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Achtzehntes Kapitel

Es war schon lange ausgemacht, daß sie sich in Zürich treffen wollten, sobald er seine Angelegenheiten in Gran, Pest, Wien und Prag erledigt haben würde. Die Fürstin war reiselustig, und Franzi wollte Wagner sehen. Er hatte sich schon lange auf die vertrauten Abende gefreut, die sie am Klavier verbringen würden. Wagner hatte von seinen vier Dramen zwei schon fertig. Und was für eine Musik dieser wunderbare Mensch geschrieben habe, das erfüllte Franzi mit einer wolfshungrigen Neugierde.

Die Züricher Tage verliefen aber ganz anders, als er sich das ausgemalt hatte. Aus den vertrauten Abenden wurde nichts. Die Fürstin bestand darauf, im »Baur au Lac« Wohnung zu nehmen, sie stellte sich eine lange Liste von allen in Zürich wohnenden berühmten Gelehrten zusammen und lud diese scharenweise ein. Die kamen selbstverständlich, warum hätten sie auch nicht kommen sollen, die Einladung der interessanten russischen Fürstin nahmen sie alle gerne an. Alsbald überflutete sie ein regelrechter Strom von Besuchen, Einladungen, Absagen, Benachrichtigungen von früh bis spät. Beglückt bewegte sich die Fürstin in diesem höllischen Durcheinander und gab Anweisungen. Mit dem Geologen unterhielt sie sich über die Erdkruste, mit dem Geschichtsforscher über die ersten Christen, mit dem Internisten über die Blutzirkulation; sie nahm die Widmung verschiedener Bücher an und war in der Rolle einer wissenschaftlichen Muse überglücklich. Franzi und Wagner aber mußten sich wie zwei Verliebte regelrecht miteinander verschwören, nur um sich eine oder zwei ungestörte Stunden zu sichern. In solchen Stunden erörterten sie die Einzelheiten des »Rheingold« und der »Walküre«. Wagner saß am Klavier, vor ihm die offene Partitur, er sang jede Rolle selbst und begleitete sie mit seiner lebhaften Darstellungskunst, während Franzi aus der Partitur das ganze Orchester dazu herauslas. Die wahllos herausgegriffenen Teile nahmen dem großen Werk zwar die einheitliche Übersicht, aber die überwältigende Größe des Ganzen konnte man auch aus dem kurzen Klaviervortrag herausfühlen. Franzi sah, daß er sich nicht geirrt hatte. Dieser ständig lamentierende, tyrannische Mensch mit seiner Launenhaftigkeit hatte das größte Meisterwerk des Jahrhunderts geschaffen!

