Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Der russische Gesandte in Weimar, Baron Maltitz, war ein großer, stattlicher, dicker Herr, ein wahrer Koloß. Jeden Mittag konnte man ihn im Garten des Großherzogs vor der Gärtnerei langsam spazierengehen sehen, an der Seite seiner kleinen gebeugten Frau. Neben ihnen trippelte ein kleiner schwarzer Hund hin und her. Wenn Franzi ihnen begegnete, grüßten sie einander mit steifer Höflichkeit. Franzi sah in dem Gesandten den Zaren und der Gesandte in ihm den Entführer der Fürstin. Es war kaum anzunehmen, daß der Baron in der Altenburg Besuch machen würde. Und dennoch geschah es. Franzi traf ihn unten im Torbogen.

»Was ist geschehen?« Mit dieser Frage stürzte er aufgeregt in das Zimmer der Fürstin. »Warum war der russische Gesandte hier?«

»Er überbrachte mir eine Nachricht vom Zaren. Stellen Sie sich vor, der Zar läßt mir ausrichten, ich solle unverzüglich nach Rußland zurückkehren, sonst müßte ich die Konsequenzen tragen. Ich fragte Baron Maltitz, welcher Art diese Konsequenzen sein könnten, und er zögerte keine Sekunde lang, mir mitzuteilen, daß mich der Zar verbannen würde, wenn ich nicht sofort zurückkehrte. Das sei aber noch das kleinere Übel, denn ich setzte mich außerdem der Beschlagnahme meines Vermögens aus. Was soll ich nun tun?«

Sie quälten sich mit Fragen und Überlegungen, sie berieten hin und her und konnten zu keinem Entschluß kommen. Sie sprachen bei der Großherzogin vor, die aber auch keinen Rat wußte. Sie war selbst Russin und wußte sehr gut, daß die Fürstin Carolyne sich der Verbannung nach Sibirien aussetzte, wenn sie die russische Grenze überschritt. Blieb sie dagegen unerlaubt weiter in Weimar, dann verbannte sie der Zar gleichfalls, das heißt, sie durfte nie mehr am Weimarer Hof erscheinen, und die Schwester des Zaren durfte sie nicht empfangen. Endlich einigten sie sich dahin, daß die Großherzogin Maltitz zu stich bitten und mit ihm unter vier Augen die Angelegenheit besprechen wolle.

Schon nach zwei Tagen berichtete sie Franzi das Unheil: die Familie wolle unter allen Umständen die kleine Prinzessin Maria von der Mutter trennen. Und diese Forderung schien leider auch nicht ganz unberechtigt zu sein. Sie wollten das Mädchen nicht von einer Mutter erziehen lassen, die ihren Mann böswillig verlassen und ein allbekanntes Liebesverhältnis mit einem Musiker bürgerlicher Herkunft angeknüpft hatte. Franzi erschrak furchtbar, als er diese Nachricht hörte.

»Kaiserliche Hoheit, ich bitte Sie um Himmels willen, helfen Sie uns jetzt. Die Fürstin Carolyne überlebt es nicht, wenn man ihr die Tochter nimmt. Und da es um meinetwillen geschieht, vermag auch ich diese traurige Wendung nicht zu ertragen.«

»Aber, mein lieber Freund, was soll ich tun? Mir sind die Hände gebunden. Mein Bruder zürnt mir sowieso schon. Und ich muß schließlich auch einsehen, daß er sich als kluger Herrscher seines Landes ein so großes Vermögen nicht ohne weiteres entgehen lassen kann. Die Situation sieht leider ganz hoffnungslos aus. Übermorgen habe ich ja wieder Unterricht bei Ihnen, vielleicht fällt mir bis dahin etwas ein.«

Und sie fand auch Rat. Als Franzi eintrat, hielt sie ihm ein Schriftstück entgegen, einen Vertragsentwurf, den sie zusammen mit Baron Maltitz verfaßt hatte. Franzi las ihn gierig:

 

»Die aus der Ehe mit dem Fürsten Wittgenstein hervorgegangene Tochter wird der Familie ihres Vaters zurückgegeben. Wenn indessen Ihre Kaiserliche Hoheit, die Frau Großherzogin von Sachsen-Weimar geruhen würden, dieses Kind unter ihren Schutz zu nehmen und, wenn sie es für gut erachten würde, daß die Mutter seine Erziehung leitet, so würde man glücklich sein, die junge Person unter so erhabenem Schutz bis zu ihrer Volljährigkeit zu lassen, nach deren Eintritt sie nach Petersburg geschickt und unter die hohe Gönnerschaft der Kaiserin gestellt werden soll. Wenn die Fürstin W. sich wieder verheiratet, soll die Unabhängigkeit des Vermögens der Tochter aus erster Ehe durch Vertrag sichergestellt werden; dem Fürsten Nikolaus soll als Entschädigung ein Siebentel dieses Vermögens zufallen.«

 

»Ich verstehe«, sagte Franzi glücklich, »das kleine Mädchen kann ungestört bis zu seiner Großjährigkeit hierbleiben, und bis dahin ist es ja noch lange Zeit. Die Fürstin Carolyne zahlt sozusagen als Kaufpreis für ihr eigenes Kind ein Siebentel ihres Vermögens. Ausgezeichnet! Ich weiß gar nicht, wie ich Eurer kaiserlichen Hoheit für diese vorzügliche Lösung danken soll.«

»Ein anderer würde Ihnen nur erwidern, Sie hätten nicht zu danken. Ich aber sage Ihnen: Sie können mir auf eine ganz bestimmte Weise danken: setzen Sie bei meinem Mann den Gedanken der Olympiade durch. Ich und der Erbprinz sind entzückt davon, mein Mann aber befürchtet, daß es sehr viel Geld kosten werde. Sie kennen ihn ja und wissen, wie umsichtig er ist. Über die Olympiade werden wir also noch viel zu reden haben. Aber, um bei Ihrer Sache zu bleiben, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß diese Vereinbarung nur das Schicksal des Kindes berührt. Der Befehl des Zaren zur Rückkehr der Fürstin Carolyne nach Rußland ist eine Sache für sich. Und gerade in dieser Angelegenheit kann ich Ihnen leider nicht behilflich sein.«

