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Neunzehntes Kapitel

Das große Werk Dantes lag auf dem Klavier. Die Bleistiftstriche und die umgebogenen Ecken wiesen auf einzelne ausgewählte Strophen hin. In der schweren Zeit des Leidens hatte er das Gefühl gehabt, schreien zu müssen. Der Schmerz braucht den Aufschrei, um ertragen werden zu können. Unzählige alte Aufzeichnungen lagen herum, kaum lesbare Bemerkungen zu einzelnen Motiven, instrumentale Gedanken für einzelne Teile des Werkes, kühne Harmonien einzelner Übergänge zwischen zwei Tonarten, – ein anderer hätte sich da nicht zurechtgefunden. Aber sein seltenes musikalisches Gedächtnis kannte den Zweck jeder Notiz, obwohl er das alles schon in Woronice geschrieben hatte.

»Durch mich geht's ein zur Stätte des Entsetzens,
Durch mich geht's ein zur ewigen Qual,
Durch mich geht's ein, wo die Verdammten hausen/

Vor dem Tore der Hölle gellt der schmerzliche Schrei mit dreimaligem Anlauf; inmitten von erschauernden Trommelwirbeln und dumpfen Paukenschlägen gelangt die Musik zu dem fürchterlichen Ausruf:

»Ihr, die Ihr eingeht, laßt hier jedes Hoffen!«

In die allgemeinen Wehelaute der Blasinstrumente schleudern die Trompeten und Posaunen die entsetzliche Wahrheit des gefällten Urteils heraus, und im Wirbelsturm des Tremolo der Streicher klingt immer und immer wieder von neuem die völlige Trostlosigkeit auf. Das grausige Schauspiel der Hölle beginnt. Im Orchester erhebt sich, chromatisch abwärtslaufend, ein winselnder, stöhnender Orkan. Das Röcheln zähneknirschenden Zornes, das Dröhnen von Faustschlägen, der Wirbelwind heiserer Schreie steigert sich zur Raserei, bis der Meister endlich über den fünf Linien vermerkt: Allegro frenetico. Nun wechseln, meisterhaft ineinander verflochten, die zwei Höllenmotive ab, während im Hintergrund fortwährend das verhängnisvolle » Lasciate ogni speranza« dröhnt. Aus der gähnenden Finsternis tauchen Paolo und Francesca auf, die Klarinetten und Flöten verkünden schluchzend ihre Leiden, um sie herum der heulende Wind der Harfen und Violinen. Alsbald erdrückt aber das furchtbare Getümmel der Hölle, in das plötzlich die Gott lästernde, wilde Freude Satans hineinkreischt, ihre rührenden Klagen. Triumphierend im Bewußtsein der unüberwindlichen Kraft des Urschlechten stößt Fausts Mephisto dieses Gewieher aus, und unbarmherzig ertönt zum Schluß noch einmal das markerschütternde Posaunenschmettern der entsetzlichen Trostlosigkeit.

Es folgte der zweite Satz, das Purgatorium. Das d-moll wird abgelöst durch Sextakkorde in D-dur. Der Meister gab auch eine Anleitung, wie man es lesen solle: »Ein wunderbar leises, das Gemüt beruhigendes Säuseln läßt uns das in ewiger Klarheit wogende Meer erträumen. Man denkt dabei an ein Schiff, das über seinen Spiegel gleitet, ohne seine Wellen zu brechen. Die Sterne erbleichen vor dem nahenden Glanz der Sonne. In wolkenlosem Blau wölbt sich der Himmel über der weihevollen Stille, in der wir den Flügelschlag des Engels zu vernehmen glauben, der über das Meer der Unendlichkeit dahinschwebt.« Die Oboe, das Englischhorn und die Flöten hauchen leise Andacht. Dann ertönt wehmütiges Schluchzen, aus dem Orchester tauchen die demütigen Gestalten des zehnten Purgatorio-Gesanges auf. Die Qualen der inneren Zerknirschung laufen in einer Fuge zusammen und zerfließen in tränenschwerer Läuterung.