Einheitlich und zusammenhängend lernte er nur den ersten Akt der »Walküre« kennen. Wagner und die Fürstin hatten vereinbart, zu Franzis Geburtstag im »Baur au Lac« ein großes Fest zu veranstalten. Sie hatten sehr, sehr viele Gäste eingeladen. Nach dem Abendessen nahmen die Gäste im großen Saal des Hotels Platz, das Ganze bot fast das Bild eines Konzertes. Wagner setzte sich ans Klavier, neben ihm stand eine Züricher Sängerin. Sie sang die Rolle der Sieglinde, Wagner war Siegmund und Hunding in einer Person. Im Saal verbreitete sich die verführerische Stimmung der bezaubernden Frühlingsnacht. Franzi wäre am liebsten jeden Augenblick aufgesprungen, er hätte am liebsten geschrien, gejauchzt, gelacht, oder sonst etwas angestellt, er tobte fast auf seinem Platz. Das, ja, das nannte er Musik. Er konnte in seiner Begeisterung das vier Abende in Anspruch nehmende, gigantische Gebäude des großen Musikdramas betrachten, von wo aus er nur wollte, ob er darin eine symbolische Darstellung verruchten Eigennutzes sah, oder nur auf die farbenprächtige Vielfalt des Orchesters, den Reichtum der Harmonien achtete, – er fühlte allenthalben, daß er die herrlichste Entfaltung einer majestätischen und reinen Kunst in jeder Minute des Zuhörens erlebte. Unter den Zuhörern saß auch Minna, die unglückliche Frau, die erbittert an der Last des so berühmt gewordenen Mannes trug. Auch Wesendoncks waren da. In den Augen der Frau Mathilde der verräterische Glanz ohnmächtigen Glückes. Franzi sann darüber nach, ob es überhaupt eine Frau gäbe, die die wahre Lebensgefährtin dieses unendlich großen Geistes sein könnte? Er glaubte, daß sich keine finden ließe. Höchstens eine, die in ihrer grenzenlosen Schwärmerei ihr eigenes Ich demütig verleugnend, sich, einem Schatten gleich, neben den unerhörten Glanz dieses Mannes stellen würde. Dann dachte er an sich und die Fürstin. Eine verzichtende Trauer erfaßte ihn. Die Fürstin hatte sich in den Widerwärtigkeiten des Familienstreites und der Scheidungsschwierigkeiten vollständig aufgerieben. Jetzt war es manchmal schon recht schwer, an ihrer Seite zu leben. Ihr Aberglaube steigerte sich zur schweren Krankheit, ihre Religiosität zum erschreckenden Wahn. Wenn sie einen schlechten Tag gehabt hatte, wähnte sie nachts Gespenster zu sehen. In solchen Fällen weckte sie frühmorgens ihre Tochter, und die zarte Maria mußte an ihrem Bett sitzen und ihr laut vorlesen.

»Noch lauter! Wenn du nicht laut genug liest, kommen die Geister! Noch lauter!«

Das Mädchen gehorchte. Sie las, bis die Morgendämmerung durchs Fenster leuchtete. Das laute Schreien weckte das ganze Haus, der kleine Tausig lief schelmisch grinsend in seinem Nachthemd die Gänge entlang, um die Geisterstunde der Fürstin mitzuerleben. Franzi wurde auch wach und eilte zu der erregten Frau, um sie zu beruhigen. Sie aber jammerte ununterbrochen weiter und ängstigte sich, bis es heller Tag wurde.

Auch in St. Gallen hatten sie einmal solch eine Nacht. Sie hatten mit Wagners aus Zürich einen kleinen Ausflug dahin gemacht. Alle fünf stiegen im »Gasthaus zum Krebs« ab. In der Nacht um zwei Uhr alarmierte das laute Schreien der Fürstin das ganze Gasthaus. Auf Wunsch ihrer Mutter begann Maria mit lauter Stimme vorzulesen. Franzi war auch wach geworden, drehte sich aber auf die andere Seite, er wußte schon, worum es sich handelte. In dem der Fürstin benachbarten Zimmer aber hörten Wagners ganz verzweifelt diesen Lärm an. Minna klopfte erschrocken bei der Fürstin an. Die kleine Prinzessin Manja winkte ihr, sie sollten bloß ruhig weiterschlafen, es wäre nichts Schlimmes passiert. Wagner aber tobte wegen dieser nächtlichen Ruhestörung. Er stürzte an die Klingel und läutete solange, bis er den Besitzer des Hauses endlich wach bekam. Morgens um halb drei Uhr ließ er sich ein anderes Zimmer öffnen. Aber auch dort noch wähnte er das laute Vorlesen der kleinen Prinzessin zu hören.

»Wie kannst du das bloß aushalten?« erkundigte sich Wagner, von Kopfschmerzen gequält, unausgeschlafen, am anderen Tage.