»Wir haben in der Zwischenzeit keinen rettenden Einfall gehabt, kaiserliche Hoheit. Allem Anschein nach müssen wir in Kauf nehmen, daß man die Fürstin verbannt. Voriges Jahr war es noch unsere Absicht, in diesem Falle nach Amerika auszuwandern. Jetzt wollen wir das nicht mehr. Ich könnte Weimar nicht wieder verlassen, und auch meine Arbeit hier nicht mehr, da sie sich so schön angelassen hat. Ist es Eurer kaiserlichen Hoheit bekannt, daß wir mehrere Briefe von Theaterbesuchern erhielten, die um eine Wiederholung des ›Tannhäuser‹ nachsuchten? Ist das nicht schon ein herrlicher Sieg? Nein, komme was da kommen mag, ich kämpfe diese Sache durch, – mit der gütigen Unterstützung Eurer kaiserlichen Hoheit und des Erbgroßherzogs. Jetzt beschäftigt mich schon wieder dieser ›Lohengrin‹ außerordentlich, aber ich zögere noch damit.«

»Warum zögern Sie?«

»›Lohengrin‹ ist zu kühn. Wollen sich kaiserliche Hoheit bitte vorstellen, daß der Tenor in einem Kahn auf die Bühne kommt und daß dieser Kahn von einem Schwan gezogen wird. Zum Schluß verwandelt sich dieser Schwan in einen Prinzen. Das kann leicht komisch wirken, und wenn die Leute lachen, gibt es einen Skandal, für den ich die Verantwortung nicht übernehmen kann. Fast wäre es mir lieber, Wagner böte mir ein anderes Werk an.«

»Ich weiß nicht. Die Musik hat mich ungemein gepackt. Ich überlasse die Entscheidung Ihnen, denn ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, Ihnen auch in den schwerwiegendsten Fragen freie Hand zu lassen, da Sie des Vertrauens wert sind.«

Franzi machte sich in der Tat große Sorgen um den »Lohengrin«. Einmal schien er fest überzeugt, daß der »Lohengrin« unaufführbar sei, in der nächsten Minute schalt er sich schon wegen seiner Kleingläubigkeit: man muß an eine Sache glauben, dann gelingt sie auch. Damit Wagners Name nicht wieder in Vergessenheit gerate, setzte er für den Geburtstag der Großherzogin Glucks »Iphigenie« an, die Wagner für eine Aufführung in Dresden neu bearbeitet hatte. So hielt er sein Wagner-Programm ein und gewann doch Zeit für die Entscheidung über »Lohengrin«. Aber auch andere Komponisten ließ er nicht außer acht. So hatte Schumann kürzlich eine Oper »Genoveva« vollendet. Franzi hatte darüber gehört und gelesen und wollte das Werk nun auch selbst kennenlernen.

»Wollen Sie etwa diesen Menschen aufführen«, fragte Carolyne, »der sich Ihnen gegenüber so hinreißen ließ?«

»Nein«, entgegnete er, »ich will nicht ihn aufführen, sondern seine Musik. Und seine Musik ist gut. Ich habe Schumann auch schon geschrieben. Und nun will ich Ihnen einmal etwas sagen, meine liebe Carolyne. Bei mir sind Kunst und Glaube eins. Sobald eine künstlerische Frage in mir auftaucht, finde ich sofort eine Analogie im Bereiche des Glaubens. Und das ist mir stets ein untrügliches Zeichen, daß ich auf dem rechten Wege bin. Zur Kommunion kann man doch auch nur mit einer reinen Seele gehen? Und so kann ich nicht eher an die Musik herangehen, als bis ich den Egoismus aus meinem Herzen gerissen habe. Die Musik ist nicht dazu da, daß ich mich ihrer bediene, um persönliche Kränkungen zu rächen. Ich habe Schumann ja auch schon längst vergeben. Jeder Mensch hat seine Eigenarten und seine Mucken. Es gibt keinen Menschen ohne Fehler. Die Schrift sagt: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.«

Die Fürstin sah ihn an. Nach einer Weile sagte sie:

»In Ihnen steckt etwas Priesterhaftes. Wenn Sie kein Musiker wären, müßten Sie Geistlicher werden. Was Sie mir von Ihrer Jugend erzählten, wird mir jetzt immer verständlicher. Sie hätten auch als Priester eine glänzende Laufbahn gemacht. Zum Schluß hätte man Sie gar noch zum Papst wählen können.«

»Wie gut wäre das, dann könnte ich sofort die Scheidung Ihrer Ehe aussprechen. Aber dann könnte ich Sie ja doch nicht heiraten! Bleiben wir also ruhig dabei, ich werde kein Geistlicher, sondern ein friedliches Familienoberhaupt. Ach, dabei fällt mir ein, daß meine Mutter geschrieben hat, sie möchte mich gerne sehen. Was meinen Sie, sollen wir sie nicht zu uns nach Weimar einladen? Auch wegen der Kinder möchte ich mit ihr sprechen. Ihren Plan müssen wir unter allen Umständen verwirklichen.«

Sofort war Carolyne ganz die wohlwollende, gnädige Fürstin. Franzi empfand sogar die betonte Freundlichkeit in ihrer Stimme als etwas übertrieben.

»Aber selbstverständlich, ich würde sie sehr gern hier sehen. Es wird mir eine große Freude sein, sie persönlich kennenzulernen. Wenn Sie ihr schreiben, laden Sie sie bitte in meinem Namen ein.«

Nun folgte ein Brief dem anderen, und eines schönen Tages kam Mutter Liszt in Weimar an. Sehr sorgfältig angezogen, daß weiße Haar feierlich glatt gekämmt.