Sollte der dritte Teil das Paradies sein? Nein. Dante hatte vielleicht die Seligkeit des Paradieses in sich gefunden. Der gebrochene, verratene, beraubte, von Schicksalsschlägen und Krankheiten heimgesuchte Weimarer Tondichter konnte kein Paradies schreiben. Er drang mit seiner Musik nicht in die hohen Sphären ein, er blieb auf der Erde und betete zu dem Unerreichbaren. Der dritte Teil sollte also »Magnificat« heißen. Er getraute sich nicht, das Glück zu schildern, denn das hätte ihm viel zu weh getan; nur im inbrünstigen Gebet fand er Erleichterung.

Wie sollte es aber enden, das neu begonnene Leben, die sichere Tatkraft des durch das Gebet geläuterten Menschen? In einem gedrängten, mächtigen Fortissimo? Oder sollte die vollkommene Hingabe an das Gebet in ätherischen Höhen leise ausklingen? Er zögerte. Die Fürstin setzte sich für den ersten Schluß ein, Wagner riet zum zweiten. Franzi konnte sich nicht schlüssig werden. Er schrieb also beide Schlußsätze. Mochte jedes Orchester den ihm mehr zusagenden wählen. Auf die erste Seite des gesamten Werkes schrieb er die Widmung an Wagner: »Wie Virgil den Dante, hast Du mich durch die geheimnisvollen Regionen der lebensgetränkten Tonwelten geleitet. Aus innigstem Herzen ruft Dir zu: › Tu se lo mio maestro, e'l mio autore!‹ Und weihe Dir dies Werk in unwandelbarer getreuer Liebe. – Weimar – Ostern – 59.«

Seit der Graner Messe hatte er an diesem Werke gearbeitet. In dieses Werk legte er die höllischen Schmerzen all seiner Enttäuschungen hinein, in diesem Werk gestand er sich selbst seine menschliche Unzulänglichkeit, in dieses Werk flüchtete er erleichtert mit der kindlichen Reinheit des Gebetes. Er hatte das Gefühl, ein ganz anderer Mensch geworden zu sein, seit er die letzten Notenköpfe schrieb. Er hatte Dantes Welt des Leidens, der Buße und der Erhebung durchschritten. Diese Gebiete der Seele, die nur wenigen bewußt werden, hatten sich ihm erschlossen. Das Confratertum der Pester Franziskaner ging ihm nicht wieder aus dem Sinn. Er wußte sehr gut, daß dieses drittgradige Mönchtum nicht mehr bedeutete als die Ehrenmitgliedschaft in irgendeinem Verein. Und doch betrachtete er heimlich diesen Zustand als symbolische Zuflucht vor den Schicksalsschlägen der Welt.

Jetzt trug er auch seine Leiden schon geduldiger. Und er erlebte auch manche Freude. Cosima und Hans waren sehr glücklich; von Blandine kam gute Nachricht. Sie hatte im geheimen schon lange für einen jungen Mann geschwärmt. Er hieß Emil Ollivier und war ein begabter, ehrgeiziger junger Rechtsanwalt von angenehmem Äußeren, kurz und gut ein ganzer Kerl. Marie hatte Blandine geschickt den Weg geebnet, der junge Mann fing Feuer, und Franzi erhielt eines Tages einen Brief, in dem man ihn um seine Zustimmung zu dieser Ehe bat. Die Gräfin D'Agoult und Blandine hielten sich in Florenz auf, dorthin kam auch der junge Bräutigam, dort wollten sie sich trauen lassen. Als gewissenhafter Vater wandte er sich um Auskunft nach Paris. Die Auskünfte schilderten Ollivier als unbescholtenen, tüchtigen, hochbegabten, zu großen Hoffnungen berechtigenden jungen Mann. Franzi willigte also freudig ein, um so mehr, als er dadurch auch Marie die Genugtuung verschaffen konnte, daß sie es war, die diese Tochter verheiratet hatte. Die Hochzeit fand in Florenz statt. Er fuhr nicht hin. Er war noch immer nicht völlig genesen, und außerdem schien es ihm nicht sehr verlockend, sich mit Marie zu treffen.