»Man gewöhnt sich an alles. Und dann hat diese Frau auch ihr ganzes Leben für mich geopfert. Sie hat ein Recht, von mir ein wenig Geduld zu erwarten.«

»Geduld, das ist in Ordnung. Aber Liebe!«

Franzi erwiderte nichts. Über diese Frage konnte er mit niemand sprechen. Er hatte gelernt, seine Liebesaugelegenheiten in sich zu verschließen, und so stark wie einst sein kindliches Mitteilungsbedürfnis war, aus dem heraus er als Junge seine Vertrauten an allen seinen Gefühlen teilnehmen ließ, so preßte er jetzt die Zähne zusammen, wenn öffentlich oder vertraulich von Frauen, die zu ihm gehört hatten, die Rede war. Die Natur Wagners war ganz anders. Es war ihm ein seelisches Bedürfnis, jemanden zu haben, dem er die intimsten Einzelheiten seines Liebeslebens und seiner Ehe anvertrauen konnte. Diesen jemand hatte er in Franzi gefunden, der nun, gewollt oder ungewollt, alles um Minna und Mathilde erfuhr. Er empfand auch eine aufrichtige Anteilnahme für den im Kerker einer erdrückenden Ehe leidenden Menschen, der mit den Tränen seiner schmerzlichen Liebe zu Mathilde Wesendonck am liebsten die ganze Welt überschwemmt hätte.

Im kleinen St. Gallen veranstalteten sie ein Konzert, eher für sich selbst, als für das Publikum. Dann trennten sie sich. Wagners fuhren zurück nach Zürich, er mit der Fürstin und Manja nach München. Carolyne war bestrebt, die Verbindung ihrer Tochter zur bayrischen Aristokratie aufrechtzuerhalten. Im Benehmen dieses Mädchens lag etwas Geheimnisvolles. Sie war eine folgsame, aufopfernde und achtungsvolle Tochter ihrer Mutter, auch Franzi gegenüber bezeugte sie eine behutsame Zärtlichkeit und zurückhaltende Innigkeit, sie lebte aber trotzdem neben ihnen wie die allerfremdeste Fremde. Und Franzi war gezwungen, die einsame Seele dieses Mädchens zu verstehen. Er war gezwungen einzusehen, daß dieses Kind sie beide verurteilte und sich sehnte, sie verlassen zu können. Die Verantwortung für die verborgenen Schmerzen der kleinen Prinzessin lastete schwer auf seinem Gewissen, und wenn er das Schicksal der Fürstin mit seinem Schicksal zusammen auch nicht mehr tragisch nahm, unter der Verantwortung vor diesem Kinde litt er ernstlich. Der kleinen Prinzessin zuliebe hätte er so gerne gesehen, wenn ihrer beider Angelegenheit endlich in Ordnung käme. Dafür war aber nicht die geringste Hoffnung vorhanden. Man mußte beinahe befürchten, daß die sichtliche Zuneigung Manjas zu dem jungen Fürsten Hohenlohe dadurch gefährdet würde. Alles das betrübte ihn sehr, und er war recht niedergeschlagen.

Viel Interessantes bot ihm München. Sie kamen oft mit dem Maler Kaulbach zusammen, der Franzi auch porträtierte und dessen Gemälde »Hunnenschlacht« ihn so sehr packte, daß er versuchte, den Eindruck in Musik umzusetzen. Seine leicht entflammte Phantasie beschäftigte sich mit der Ausarbeitung eines riesengroßen Plans: er wollte eine musikalische Weltgeschichte schreiben. Die gute Laune seiner plänereichen Begeisterung verdüsterte sich aber sofort, wenn er die stille zarte Gestalt der Prinzessin Manja ansah.

Als sie nach Weimar zurückgekehrt waren und er nach einer langen Pause die musikalische Leitung des Theaters wieder übernahm, riß ihn der Schwung der Arbeit einigermaßen mit. Das drohende Unheil brach jedoch über sie herein: die Fürstin wurde aus Rußland verbannt. Auf dem Zarenthron saß nicht mehr Nikolaus, sondern Alexander II. Und die entschlossen vorgehende Familie hatte allem Anschein nach bei dem neuen Zaren den Angriff mit aller Kraft verstärkt. In Weimar traf die Nachricht ein, daß der Zar die Fürstin Sayn-Wittgenstein wegen fortgesetzter Gehorsamsverweigerung als verbannt betrachte. Am selben Tage bat der Großherzog Franzi zu sich.