Einen ganzen Monat lang blieb sie bei ihnen. Sie wußte viel von den alten Bekannten in Paris zu erzählen. Franzi fragte sie hauptsächlich nach Chopin. Und die alte Dame berichtete ausführlich über den Tod des Freundes. Der Arme war schon seit Jahren am Sterben. Seit drei Jahren war er schon so schwach, daß ihn sein Diener jeden Abend ins Bett legen mußte. Er wohnte in einer armseligen Wohnung am Place Vendome. Alle seine Sachen hatte er nacheinander verkaufen müssen, er verheimlichte aber stolz seine Armut. Die Gräfin Delphine Potocka besuchte ihn jeden Tag, und seine Schwester Louise Chopin, die er so sehr liebte, kam aus Polen zu ihm. Wochenlang lag er reglos da, schon längst war er so schwach, daß er sich im Bett nicht einmal mehr allein aufrichten konnte. Nachdem er die Sterbesakramente empfangen hatte, verschied er um drei Uhr in der Nacht. George Sand war nicht bei ihm, dafür aber ihre Tochter. Man erzählte sich in Paris, daß der Sterbende zu ihr gesagt habe: »Deine Mutter hat mir einmal versprochen, daß ich in ihren Armen sterben werde, jetzt ist sie aber nicht da.«

»Selbstverständlich war sie nicht da«, nickte Franzi, »George muß man kennen. Auch in ihr steckt die Grausamkeit des Künstlers. Ihr ganzes Leben war sie nur darauf bedacht, die Männer zu sammeln und aufzuspießen wie Schmetterlinge. Sie spießte sie auf eine Stecknadel, beobachtete ihr ohnmächtiges Zappeln und beschrieb es dann genau. Sobald das Buch fertig war, sah sie sich nach einem anderen Manne um, um ihn gleichfalls aufzuspießen.«

»Niederträchtig!« sagte die Fürstin.

»Nicht doch. Weder niederträchtig noch nett. Das geht eben über die Grenzen des durchschnittlichen Beurteilungsvermögens hinaus. Sie war eine Künstlerin. Das Talent ist eine Menschenart für sich, es lebt nach ganz anderen Gesetzen.«

Dann erzählte Mutter Liszt von Musset. Sie hatte ihn betrunken auf der Straße torkeln gesehen. Der Arme war noch immer in George Saud verliebt und hatte sich dem Trunk ergeben. Von der Gräfin D'Agoult berichtete sie, daß sie sie nie zu Gesicht bekäme, weil sie einen großen Salon führe, in dem viele Berühmtheiten ein- und ausgingen. Ihre Kinder im Bernardschen Internat besuche sie kaum jemals. Als das Gespräch auf diese Anstalt kam, brach die alte Dame in einen förmlichen Redeschwall aus. Sie ließ kein gutes Haar an dem Bernardschen Institut. Die Verpflegung sei miserabel, einmal hätten die Mädchen sogar geklagt, daß in den Erbsen Würmer gewesen seien und das Fleisch nicht frisch gewesen sei. Die Aufsicht wäre mangelhaft, um die Zöglinge kümmerte sich niemand, lernen täten sie auch nichts, die Mädchen beherrschten nicht einmal die Rechtschreibung. Und dann seien da ein paar größere Mädchen, die den kleineren unschickliche Witze beibrächten, daß sie, die Großmutter, habe erröten müssen, als Blandine und Cosima einen Sonntag bei ihr zu Mittag gegessen hätten.

»Entsetzlich, entsetzlich«, rief Franzi, »warum haben Sie mir denn das nicht geschrieben, Mutter?«

»Du wolltest es ja so, mein Sohn, daß nicht ich sie erziehen soll.«

Es lag auf der Hand, daß Mutter Liszt hauptsächlich deswegen nach Weimar gekommen war. Sie wollte die Kinder zurückhaben. Und wenn nur die Hälfte von alledem stimmte, was sie vom Internat erzählt hatte, so waren die Töchter bei ihr tatsächlich besser aufgehoben. Jetzt stellte sich erst heraus, wie richtig Carolyne die ganze Situation beurteilt hatte. Man brauchte vor der Gräfin D'Agoult keine Angst zu haben, man mußte die Sache nur erst einmal in die Hand nehmen und zeigen, daß das Recht, über die Erziehung der Kinder zu entscheiden, dem Vater zustehe. Als Mutter Liszt aus Weimar wegfuhr, nahm sie einen Brief mit. Dieser Brief ermächtigte sie, die beiden Mädchen sofort aus dem Bernardschen Institut abzuholen. Um seine Mutter nicht zu betrüben, hatte ihr Franzi nicht mitgeteilt, daß er die Töchter nur vorübergehend bei ihr lassen wollte, bis er mit Frau Patersi, der einstigen Erzieherin der Fürstin, einig war.

Neben diesen Familiensorgen plagten ihn noch hundert andere. Seiner alten Gewohnheit gemäß lagen die Notizen zu zehnerlei verschiedenen Kompositionen auf seinem Schreibtisch. Die Instrumentation zur »Berg-Symphonie« und zu »Mazeppa«, ein Valse Impromptu, eine Mazurka, verschiedene Phantasien und die noch immer im Werden begriffene Oper »Sardanapal«. Er arbeitete abwechselnd an den Werken. Wenn er über einem müde wurde, ruhte er sich bei dem anderen aus. Auch viele Briefe waren zu erledigen, denn es war sein Grundsatz, daß jeder Brief beantwortet werden müsse. Es verging kein Tag, an dem nicht ein Bittbrief bei ihm eingegangen wäre. Alle, mit denen er im Leben je zu tun gehabt hatte, empfahlen ihm früher oder später irgend jemanden. Der eine einen vierzehnjährigen Jungen namens Wieniawski, der wunderbar Violine spielen sollte, der andere einen Diener, der eine Stellung bei Hofe anstrebte. Aus dem Strom dieser Briefe leuchtete ab und zu eine heiße Erinnerung an vergangene Tage auf: Charlotte von Hagn empfahl ihm eine junge Sängerin, Camilla Pleyel bat ihn um Noten, die Herzogin Belgiojoso gab plötzlich wieder ein Lebenszeichen von sich. Er antwortete allen in dem gleichen liebenswürdigen, höflich-kühlen Ton, der nicht mißzuverstehen war. Eine so große körperliche und seelische Gemeinschaft verband ihn mit der Fürstin, daß er sie nicht einmal in Gedanken betrog, und darüber wunderte er selbst sich am meisten. Nie hätte er von sich geglaubt, daß er dessen fähig wäre. Neben den Briefen lagen auch unvollendete Blätter literarischer Arbeiten in dem Durcheinander des Schreibtisches, den Raff nie aufräumen durfte. Sobald jemand versuchte, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu schaffen, konnte er nichts mehr finden. Es herrscht eben doch eine gewisse Ordnung in der scheinbaren Unordnung. Wie in seinem Beruf, so hielt er auch in seiner Umgebung auf Genauigkeit und klare, bestimmte Erledigung aller Angelegenheiten, die er auch stets völlig überblickte. Er hatte seine verschiedenen Arbeiten in Gruppen eingeteilt, und unter diesen bildeten die Aufzeichnungen über Chopin ein besonderes umfangreiches Bündel. Er wollte ein Buch über den verstorbenen Freund schreiben. Sein tiefes Pietätsgefühl drängte ihn, ihrer Freundschaft ein Denkmal zu setzen. Er richtete unzählige Briefe an alle Menschen, von denen er Einzelheiten über Chopin erfahren zu können glaubte, – angefangen bei Louise Chopin bis zu dem Pfarrer, der ihm die letzten Sakramente gereicht hatte. Er ordnete die Briefe und Aufzeichnungen nach bestimmten Gesichtspunkten, verwahrte sie in besonderen Umschlägen und so schritt die Arbeit langsam vorwärts. Seine schönsten und innigsten Arbeitsstunden waren jene, in denen er die Lebensgeschichte seines verewigten Freundes niederschrieb und dessen Charakterbild formte.