Seine beiden Töchter hatten nacheinander innerhalb weniger Monate geheiratet und waren glücklich, nur seine Sache wollte nicht in Ordnung kommen. Der verstockte Kirchenfürst in Petersburg, Hotoniewski, hatte schon zum dritten Male das Bittgesuch um kirchliche Scheidung zurückgewiesen, besser gesagt, er lehnte es ab, ein Verfahren einzuleiten, das die Ehe der Fürstin als ungültig erklären sollte. Man hatte daraufhin vorläufig nichts anderes tun können, als mit Hilfe neuer Anwälte und Kirchenjuristen eine vierte Eingabe zu machen, ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Der neue Zar sollte in diesem Herbst nach Weimar kommen. Der Großherzog, der viel von seinen eigenen außenpolitischen Fähigkeiten hielt, hatte Franzi schon lange seinen Plan anvertraut, zwischen dem Zaren Alexander und Franz Josef eine Versöhnung herbeizuführen. Österreich hatte im Krimkriege mit erstaunlicher Undankbarkeit Rußland im Stich gelassen, obgleich es durch die blutige Unterdrückung des ungarischen Freiheitskampfes den Thron der Habsburger gerettet hatte. Zwischen den beiden Herrscherhäusern war infolgedessen das Verhältnis recht gespannt. Der junge Großherzog hatte jedoch solange korrespondiert, sich solange abgemüht und solange gedrängelt, bis er das Unmögliche doch möglich gemacht hatte: die beiden mächtigen Herrscher kamen nach Weimar. Vor dem Kaisertreffen suchte Franzi den Großherzog auf und bat ihn, mit dem Zaren über die Ehescheidung zu sprechen; jenem koste es ja nur ein Machtwort, und der Metropolit Hotoniewski würde die ganze Sache sofort erledigen.

»Königliche Hoheit, die Geschichte fängt an, lächerlich zu werden. Der Fürst Sayn-Wittgenstein ist Protestant und ist durch die gerichtliche Scheidung wieder ein freier Mensch geworden. Er hat sich jetzt sogar wieder verheiratet.«

»Ich weiß, er hat die Erzieherin der Fürstin Schuwalow geheiratet.«

»Sehr richtig. Nach den Gesetzen der römischen Kirche ist aber die Fürstin immer noch seine Frau, da sie Katholikin ist. Ich frage Eure königliche Hoheit, kann man das mit nüchternem Verstand für menschenmöglich halten?«

»Lieber Liszt, mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, ich bin Protestant. Ich will Seiner Majestät dem Zaren die ganze Sache vorlegen, das verspreche ich Ihnen. Aber sehen Sie, wir sind ja jetzt unter uns: ist Ihnen denn diese Ehe so wichtig? Daß sie der Fürstin wichtig ist, das verstehe ich noch. Aber warum legen Sie soviel Wert darauf?«

»Weil ich ein Mann von Ehre bin.«

Der Großherzog wollte etwas erwidern, sah ihn dann aber nur lange an und nickte stumm. Er entließ seinen geliebten Untertan in Gnaden. Das Kaisertreffen fand statt, die Weimarer bekamen aber wenig davon zu sehen. Die drei jungen Herrscher verhandelten hinter verschlossenen Türen miteinander. Keine große Parade, kein Festzug. Franzi sah keinen der Herren. Nach der Abreise der hohen Gäste ließ der Großherzog Franzi wissen, daß er mit dem Zaren gesprochen habe, dieser habe sich die Angelegenheit auch notiert und seine Unterstützung zugesichert.