»Lieber Liszt, die Angelegenheit, die ich mit Ihnen zu besprechen habe, ist über alle Maßen heikel. Sie wissen aber, wie sehr ich Ihnen zugetan bin, außerdem sind Sie ein kluger Mann und können jeder Lage in die Augen sehen. Es handelt sich um Ihre Durchlaucht die Fürstin Carolyne.«

»Ich habe es geahnt, königliche Hoheit. Wir haben die niederschmetternde Nachricht schon erhalten. Wie ich sehe, hat die bedachtsame Familie auch den Hof nicht vergessen.«

»Ja, ich habe auch eine amtliche Mitteilung erhalten, das schafft natürlich eine gänzlich neue Situation. Bitte melden Sie der Fürstin meine unveränderte Hochachtung und mein unbegrenztes Bedauern, daß ich nicht mehr in der Lage bin, sie zu empfangen. Meine Frau und meine Mutter teilen diese Anteilnahme aufrichtig. Ich möchte aber betonen, daß das nur eine Formalität ist, die ich dem russischen Hof unbedingt schuldig bin. Und jetzt sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann, dessen Arbeit in Weimar mir so sehr am Herzen liegt.«

»Ich befürchte, königliche Hoheit, nichts. Für eine Sekunde fiel mir ein, daß man dieses Nichtempfangen vielleicht geheimhalten könnte, aber das ist ja unmöglich. Die Fürstin und ich werden uns bemühen, uns mit der neuen Lage abzufinden.«

»Ich wünsche Ihnen hierzu Kraft und Geduld. Sie sind selbstverständlich immer ein gern gesehener, lieber Gast des Hofes. Ihre Einladungen werden Sie auch künftighin in den ›Erbprinzen‹ erhalten. Daß Sie in der Altenburg wohnen, ist mir bis heute noch unbekannt. Aber, alter Freund, nur Kopf hoch. Alles kann sich noch zum Guten wenden.«

Der Großherzog legte einen Arm um Franzis Schulter und geleitete ihn so bis zur Tür. Franzi war ganz niedergeschlagen. Seinetwegen hatte man eine Frau diffamiert, die für ihn alles hingab. Niedergebrochen, mit Tränen in den Augen, kehrte er heim. Er hätte diese Audienz gern verschwiegen, aber das war nicht möglich. Die Fürstin begann heftig zu schluchzen und umarmte ihn krampfhaft wie ein Ertrinkender, der sich an den rettenden Balken klammert.

»Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt, ich habe von einem Sarge geträumt. Und gestern lagen dreizehn Eier im Korb, weil man draußen in der Küche auf so etwas nicht acht gibt. Jetzt ist es da. Franzi, Franzi, was wird aus uns werden, helfen Sie mir, helfen Sie mir!«

Er besänftigte die schluchzende Frau, so gut er konnte. Die Zerrüttung ihrer Nerven, die sich in ihrem unglückseligen Aberglauben kundgab, ging ihm sehr nahe. An diesem Tage mußte Maria schon um Mitternacht ihrer Mutter laut vorlesen. Um vier Uhr morgens war sie so erschöpft, daß sie den kleinen Tausig weckte, der seinerseits die ganze Angelegenheit als einen lustigen Streich ansah und bis morgens um sechs Uhr aus vollem Halse schrie. Erschüttert fragte sich Franzi, ob es nicht besser wäre, mit sich selbst ein Ende zu machen. Wie sollte er arbeiten und die seelische Verantwortung für alles tragen? Wie konnte er der entsetzlichen Schicksalsprüfung standhalten, die das weitere Zusammenleben mit dieser Frau ihm auferlegte? Aber da fielen ihm seine Kinder ein. Und die heilige Sache der »neuen Musik«. Und sein Glaube. Er kniete in seinem Zimmer nieder und versank in ein tiefes Gebet.