Zwischen all diesen Arbeiten aber ließ ihm ein Gedanke keine Ruhe: wie sollte er Wagner in Weimar weiter fördern? Sollte er es wagen, den »Lohengrin« aufzuführen oder nicht? Er wollte dem stets um Geld verlegenen, bedrängten Menschen in jeder erdenklichen Weise helfen, fürchtete aber, ihm durch die Aufführung seines Stückes mehr zu schaden als zu nützen. Schon hatte ihm Wagner geschrieben, er müsse die Partitur des »Lohengrin« verpfänden, da er sonst seine Frau nicht ernähren könne. Zwischen Paris und Zürich pendelnd, verbannt, entwurzelt, konnte er es zu nichts bringen, und helfen ließ er sich auch nicht von jedem und nur so, wie es ihm paßte. Franzi hatte ihm schon von sich aus fünfhundert Taler geschickt und ihm außerdem, allerdings unter Verschweigung seines Namens, die Instrumentation einer Oper des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha, der auch komponierte, verschafft. Und derselbe Wagner, der verzweifelt um Geld bat, der sich bitter über das fürchterlichste Elend und die aufreibendsten seelischen Kämpfe beklagte, wies diese, viel Geld versprechende Arbeit als seiner unwürdig zurück.

»Na, wissen Sie, Franzi«, ärgerte sich die Fürstin, »das finde ich ein wenig dreist. Arbeiten ist doch keine Schande. Ich will Ihren Wagner durch Vergleiche keineswegs beleidigen, wenn aber jemand zu mir kommt und eine Unterstützung haben will, und die Holzhackerarbeit, die ich ihm anbiete, ausschlägt, so ist es nur zu verständlich, daß ich ihn wegschicke.«

»Seien Sie nicht ungerecht, Carolyne. Dieser Mensch hält andächtig seine Begabung in Ehren. Das ist bei einem Künstler ein sehr, sehr gutes Zeichen. Ich meinerseits freue mich, daß er sie achtet und so und nicht anders gehandelt hat.«

Franzis Unschlüssigkeit beendete ein Brief. Wagner schrieb ihm von seiner Reise nach Paris:

 

»Lieber, soeben las ich etwas in der Partitur meines Lohengrin, – ich lese sonst nie in meinen Arbeiten. Eine ungeheure Sehnsucht ist in mir entflammt, dies Werk aufgeführt zu wissen. Ich lege Dir hiermit meine Bitte an das Herz. Führe meinen Lohengrin auf! Du bist der Einzige, an den ich diese Bitte richten würde: niemand als Dir vertraue ich die Creation dieser Oper an: aber Dir übergebe ich sie mit vollster, freudigster Ruhe. Führe sie auf, wo Du willst: gleichviel, wenn es selbst nur in Weimar ist: ich bin gewiß, Du wirst alle möglichen und nötigen Mittel dazu herbeischaffen, und man wird Dir nichts abschlagen. Führe den Lohengrin auf und laß sein Inslebentreten Dein Werk sein.«

 

Der Brief teilte außerdem noch mit, daß für die Aufführung vor allem sechsunddreißig Taler erforderlich seien. Soviel hatte seinerzeit das Abschreiben der Partitur gekostet. Er hatte es jedoch nicht bezahlen können, sondern ließ diese Summe durch den Intendanten in Dresden begleichen, der die Partitur jetzt wiederum als Pfand zurückbehielt, andererseits aber auch nicht geneigt war, die Oper aufzuführen.

Der Brief rührte Franzi. Gut. Die Aufführung sollte stattfinden, gleichviel, was dann weiter geschähe. Und Wagners nächster Brief enthielt eine ganze Reihe neuer Anliegen. Vor allen Dingen betonte er, daß man nichts streichen dürfe, daß das Werk genau so aufgeführt werden müsse, wie er es geschrieben habe, und wenn es noch so lang sei. Nur im dritten Akt solle man aus der Gralslegende sechsundfünfzig Takte streichen. Wenn wider Erwarten der Gedanke weiterer Kürzungen auftauchen sollte, gebe er zu erwägen, ob es dann nicht besser wäre, die Aufführung – wegen unzureichender Mittel – gänzlich zu unterlassen. »Sage, lieber Liszt, wie wäre es denn möglich zu machen, daß ich – inkognito – der ersten Aufführung in Weimar beiwohnen könnte? Das ist eine verzweifelte Frage …« Ja, – das war wirklich eine verzweifelte Frage. Franzi lachte und fand es ganz in der Ordnung, daß Wagner noch zehnerlei weitere Wünsche vorbrachte. Er war ein Genie und hatte ein Recht darauf, sich unter allen Umständen durchzusetzen.