»Geben Sie sich aber keinen großen Hoffnungen hin«, fügte er hinzu, »ich kenne den Standpunkt der russischen Herrschaften. Der Metropolit ist völlig auf Seite der Familie Wittgenstein; solange er lebt, ist kaum an eine günstige Lösung zu denken. Damit Sie aber auch etwas Angenehmes hören, will ich Ihnen noch erzählen, daß ich Sie auch dem Kaiser Franz Josef gegenüber erwähnt und betont habe, was für eine wertvolle und nützliche Arbeit Sie hier leisten. Seine Majestät erinnert sich Ihrer gut, er hat ein unglaubliches Gedächtnis. Er sagte, die ungarischen Aristokraten hätten einen regelrechten Feldzug um Ihre höchste Auszeichnung unternommen. Ich hatte den Eindruck, daß Seine Majestät die Absichten der ungarischen Aristokratie billigt, daß aber das Hofmarschallamt noch Vorbehalte macht. Alles in allem aber steht diese Wiener Angelegenheit gut. Auf einen Erfolg in Petersburg rechnen Sie jedoch lieber nicht. Da wird nichts geschehen.«

Franzi nahm die Nachricht mit nach Hause, berichtete jedoch genau das Gegenteil, denn jede schlechte Nachricht stürzte die Fürstin in unberechenbare Verzweiflung. Diese neue Hiobsbotschaft hätte sie wiederum nur sehr tief bedrückt. Man durfte nur Hoffnungen in ihr erwecken, Hoffnungen und noch einmal Hoffnungen. Er spielte also den Bräutigam weiter und umgab sie mit unendlicher Geduld und Zärtlichkeit. Der Teil seines Herzens, in dem er seine Liebe bewahrte, war aber jetzt fast leer geworden. Da erschien eines Tages Agnes in Weimar. Sie wollte einige Tage in der Nähe ihres Meisters verbringen. Sie sah gut aus, ihre Lunge war einigermaßen in Ordnung. Aus den zahlreichen Briefen Franzis, die ihr überallhin folgten, war sie über die Bewohner der Altenburg genauestens unterrichtet. Und jetzt hielten sie auch keine seelischen Hindernisse mehr zurück. Die kameradschaftliche Treue Franzis zur Fürstin war stärker und selbstloser denn je. Seine Liebestreue aber war dahin. Die Briefe an Agnes und ihre Antworten hatten die Sehnsucht, das Gretchen seiner Symphonie in die Arme zu schließen, aufs Äußerste gesteigert. Sie gehörten einander an, nicht in der Selbstvergessenheit einer schwachen Minute, sondern in vollem Bewußtsein ihrer Lage und ihrer Gefühle. Nach wenigen Tagen vertrauten Glückes reiste Agnes wieder ab. Der Briefwechsel ging aber weiter im Tone der alten Innigkeit. Franzi hatte das Gefühl, ein Ehemann zu sein, der seiner Lebensgefährtin alles gab, was ihr als Lebensgefährtin zukam, und seiner eigenen Sehnsucht alles, was dieser Sehnsucht zukam.

Dieses ängstlich gehütete Glück seines reifen Mannesalter schenkte ihm aber nur noch herbstlich klaren Sonnenschein, keinen jauchzenden Frühling mehr. Seine einstige übermütige Laune war verschwunden, der Schmerz über das Nichtverstandensein und die Angriffe, die ihm als Komponisten galten, betrübten und belasteten sein Gemüt. Er wurde nachdenklich, ernst und menschenscheu. Die wenigen, mit denen er außer seinen Schülern in Weimar noch zusammenkam, hätte er sich an den Fingern abzählen können. Unter diesen wenigen war auch Dingelstedt, den er nach langen kampferfüllten Jahren endlich für die Leitung des Weimarer Theaters gewonnen hatte; der Großherzog hatte ihn zum Intendanten ernannt. Dingelstedt räumte in den ersten Wochen mit eisernem Willen gründlich auf, vertrat aber gleich anfangs in vielen Fragen ganz andere Ansichten als Franzi und gab auch nicht nach. Das mißfiel Franzi jedoch keineswegs. Er sah seinen Schützling lieber als zielbewußten Mann mit markigem Rückgrat denn als einen, der aus lauter Dankbarkeit die eigene Überzeugung verleugnete.