Ein Unglück kommt selten allein. Einer seiner Lieblingszöglinge, Bronsart, verließ Weimar. Diese Trennung ging ihm sehr nahe. Er schrieb ihm ein Klavierkonzert, bei dessen Schaffung er noch einen Schritt weiter gegangen war als beim Es-dur-Konzert. Er verband das Orchester mit dem Klavier zu einer noch größeren Einheit und wählte die A-dur-Tonart dazu. Mochte er an der Schöpfung dieses Konzertes noch so großen Gefallen gefunden haben, mochte es Bronsart noch so blendend spielen und genau das wiedergeben, was er sich vorgestellt hatte, – in seiner jammervollen Stimmung konnte er sich nicht einmal mehr seiner Arbeit freuen.

Dann seine Angst wegen Daniel. Der Junge hatte die Mittelschule absolviert und sämtliche ersten Preise seiner Klasen eingeheimst. Sie beschlossen, daß der Junge die diplomatische Karriere wählen und sich nebenbei im Malen ausbilden lassen solle. Jura sollte er auf alle Fälle studieren. Dafür bestimmten sie die Universität Wien, weil der Junge dann bei Eduards wohnen konnte. Als Franzi in Wien war, verbrachte Daniel einige Tage mit seinem Vater, den die fesselnde Liebenswürdigkeit und Klugheit des Sohnes über die vielen Widerwärtigkeiten der letzten Zeit einigermaßen tröstete. Da geschah eines Tages etwas, was Franzis Blut erstarren machte. Daniel bekam bei Tisch einen Hustenanfall und riß sein Taschentuch hervor. Als er es vom Mund nahm, sah Franzi zufällig hin.

»Was ist das? Zeig' mir mal das Taschentuch.«

Auf dem Taschentuch war ein blasser, rosafarbener Fleck sichtbar. Franzi wurde blaß.

»Ist das schon öfters vorgekommen?«

»Ja, ziemlich oft. Ich war schon mehrmals beim Arzt; man hat meine Lunge untersucht, hat aber nichts gefunden.«

»Hast du öfters Fieber?«

»Nur sehr selten und sehr wenig. Ein bis zwei Zehntel über Normal. Haben Sie keine Angst, Vater, mir fehlt nichts.«

Franzi konnte an diesem Tage nicht schlafen. Andauernd mußte er an seinen Bruder denken, den er nie gekannt hatte, und den eine Lungenkrankheit in zartestem Alter ins Grab gebracht hatte. Dann tauchte auch die tragische Vision Chopins vor ihm auf … Daß diesem angebeteten Sohne etwas widerfahren könnte, daran wagte er überhaupt nicht zu denken. Daniel wollte auch noch nach Berlin fahren, um seine Schwestern zu besuchen. Deshalb schrieb Franzi einen langen Brief an Frau Bülow, daß sie Daniel von den besten Professoren untersuchen lassen solle. Einen Brief gleichen Inhaltes richtete er auch an Eduard nach Wien. Als er sich von seinem Jungen verabschiedete, zitterte seine Hand aufgeregt, während er sie immer und immer wieder auf Daniels Kopf legte. Sowohl aus Wien als auch aus Berlin traf in kurzer Frist die Antwort ein: die Professoren hätten keine ernste Krankheit entdecken können. Sie hätten hingegen den Organismus des Knaben nicht widerstandsfähig genug gefunden.

Dann kam das Konzert in Leipzig. Er gab es zu einem wohltätigen Zweck: zugunsten des Unterstützungsfonds der Musiker. Darum hatte man ihn ersucht, und er konnte bei solchen Gelegenheiten nie »nein« sagen. Den ganzen zweiten Teil des Programmes bestritten seine eigenen Werke. Die »Préludes« gefielen ganz gut. Der »Mazeppa« aber fiel durch. Nicht nur, daß er keinen Beifall erhielt, die schrillen Schläge der Becken lachte man sogar laut aus, während des Weiterspielens zischte man, und mehrere Pfiffe wurden auch hörbar. Das altmodische und halsstarrige Leipzig hatte die Ziele der neuen Musik hart zurückgewiesen. Wenn das der einzige Skandal gewesen wäre, so wäre das noch zu verschmerzen gewesen. Am anderen Tage aber ergriff die Presse das Wort. Die Musikkritiker hatten sich offensichtlich verabredet, mit der neuen Richtung nunmehr ein für allemal Schluß zu machen. Mit einer noch nie dagewesenen Leidenschaftlichkeit und Grobheit griffen sie die Musik Liszts an.