Nun er sich einmal entschlossen hatte, war er mit Leib und Seele bei der Arbeit. Vor allem besprach er mit dem Intendanten, der Aufführung einen besonders festlichen Charakter zu verleihen: es sollte zum Goethe-Tag uraufgeführt werden, und zu diesem Zweck mußte das ganze Jahresprogramm umgestoßen werden. Die Sommerferien wurden in diesem Jahre früher angesetzt. Für die beiden Aufführungen des »Lohengrin« wurden die Ferien unterbrochen und dann wieder fortgesetzt. Die Zwischenzeit sollte dazu benutzt werden, den für die Goethe-Olympiade gewählten Ausschuß zusammenzurufen, damit auch diese Angelegenheit ein wenig vorwärtskomme. Vor der Uraufführung wollten sie noch ein Herder-Fest veranstalten, da das Herder-Denkmal seiner Vollendung entgegenging. Zur Erinnerung an Herder kam sein »Entfesselter Prometheus« auf den Spielplan. Zu diesem Stück wollte Franzi eine musikalische Einleitung schreiben, dann folgte die Hauptprobe und darauf die Uraufführung des »Lohengrin«, – den Prolog sollte Dingelstedt verfassen, die Presse wurde mit Mitteilungen überschüttet, das Orchester bekam zwei Violinspieler mehr, der berühmte Cellist Coßmann wurde vertraglich verpflichtet, eine Baßklarinette angeschafft, – damit Weimar das habe, was Dresden nicht besaß. Für Ausstattung und Kostüme zum »Lohengrin« wurden zweitausend Taler aus dem Jahreskostenanschlag angesetzt, ein Betrag, den man in Weimar für ein einziges Stück noch nie verwendet hatte … Hals über Kopf stürzte sich Franzi in die Arbeit.

Die Proben begannen. Franzi hatte Übermenschliches auf sich genommen: dieses Werk, mit der gänzlich ungewohnten Musik, vorzubereiten und gleichzeitig für das Herder-Fest zu komponieren. Zunächst nahm er die letztere Arbeit leicht. Er gedachte ein kurzes Orchesterwerk über den Prometheus-Gedanken zu schreiben, über diesen feuerbringenden, Licht und Wärme spendenden Geist, die Idee, die von erbarmungslosem Ungeist an den Felsen gekettet ward, deren Fesseln aber wieder abfielen. Um seine Arbeit dem Werk Herders anzupassen, begann er in einem Herder-Band zu blättern. Der Dichter, den er bisher nur oberflächlich kannte, begann ihn zu interessieren. Er fand den durchgeistigten Idealismus dieser zum Nachdenken anregenden philosophischen Dichtung, die man auch als dichterische Philosophie hätte bezeichnen können, außerordentlich anziehend. Und neben dem Prometheus-Gedanken fand er noch etwas bei Herder, was ihn fesselte: die Gestalt des Prometheus, der voreilig handelt, ohne zu überlegen. Er verstand Herder. Das kurze Werk wuchs sich mit einem Male zu einer großangelegten, hochtönenden Symphonie aus, durchwoben von einer ganzen Anzahl von Chören.

Tag und Nacht arbeitete er in dieser Zeit, er konnte kaum schlafen, vergaß es sogar sehr oft. In einem einzigen Schwung, mit einer bis zum Äußersten aufgepeitschten Seele schrieb er das Ganze, von Morgendämmerung zu Morgendämmerung. An seinem Schreibtisch erschien jeden Tag der fleißige Raff, übernahm die fertigen Teile der Komposition, ließ sich genaue Anweisungen für die Instrumentation Takt für Takt geben und ging wieder an seine Arbeit. Auch er schlief kaum. Die ganze Arbeit am Prometheus nahm nur vierzehn Tage in Anspruch. Das Herz des Tondichters lachte, als er seine Augen über die fertigen Seiten der Partitur gleiten ließ. Das war eine Arbeit ganz nach seiner Art, – diese in der ätherischen Welt der höchsten Menschheitsideale wandelnden musikalischen Gedanken, Schaffensdrang, Tätigkeitstrieb, Glaube, Erhabenheit. Er teilte die Ouvertüre in drei Sätze. Die beiden Hauptteile entsprachen dem Grundgedanken, waren das Leiden des Prometheus und seine Errettung. Diese beiden Sätze verband er jedoch durch eine Fuge, besser gesagt, eine Doppelfuge, deren zwei Themen er mit der Beschwingtheit des an Bach geschulten Meisters und mit einem geradezu teuflisch anmutenden Können ineinanderflocht. Dieser Fuge kam in seiner Vorstellung der Epimetheus-Gedanke zu. Warum sollte eine Fuge außer ihren rein musikalischen Qualitäten nicht auch einen gedanklichen Inhalt haben? Sein Entzücken über diesen auch an sich vollkommen neuen Gedanken steigerte sich bis zur Raserei. Als er fertig war und auch die Chöre schon komponiert hatte, führte er das Ganze auf dem Klavier seinem ersten Publikum vor, Carolyne. Er hatte dabei soviel zu erklären, daß er schließlich mit seiner tiefen, weichen Stimme wie ein Baritonist zu singen begann:

»Was Himmlisches auf Erden blüht,
Was Menschen hoch zu Göttern hebt,
Ihr Holdestes, ihr Seligstes ist Menschlichkeit.«

Die Fürstin hörte ihm mit hingebungsvoller Andacht zu. Ihr fehlte allerdings die Sachkenntnis, um den Zauber der Fuge voll zu würdigen, um so mehr erfaßte sie aber den gedanklichen Inhalt des Werkes.