Und das Theater interessierte ihn jetzt kaum noch. Ab und zu versuchte er noch beim Großherzog die Aufführung der Tetralogie durchzusetzen. Dazu war jedoch soviel Geld erforderlich, daß er auf die Verwirklichung seines kühnen Traumes langsam endgültig verzichten mußte. Aber auch Wagner hatte verzichtet. Er hatte die Vertonung inzwischen beendet, das Riesenwerk war fertig; an eine Aufführung aber dachte er jetzt gar nicht mehr. Er war felsenfest davon überzeugt, daß noch einmal ein Wunder geschehen würde, und legte den Ring des Nibelungen beiseite, bis das Wunder da sein würde. Er war auch schon wieder mit einem neuen Werk beschäftigt, das die Geschichte von Tristan und Isolde behandeln sollte.

Das Theater interessierte Franzi nur insoweit, als er die Werke von Berlioz aufführen und den Jüngern der neuen Musik, sofern er unter ihnen eine wirkliche Begabung fand, den Weg zum Publikum bahnen konnte. Da war der junge Cornelius, der an einer vielversprechenden Oper arbeitete. Sonst lebte Franzi ganz zurückgezogen, wie ein verwundetes Tier in seiner Höhle, und unter seiner täglichen Post suchte er vor allem nach den Briefen von seinen Kindern. Insbesondere bangte er sich um Daniel, der sich im allgemeinen ganz wohl fühlte und nur hin und wieder Fieber hatte. Die Ärzte vermochten an seiner Lunge nichts festzustellen.

Die Dante-Symphonie, an der Franzi immer wieder arbeitete und die er sogar durch einen neuen Satz ergänzt hatte, ließ er in Dresden aufführen, – eigentlich nur noch um der Ehre willen, nicht, um noch einmal in den Kampf um die nette Musik einzugreifen. Den Urteilen des Publikums und der Kritik sah er eher ärgerlich und mißgestimmt entgegen als mit Spannung. Er sehnte sich lediglich danach, sein Werk, das ihm so ans Herz gewachsen war, von einem großen Orchester zu hören. Die Symphonie sagte dem Dresdner Publikum im allgemeinen nicht zu. Es kam zu keinem Skandal, aber das Fiasko war unmißverständlich. Bülows und auch die Fürstin waren anwesend. Nach dem Konzert überwarfen sie sich alle miteinander.

»Ich habe doch gesagt«, rief Hans empört, »man darf die Dante-Symphonie keinem Mißerfolg aussetzen. Ich habe wochenlang gefleht, sie nicht in Dresden aufführen zu lassen. Aber die Fürstin …«

»Jawohl«, fiel ihm Carolyne heftig ins Wort, »ich habe geträumt, daß Engel diese Partitur in Händen hielten. Ich kann nicht dafür, wenn Franzi nicht zu bewegen ist, diesem Tausig das Haus zu verbieten.«

»Was hat denn das mit Tausig zu tun?«

»Tausig ist unter einem schlechten Stern geboren. Er bringt Unglück über unser Haus. Daher kommt all unser Mißgeschick.«

Die Männer sahen einander an. Cosima gab ihrem Mann einen Wink, er solle aufhören. Wenn die Fürstin ihre Mucken hatte, konnte man mit ihr nicht über ernste Dinge reden. Bei ihr mußte man ruhige Stunden abwarten, dann war ihr Urteil schnell, scharfsinnig und sicher. Niemand konnte mit ihr auskommen außer Franzi, der sich ihr mit einer schier unerschöpflichen Geduld anpaßte. Auch jetzt machte er der Debatte ein Ende. Er winkte ab:

»Hört auf … ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt‹ …«

Die Presse hatte nur auf eine Gelegenheit gelauert, einhaken zu können. Es war, als ob Franzi mit entblößter Brust in ein ihm entgegengehaltenes blankes Schwert hineingerannt wäre. Neben den wildesten Angriffen machte sich ein neuer Ton gegen ihn breit: man behandelte ihn als komische Figur, über deren musikalische Unsinnigkeiten man nur gutmütig lächeln könne. Das war zuviel für seine Friedfertigkeit. Schicksalsschläge ertrug er, Erniedrigung nicht. Diese Burschen, die nicht einmal anständig schreiben konnten, wischten ihre talentlose Feder an ihm ab. Wenn er Derartiges las, schloß er sich ein; blaß wie die Wand, mit geballter Faust, die Zähne knirschend aufeinander gepreßt, schritt er in seinem Zimmer auf und ab, bis sich seine Erregung einigermaßen gelegt hatte. Und er stand oft vor dem Spiegel. Seit einiger Zeit begann sein Haar schnell zu ergrauen. Es wurde nicht dünner, es blieb dicht, aber blonde Haarsträhnen waren kaum noch zu finden. Auf seinem einst so glatten Gesicht wurden die Warzen immer deutlicher, die Mundwinkel entlang zogen sich zwei tiefe Falten, aus den schärfer gewordenen Gesichtszügen sprach eine harte Gequältheit.

Aber er ließ sich nicht unterkriegen. Er schüttelte sich wie ein Löwe, damit die Kletten, die man nach ihm geworfen hatte, von seiner Mähne abfielen. Er holte tief Atem und schlug mit der Faust auf den Tisch. Nein und nochmals nein! Diesen Kampf durfte er nicht aufgeben. Immer deutlicher, immer sicherer erkannte er den großen Zweck seines Lebens: er hatte eine Mission zu erfüllen. Wenn auch nicht für Jahrtausende, so für Jahrhunderte. Die Welt brauchte eine neue Musik, und dazu hatte der Herrgott ihn trotz aller Qualen und Leiden auserwählt.

Schon begann er eine neue Arbeit. Unter seinen Aufzeichnungen fand er einige Erinnerungszeilen an die Wartburg. Die Geschichte der heiligen Elisabeth, in deren Körbchen die Gaben für die Armen sich in Rosen verwandelten, als ihr Gatte sie bei ihrer verbotenen Mildtätigkeit überraschte, war eine würdige Aufgabe für seine Musik. Und die gütige und liebe Heilige war obendrein noch eine Ungarin. Er suchte sich Literatur über die thüringische Schloßherrin zusammen, ließ sich das Buch Montalemberts über sie kommen, besuchte die Wartburg wieder, sah sich die alten Fresken an, meldete sich bei der Großherzogin zur Audienz und schlug vor, die vernachlässigte Burg wieder herzustellen und sie im Rahmen eines großen Festes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Fürstin Carolyne war so entzückt, daß sie vor lauter Freude in einen Weinkrampf verfiel, wie so häufig in dieser Zeit, wenn ihr etwas Unerwartetes widerfuhr. In ihrer übertriebenen Begeisterung wollte sie die Aufgabe auf sich nehmen, einen Textdichter zu suchen, der die Dichtung im Anschluß an die Wartburger Fresken ausarbeiten sollte. Sie ließ sich auch in einen Briefwechsel mit dem Dichter Otto Roquette ein, von dem Franzi noch nie gehört hatte. Roquette kam nach Weimar, stellte sich Franzi vor und entwickelte ihm seinen Plan. Der gefiel aber Franzi ganz und gar nicht. Aber er wollte Carolyne nicht aufregen. Schließlich half er sich so, daß er jede Zeile von Roquette nochmals selbst überarbeitete. Der war mit allem einverstanden, ihm war es nur darum zu tun, daß sein Name neben dem eines Liszt stehen sollte. Franzi ging dann gleich an die Komposition. Nun erst recht! Und wenn jede Zeitung Europas jeden Tag in die Welt schrie, daß er zum Komponieren keine Begabung habe, – er mußte die Arbeit leisten, die ihm Gott gewiesen hatte.