»… der berüchtigte Nichtkomponist, dessen Tonschmierereien direkt eine Herausforderung zum Zischen und Pfeifen bedeuten …« Der frühere Ton der Achtung, den bis jetzt sogar seine Feinde gewahrt hatten, war nirgends mehr vorhanden. Man riß ihn herunter, man schmähte ihn, man würdigte ihn herab. Diesen Ton hätte er allenfalls verdient, wenn er einen Mord begangen hätte. Die Kritiken der Leipziger Presse wurden von sämtlichen deutschen Zeitungen übernommen; alle brachten lange Berichte über den Skandal im Gewandhaus. Das gab wiederum Gelegenheit zu neuen theoretischen Erwägungen. Innerhalb von zwei Wochen protestierte die Presse des ganzen Landes mit schäumendem Zorn gegen das unmusikalische Attentat dieses frechen Stümpers. Aus zahlreichen Städten liefen entschuldigende Briefe ein: man habe eines seiner Werke aufführen wollen, im Hinblick auf die allgemeine Stimmung halte man das aber für unmöglich.

Der Pressefeldzug blieb auch nicht innerhalb der deutschen Grenzen. In Wien war die Aufführung der »Préludes« festgesetzt. Franzi erwartete viel davon. In Wien liebte man ihn sehr, erst neulich hatte man ihm den Lorbeerkranz Mozarts auf das Haupt gelegt. Und der führende Mann der Musikkritik war jetzt der junge Hanslick, der sich schon früher für die sogenannte Programmusik eingesetzt hatte, wie einzelne die neue Musik bezeichneten. Vor zwei Jahren hatte Hanslick ihm noch einen begeisterten Brief geschrieben, deshalb erwartete Franzi jetzt von ihm und von der Wiener Presse eine Genugtuung für die ihm allgemein angetane Schmach. Die »Préludes« wurden aufgeführt. Die Wiener Zeitungen trafen in Weimar ein. Mit Ausnahme einer einzigen Zeitung griffen ihn alle anderen heftig an. Sie forderten ungeduldig, daß dieser wichtigtuerische Mensch endlich aufhören solle zu komponieren, da er gar keine Begabung dazu habe. Am schärfsten äußerte sich Hanslick. Mit grausamem Hohn analysierte er die symphonische Dichtung und, auf das Triangel anspielend, nannte er das Ganze Kling-Klang-Musik. Außer den Zeitungen kam auch ein Brief von Eduard an, der gestand, daß sich die bisherigen Anhänger Franzis zurückgezogen hätten; die allgemeine Stimmung sei bereits vor dem Konzert so mörderisch gewesen, daß die meisten seiner Freunde sich ferngehalten hätten, um nicht auch noch mit in diesem Angriff hineingezogen zu werden. Der Bankier Simon Löwy zum Beispiel, der bisher immer den begeisterten Liszt-Schwärmer gespielt habe, hätte ihn auf die auffallendste Weise im Stich gelassen, er habe nicht seinen gewohnten Platz eingenommen, sondern sich in den hinteren Reihen versteckt, als er die allgemeine Stimmung wahrgenommen hätte.