»Franzi, das ist herrlich. Und wenn Sie mich lieben, erfüllen Sie mir eine Bitte.«

»Welche?«

»Ändern Sie die Spielfolge. Die ›Prometheus‹-Symphonie soll am Goethe-Tag aufgeführt werden, – für ›Lohengrin‹ ist ein anderer Tag auch gut.«

»Nein, mein Herz, das geht nicht. Den Geburtstag Herders kann man nicht auf den Goethe-Tag verlegen. Im übrigen gehört dieser Tag Wagner. Für ihn ist das alles vielleicht auch wichtiger als für mich. Er soll in seinem Leben noch vorwärtskommen. Meine Arbeit ist nicht an die Zeit gebunden. Ich kann warten. Wie lange? Hundert Jahre, wenn es darauf ankommt. Es ist vollständig gleichgültig, ob ich noch lebe oder nicht, wenn man meine Sachen weit und breit spielt. In diesem Augenblick bin ich weder ein Lebender, noch ein Toter, da ich vor Erschöpfung fast zusammenbreche. Ich kann aber nicht ruhen, denn im Theater wartet ›Lohengrin‹ schon.«

»Sie sind ein fürchterlicher Mensch! Es ist, als arbeiteten Sie gegen Ihr eigenes Ich. Wenn Sie den Menschen eine neue Musik offenbaren wollen, warum wählen Sie da eine fremde Musik, warum nehmen Sie für diesen Zweck nicht Ihre eigene?«

»Das ist Ansichtssache. Mir ist der Erfolg zwar nicht gleichgültig, dazu kenne ich mich zu gut. Es drängt aber nicht, wir brauchen nichts dafür zu tun. Wissen Sie, wie der Spruch Herders lautet, den der verstorbene Großherzog auf seinen Grabstein meißeln ließ? ›Licht, Liebe, Leben.‹ Das brauche ich auch – und nicht den Erfolg. Küssen Sie mich, ich muß jetzt schnell ins Theater.«

Im Theater war seine Anwesenheit mehr als notwendig, man erwartete ihn schon sehnsüchtig. Jetzt lachten die Musiker nicht mehr vor sich hin, wie beim »Tannhäuser«, da sie den ersten Erfolg Wagners nicht bestreiten konnten, aber sie verstanden seine Musik trotzdem nicht. Der italienische Belcanto saß jedem von ihnen im kleinen Finger, jede geschlossene Melodie hätten sie auswendig begleiten können, eine Lortzing-Probe war ein Kinderspiel für das so erfahrene Orchester. Aber hier sah jeder Takt ganz anders aus, als sie es sich vorstellen konnten, noch sonderbarer und noch unverständlicher als im »Tannhäuser«. Auch die sonst übliche Verteilung der Plätze mußte abgeändert werden, und das allein machte sie schon nervös. Zu den zwei Oboen kam noch das englische Horn, drei Klarinetten, drei Fagotte und drei Posaunen reihten sich nebeneinander, das ganze Orchester war aufgeregt und aufgestöbert, und kein anderer hätte es zusammenzuhalten vermocht, außer dem einen, der die ganze Partitur schon auswendig konnte, bei den Proben aber die einzelnen Sätze wiederholen ließ, weil er von der Schönheit der Klangfarben nicht genug bekommen konnte. Genau so groß war die Verwirrung unter den Sängern. Sie fühlten instinktiv, daß sie allesamt ihrer Selbständigkeit beraubt waren, daß sie keine Sterne der Gesangskunst mehr waren, sondern tyrannisch beherrschte Organe eines mächtigen, einheitlichen Künstlerwillens, den sie nur ahnten, aber ebensowenig verstehen konnten, wie Ameisen, die auf einem Denkmal hin- und herlaufen, ohne den Sinn dieser übereinandergehäuften Steine zu begreifen.

Jeder von ihnen hatte eine beispiellos schwere Arbeit zu leisten. Die schöne Rosa Agathe, die die Else geben sollte, verfiel über den unfaßbaren Schwierigkeiten ihrer Rolle in Weinkrämpfe. Fräulein Fastlingen, die die Ortrud sang, hatte sogar schon zweimal abgesagt. Genast, der Regisseur, lief wie ein Geisteskranker auf der nach frischer Farbe riechenden, von Menschen wimmelnden Bühne herum, stierte vor sich hin, hielt sich den Kopf und meinte, er würde am liebsten gleich sterben. Beck, der Darsteller des Lohengrin, der früher Bäcker war, tröstete sich mit unzähligen Krügen Bier und hatte einen dementsprechend schweren Kopf. Als er sein Kostüm bekam, geriet er in Verzweiflung, da er überzeugt war, daß man ihn auslachen würde. Die Bühnenarbeiter konnten mit dem von dem Schwan gezogenen Kahn nicht fertig werden, deshalb mußte man für sie um Mitternacht eine Sonderprobe ausschreiben, da sonst die Zeit nicht ausreichte. Jedermann war unschlüssig, unsicher, bedrückt und verzweifelt. Nur ein Mensch stand felsenfest zwischen ihnen allen und arbeitete unentwegt und unbeirrt: der langhaarige Schwärmer, dem die unbarmherzige Kraftanstrengung tiefe Furchen unter die Augen gezogen hatte. Während der letzten Tage mußte neben dem »Lohengrin« auch noch der »Prometheus« geprobt werden. Übermenschliche Nerven waren hierzu notwendig. Die überanstrengten Musiker hatten die maßlos schwierige Fuge zehnmal nacheinander falsch gespielt, und er klopfte hartnäckig ab, um sie zum elften Male von neuem beginnen zu lassen. Auf dem Heimweg von einer solchen Probe erfuhr er, daß Balzac gestorben war.

»Fürchterlich! Ich habe nicht einmal Zeit, mir darüber klar zu werden, wie sehr ich ihn geliebt habe und wie nahe mir sein Tod geht.«

Schon begann er die Pressenotizen über Wagner zu überprüfen. Eine ganze Reihe von Artikeln hatte er für die verschiedensten Zeitungen selbst verfaßt; Raff betätigte sich auch daran, und sogar die Fürstin spannte Franzi mit ein. Sie sollte drei Artikel lesen und daraus einen vierten machen.

Bis zur Herder-Feier, am 24. August, lief er wie ein Nachtwandler umher. Zu dieser Feier strömten von nah und fern die bedeutendsten Persönlichkeiten nach Weimar. Aus Paris kam Jules Janin, aus Brüssel Fétis, aus London der berühmteste englische Kritiker, Chorley, Bettina von Arnim kam mit ihren beiden Töchtern, Meyerbeer, Gérard de Nerval, der für die deutsche Romantik schwärmende Schriftsteller, und auch der junge Bülow brachte seine aufgeregte Wagnerschwärmerei mit. Weimar wimmelte nur so von Berühmtheiten. Nur Wagner war nicht da. Franzi schrieb ihm, daß er unter keinen Umständen kommen dürfe, denn dann würde er entweder den Großherzog oder sich selbst in die peinlichste Lage bringen.

