Meister?«

»An nichts.«

Er übte weiter. Für eine Sekunde ging es ihm durch den Kopf, daß die Fürstin Sayn-Wittgenstein im Gespräch angedeutet hatte, daß sie gut lateinisch spräche. Das war bei Frauen eine ziemliche Seltenheit. Einst hatte ihn eine andere Frau zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit diesen lateinischen Kenntnissen überrascht. Es war Marie …


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