Franzi wurde über diesen Vorkommnissen von einer Hautkrankheit nervösen Ursprungs befallen, deren Natur die Ärzte nicht zu erkennen vermochten. Seinen ganzen Körper überfiel ein quälendes und schmerzendes Jucken, an den Füßen entstanden große Geschwüre unbekannter Herkunft. Er, der auf Sauberkeit und Gesundheit sein ganzes Leben lang eitel bedacht war, wälzte sich, von widerlichem Schorf bedeckt, in seinem Bett, sich vor sich selbst ekelnd. Zu gleicher Zeit erkrankte auch die Fürstin, bei ihr stellten sich Gichtschmerzen ein. Sie hatte aber auch mit den Nerven zu viel zu schaffen gehabt. Seit sie der Weimarer Hof nicht mehr empfing, war es dreimal vorgekommen, daß ihre besten Bekannten sich vor ihr verleugnen ließen, als sie ihnen einen Besuch machen wollte. Da beschloß sie zusammen mit Franzi, alle gesellschaftlichen Beziehungen zu den Weimarer Familien abzubrechen. Die Fürstin wurde jedoch krank darüber. Jetzt lag sie in ihrem Zimmer und Franzi in dem seinen. Keiner konnte sich rühren. Sie verständigten sich nur durch Briefe. Diese Briefe konnten aber nichts weiter als traurige, tröstende Worte für die vielen Bitterkeiten bringen.

Im Frühjahr war Franzi zwar noch krank, konnte aber bereits wieder aufstehen. Eines Abends mußte er beim Niederrheinischen Musikfest dirigieren. Zweimal hatte er schon abgesagt, zum dritten Male kamen aber die Aachener mit einer Deputation zu ihm. Da ging er hin. Er hatte schon von vornherein Angst, was nun wieder geschehen würde, der krankhafte Aberglaube bei Fürstin steckte auch ihn schon langsam an. Er wußte, daß eine verschwindend kleine Minderheit Hiller für dieses Fest als Dirigenten hatte gewinnen wollen, deshalb zögerte er, sofort zuzusagen. Und tatsächlich: als Hans, der gleichfalls gebeten war, das Es-dur-Klavierkonzert zu spielen begann, gellte im Zuschauerraum ein scharfer Pfiff. Franzi sah sich um und glaubte zu träumen. Hiller pfiff auf einem Hausschlüssel. Dieser Pfiff war ein verabredetes Zeichen, eine nicht endenwollende Katzenmusik von Pfiffen und Zischen folgte. Abermals Hiller! Der liebe, gute Hiller der Pariser Jahre. Der einstige Freund gab sich jedoch mit dem Pfeifen noch nicht zufrieden. In der Kölnischen Zeitung schrieb er über dieses Musikfest einen Artikel, und zwar offen unter seinem Namen, nicht wie einst in den Flugblättern anonym, und überschüttete Franzi mit den widerwärtigsten Beschimpfungen.

Franzi versuchte in seinen Kindern Trost zu finden: Hans und Cosima standen kurz vor ihrer Hochzeit. Am 18. August ließen sie sich trauen. Franzi dachte, daß er an diesem Tag für alle seine Leiden entschädigt werden sollte. Statt Daniel aber kam nur ein Brief: der Junge hatte hohes Fieber. Zu gleicher Zeit traf auch ein Brief von der Gräfin D'Agoult ein, die in ihrem Zorn, daß diese Ehe ohne sie zustande gekommen war, verlangte, daß Blandine sofort zu ihr übersiedeln solle; für die Ehe Blandines wollte sie sorgen. Der geprüfte Vater konnte nicht mehr kämpfen, und der Mutter konnte er die Tochter auch nicht vorenthalten. Kurz nach der Hochzeit fuhr Blandine in die Schweiz, wo sie ihre Mutter erwartete.

Für September mußte er in Weimar ein Musikfest vorbereiten. Dieserhalb hatten er und die Fürstin einer Einladung Folge zu leisten. Auch der Pfarrer Dittenberger, dem die Fürstin persönlich noch nicht begegnet war, befand sich in der Gesellschaft. Man wollte ihn der Fürstin verstellen. Der Pfarrer, die Seele der »Schlüsselgesellschaft«, der den längst wieder eingeschlafenen »Neu-Weimar-Verein« nicht hatte vergessen können, antwortete:

»Es ist mir nicht möglich, mit einer Dame zu verkehren, gegen die ich amtlich vorzugehen gezwungen wäre, wenn sie zu meiner Gemeinde gehörte.«

Franzi hörte die Antwort. Er wurde vor Zorn weiß wie die Wand. Schon war er im Begriff, auf den Pfarrer loszugehen, um ihn zu züchtigen. Da sah er aber des Pfarrers Rock und beherrschte sich. Er mußte diese Bemerkung schlucken.