Aus tiefster Brust atmete Franzi auf, als er die aus ganz Europa versammelten Berühmtheiten begrüßt hatte. Der Großherzog bat ihn zu sich, um die Liste der berühmten Gäste durchzusehen und zu besprechen, welcher Rang und welche Bedeutung jedem von ihnen zukäme, wo jeder im Theater sitzen und wie er vom Großherzog angeredet werden solle. An dieser Besprechung nahmen auch die Großherzogin und der Intendant teil. Keiner von ihnen geizte mit Anerkennung.

»Ich danke Ihnen jetzt schon für alles, Liszt«, sagte die Großherzogin, »denn mag der Erfolg der nächsten Tage sein wie er will, das eine steht jedenfalls bereits jetzt fest, daß Weimar die wahre Musikstadt Europas zu werden beginnt.«

»Sagen wir die tonangebende Stadt«, erwiderte er lächelnd.

Es war ein müdes Lächeln. Aber er ließ nicht nach. Jeden berühmten Gast begrüßte er einzeln, liebenswürdig war er bestrebt, die Gunst des bitterlich grollenden Meyerbeer zu gewinnen, heiter erinnerte er Fétis an den einstigen Krieg um Thalberg, – bei Janin erkundigte er sich nach dem Befinden vieler gemeinsamer Freunde, und die Töchter Bettinas bezauberte er mit umfangreichen Blumensträußen. Inzwischen probte er immer weiter, und noch in den letzten Minuten schrieb er Berichte für die wichtigsten Zeitungen der Weltstädte.

Die Herder-Feier gelang glänzend. Vor der Stadtkirche wurde das Denkmal enthüllt, das Publikum durfte die Wohnung Herders betreten, wo es neben vielen anderen Sachen seine von der Großherzogin Anna Amalia gestickte Hausmütze, seine Bibel und seine Schreibfeder bewundern konnte. Am Abend wurde der »Prometheus« aufgeführt. Die Ouvertüre dirigierte der Tondichter selbst. Er wurde langanhaltend gefeiert und verbeugte sich dreimal: einmal nach der Hofloge, einmal vor der blaß mit Herzklopfen dasitzenden Fürstin Carolyne und das dritte Mal vor dem Publikum. Die Aufführung übertraf alle Erwartungen. Die Darsteller des klassischen Fragments erweckten in ihren weißen Gewändern den Eindruck, als ob sie selbst ein Teil der Musik wären, die Stimmung der altertümlichen Verse griff ans Herz, die Zuhörer waren hingerissen. Die Musik wurde begeistert gepriesen. Meyerbeer nannte den Fugensatz ein Meisterwerk, Chorley war der Meinung, daß der Chorgesang der Winzer und der erntenden Bauern gleich echten Perlen unabhängig von der Zeit in der Musikgeschichte bestehen bleiben würde. Franzi interessierte sein eigenes Werk nur solange, als er daran gearbeitet hatte. Jetzt erfüllte ihn nur eine einzige Sorge: was wird mit »Lohengrin«? Auf »Prometheus« folgte ein freier Tag, und für ihn wäre es sehr wünschenswert gewesen, sich vor dem großen Ereignis einmal auszuschlafen. Er tat es nicht. Schon früh am Morgen war er auf den Beinen, arbeitete den ganzen Tag, traf Anordnungen, organisierte und bestimmte. Endlich war der Tag der feierlichen Hauptprobe herangekommen, die auf abends halb acht Uhr festgesetzt war. In den Garderoben und auf der fertiggestellten Bühne herrschte unbeschreibliche Aufregung.

»Nehmt euch zusammen«, ermahnte Franzi die Mitwirkenden, »morgen ist ein freier Tag, morgen kann sich jeder ausruhen, und übermorgen werden wir bei der Uraufführung einen Riesenerfolg haben.«

Es war genau halb acht Uhr, und er wollte gerade vor das Orchester treten. Da erhob sich vor dem Eingang Lärm. Genast, der Regisseur, kam keuchend angerannt. Er zitterte am ganzen Körper vor Aufregung.

»Es brennt! Hundert Schritte von hier brennt das Zuchthaus. Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir verschieben die Hauptprobe auf morgen. Tritt vor die Rampe und teile es dem Publikum mit. Sieh dich aber vor, daß keine Panik entsteht.«

Fast entstand aber doch eine Panik. In den Zuschauerraum hatte man glücklicherweise erst wenig Menschen eingelassen, diese drängten sich zwar kopfüber dem Ausgang zu, es wurde aber keiner verletzt. Um so größer war die Panik auf der Bühne. Die kostümierten und geschminkten Schauspieler rannten schreiend auf die Straße, so wie sie waren. Desgleichen die Musiker. Es gab sogar Schauspieler, die geschminkt und kostümiert bis nach Hause rannten. Franzi lief durch einen Notausgang in den Zuschauerraum. Er fand dort die Fürstin ruhig wartend, während sich die flüchtenden Gruppen am Ausgang drängten.

»Ich habe mich nicht gefürchtet«, lächelte Carolyne, »ich habe gewußt, daß Sie kommen.«

Franzi nahm sie liebevoll und glücklich am Arm. Sie gingen langsam auf die Straße, da war der Ausgang schon frei. Draußen stand tatsächlich das Dach eines benachbarten Hauses in Flammen, die Feuerwehr löschte aber schon fleißig. Sie blieben beide stehen und sahen sich das Feuer an.

»Es gibt einen Aberglauben am Theater«, sagte Franzi, »eine gestörte Hauptprobe bedeutet einen großen Aufführungserfolg.«

»Ich brauche keinen Erfolg mehr«, entgegnete Carolyne, »›Prometheus‹ war wunderbar. Ich bin unsagbar stolz auf Sie, Franzi.«

Tags darauf verlief die Hauptprobe ungestört. Während der Pause horchte Franzi die Gäste, Janin, Meyerbeer, Chorley, insbesondere aber Fétis aus. Eine klare Antwort wurde ihm aber von keinem zuteil. Sie antworteten ihm mit ausweichender Höflichkeit. Als ob sie sich allesamt untereinander verabredet hätten, gebrauchten sie alle dasselbe Wort »interessant«. Das weiß aber jeder Mensch am Theater, daß dieses Wort auf der Hauptprobe nicht viel Gutes bedeutet. Nur der junge Bülow strampelte aufgeregt und machte den Eindruck, als ob er sich vor Begeisterung in die eigene Faust beißen wollte.