Zum Musikfest lud er auch Joachim ein, den geliebten Freund, auf den er noch rechnen konnte, den gottvollen ungarischen Geiger. Joachim hatte monatelang in der Altenburg bei ihm gewohnt, sie waren gemeinsam in Zürich bei Wagner gewesen, und außerdem verband sie auch noch eine persönliche Zuneigung.

»Ich habe wenigstens noch vereinzelt Freunde in dieser häßlichen Welt«, sagte Franzi.

Statt Joachim kam aber ein ablehnender Bescheid und ein Teil des Briefes lautete: »Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein Fassungsvermögen aus dem Geist unserer Großen seit früher Jugend als Nahrung sog. Wäre es denkbar, daß mir geraubt würde, daß ich je dem entsagen müßte, was ich aus ihren Schöpfungen lieben und verehren lernte, was ich als Musiker empfinde, Deine Klänge würden mir nichts von der ungeheuren vernichtenden Öde ausfüllen.«

»Ich wundere mich über nichts mehr, ich bin bloß neugierig, was noch kommen kann!«

Der hundertste Geburtstag des Herzogs Karl August fiel auf den 3. September. Das sollte ein großes Fest werden, denn an diesem Tage wurde das gemeinsame Denkmal von Goethe und Schiller vor dem Theater enthüllt. Eduard kam auch aus Wien. Franzi geleitete die Fürstin bis ins erste Stockwerk eines am Platze liegenden Hauses; für einige auserwählte Damen der Gesellschaft hatte man hier Fenster freigehalten. An der Tür küßte Franzi der Fürstin die Hand und schritt auf die Tribüne zu. Er war aber dort noch gar nicht angelangt, als er bemerkte, daß die herandrängende Menge sich nach ihm umwandte. Er drehte sich um. Carolyne eilte ihm weinend nach. Hinter ihr kam ganz erschrocken Frau von Schorn, die einzige vornehme Weimarer Dame, die ihr die Freundschaft bewahrt hatte.

»Was ist geschehen?«

»Als ich ans Fenster ging«, klagte Carolyne, »standen schon mehrere Damen da, und als sie mich sahen, blickten sie sich gegenseitig an, grüßten mich nicht und gingen an ein anderes Fenster. Ich bin eine Aussätzige in Weimar. Man will schon nicht einmal in einem Fenster mit mir zusammenstehen …«

Sie schluchzte weiter. Franzi küßte ihr die Hand.

»Gehen Sie jetzt nach Hause. Frau von Schorn wird so gut sein und Sie begleiten. Ich werde meine Angelegenheiten schnell erledigen und dann zu Ihnen kommen.«

Die beiden Damen entfernten sich, Franzi eilte auf die Tribüne. Als die Hülle des bronzenen Denkmals der beiden Dichter fiel, sprang Franzi von der Tribüne herunter und lief nach Hause. Die Fürstin saß in einem Lehnstuhl und schluchzte noch immer.

»Franzi, wir werden nie einander gehören. Der kleine Tausig hat die Ikone fallen lassen, die ich immer in meinem Zimmer aufbewahrt habe. Die Ikone ist heruntergefallen, jetzt ist alles aus.«

Sie weinte. Franzi stand schweigend vor ihr. Und er war sich darüber klar, daß er diese einst so geistreiche Frau, jetzt ein unglückliches Nervenbündel, heiraten mußte, wenn nur ein Hauch Ritterlichkeit in ihm steckte, daß er sein ganzes ihm noch verbleibendes Leben mit ihr zu verbringen die Pflicht hatte.


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