»Gottvoll! Meister, das ist gottvoll, das verstehen nur wir beide!«

»Das ist ja gerade der Fehler, mein Sohn, daß nur wir beide es verstehen. Hoffen wir aber, daß morgen das Volk auf sein Herz hört und es einen Erfolg gibt!«

Am anderen Tage eilte er frühzeitig an die Kasse und fragte den Kassierer Sernau, wie das Geschäft gehe. Der antwortete mit saurer Miene, es würden nicht viel Karten gekauft. Das Stück habe einen schlechten Titel, wie könnte die Menschen auch so ein unverständlicher Name interessieren? Franzi eilte zur Großherzogin. Eine Viertelstunde darauf erschien an der Kasse ein Adjutant und nahm auf Anweisung der Großherzogin zweihundert Karten. Zwanzig Soldaten brachten noch im Laufe des Vormittags diese Karten an die von dem Intendanten angegebenen Adressen.

So wurde abends das Theater voll. Unter vieler Not und Mühe verlief die Uraufführung. Die vier Knappen warfen ihre Partie vollständig um, man mußte das ganze Orchester abklopfen. Auch manches andere klappte nicht, im großen und ganzen war aber Franzi mit den Schauspielern und mit dem Orchester zufrieden. Nur mit den Zuhörern war er nicht zufrieden. Der Erfolg blieb offensichtlich hinter dem Erfolg »Tannhäusers« zurück. Man spendete Beifall, man freute sich über den Kahn, man freute sich über den Schwan, auf dem ganzen Abend lastete aber eine lähmende und gleichgültige Stimmung.

Franzi und die Fürstin Carolyne trafen sich erst am nächsten Tag, da nach der Vorstellung ein großes Festmahl unter Beteiligung der ausländischen Gäste stattfand. Franzi ließ Sekt kommen. Seine schon seit Wochen gequälten Nerven verlangten nach etwas Alkohol, der ihm auch sogleich in den Kopf stieg. Wie er nach Hause gekommen war, wußte er nicht. Wie sich später herausstellte, hatte ihn der junge Bülow bis auf sein Zimmer begleitet.

»Nun, was hört man?« erkundigte sich anderntags die Fürstin beim Mittagessen.

»Es ist gleichgültig, was man hört. Das Wichtigste ist, daß unsere musikalische Richtung in der Person des Schriftleiters der ›Neuen Zeitschrift für Musik‹ einen begeisterten Förderer gefunden hat. Er heißt Brendel und ist ein fabelhafter Mensch. Er wird sich großartig äußern. Im allgemeinen wird es allerdings keine gute Presse geben. Das ist aber eher günstig. Tatsache ist, daß von heute ab die ganze gebildete musikalische Welt auf Weimar hören wird. Ich werde im übrigen noch heute an Wagner schreiben. Der Arme schrieb mir, daß er den gestrigen Tag am Rigi verbringen wolle, in Gedanken aber nur hier sei.«

»Ich bin bloß neugierig, ob er es Ihnen danken wird. Aber lassen wir das. Ich habe auch eine große Neuigkeit. Heute vormittag war der Baron Maltitz da und zeigte sich ziemlich nachgiebig. Er seinerseits ist nicht für die Verbannung, er wird dem Zaren schreiben.«

Franzi umarmte frohlockend seine Geliebte. Alle ihre Hoffnungen wurden mit einem Male wieder wach. Von diesem denkwürdigen Tage an waren sie fest davon überzeugt, daß sie aus Rußland gute Nachrichten bekommen würden. Carolyne begann sich ernstlich darauf vorzubereiten, daß sie in wenigen Monaten heiraten würden. Sie schrieb an Frau Patersi und ließ sie nach Weimar kommen, damit auch Franzi sie kennenlerne und ihr seine Kinder mit gutem Gewissen anvertrauen könne. Frau Patersi kam auch an und war längere Zeit Gast in der Altenburg, da sie inzwischen krank wurde. Franzi hatte also Zeit genug, ihre kluge, gebildete, vornehme und anständige Art kennenzulernen. Er schrieb also seiner Mutter, daß sie die beiden Töchter Frau Patersi anvertrauen solle.

»Mir tut meine arme Mutter leid«, sagte er, als er der Fürstin den Brief zu lesen gab, »das wird ihr sehr weh tun. Sie wird diesen Brief gerade an meinem Geburtstage erhalten.«

Die Fürstin setzte sich sofort hin und fügte zu Franzis Brief hinzu:

 

»Zum nächsten Geburtstag Franzis, am nächsten 22. Oktober, werde ich hoffentlich auch dem Namen nach als Ihre Tochter zu Ihnen gehören, wie mein Herz sich schon seit langem zu Ihnen hingezogen fühlt. Ich kann es gar nicht beschreiben, mit welchem Dank zu Gott für das große Glück, das mir durch Ihren Sohn zuteil wird, ich die Wiederkehr dieses Tages begrüße. Es gibt keinen Tag, der unser Glück nicht noch mehr festigte, die Fäden unserer Zuneigung nicht noch enger zöge. Verbringen Sie, liebe Mama, diesen Tag in der Gewißheit, daß Gott Ihre Kinder gesegnet hat. Ich freue mich, daß Ihr Sohn Gelegenheit hatte, Frau Patersi gründlich kennenzulernen, und ihr die jungen Mädchen zuversichtlich anvertraut. Mich erfüllt eine tiefe Freude darüber, und ich hoffe, daß auch Sie sich freuen, die Kinder in den Händen einer so klugen und liebevollen Frau zu wissen. Erlauben Sie mir, daß ich bis dahin, wo ich Sie persönlich küssen darf, dies heute in Gedanken tue und für Ihre Sie ehrfurchtsvoll liebenden Kinder Ihren mütterlichen Segen erbitte.

Ihre Tochter Carolyne.«

 


 << zurück weiter >>