Er bot dem ganzen Weltall die Stirn, und die Welt schrak tatsächlich vor diesem Trotz zurück, der die Kraft Fafners mit der durchgeistigten Reinheit eines Gralsritters vereinigte. Oder eines Mönches. Denn von den Franziskanern aus Budapest langte die amtliche Mitteilung an, daß man ihn als Konfrater in den Orden aufgenommen habe. Diese Zeremonie wollte er unter keinen Umständen versäumen. Er beschloß, nach Pest zu fahren, und zwar über Prag und Wien. Ein mutiger Dirigent in Prag, namens Wildner, wollte durchaus seine Dante-Symphonie dort aufführen, trotz des Urteiles der ganzen Welt. In Wien hingegen sollte seine Graner Messe aufgeführt werden.

Auf die Reise hatte er auch Tausig, das Wunderkind, mitgenommen. Sie kamen in Prag an, die Probe verlief ausgezeichnet, Wildner entpuppte sich als Musiker ganz nach seinem Geschmack. Nach der Probe ließen sie sich in einem Kaffeehaus nieder, um noch einige Einzelheiten zu besprechen. Plötzlich trat ein kahlköpfiger, dickbäuchiger Mann an ihren Tisch.

»Beck!« rief Franzi überrascht. »Sind Sie es denn wirklich? Was zum Teufel suchen Sie hier?«

Es war der leibhaftige Beck selbst, der ehemalige Tenor aus Weimar, der erste Lohengrin. Er war seinerzeit schon sehr beleibt gewesen, jetzt aber hätte ihn kaum ein Stier, geschweige denn ein Schwan ziehen können. Tausig lachte laut über ihn; er war ein sehr ungezogener Junge.

»Ich bin hier Kaffeehausbesitzer, bitteschön. Dieses Kaffeehaus gehört mir. Und ich bin deshalb an Ihren Tisch gekommen, um mich bei dem Herrn Doktor für dieses Kaffeehaus zu bedanken. Wenn der Herr Doktor mich seinerzeit nicht aus Weimar weggejagt hätte, so wäre ich heute noch ein schlechtbezahlter Tenor. Statt dessen lebe ich jetzt wie ein Fisch im Wasser und habe mir auch schon ein Miethaus gekauft. Denn Sie haben mich weggejagt, das können Sie gar nicht leugnen.«

»Das ist wohl ein etwas zu starkes Wort, mein lieber Beck. Ich habe mich nur dagegen gewehrt, Ihnen eine tragende Rolle zu geben, denn Ihre Stimme war zwar sehr schon, aber Ihre Erscheinung wurde den von Ihnen darzustellenden Helden ebensowenig gerecht wie Ihr, wir wollen es nur offen gestehen, fürchterliches Spiel. In kleineren Rollen könnten Sie meinetwegen sogar heute noch in Weimar auftreten.«

»Gott behüte. Das Theater ist nichts für mich. Es war meine größte Torheit, als ich den Bäckergesellen an den Nagel hing und Schauspieler wurde. Aber diesen Lohengrin werde ich nie in meinem Leben vergessen. Ich habe damals auf die Musik geschimpft wie ein Rohrspatz. Heute weiß ich, daß es eine wunderbare Musik ist.«

Franzi sprang auf und umarmte den drei Zentner schweren Lohengrin. Sie küßten sich sogar. Der brave Mann, der statt des Silberhelms jetzt eine gestickte Mütze trug, ging, seine Tränen trocknend, wieder an seine Arbeit. Franzi schlug Wildner erfreut auf die Schulter:

»Das ist ein gutes Zeichen, mein Lieber, Sie werden sehen, wir haben Erfolg. Ich fange auch schon an abergläubisch zu werden, eine große Schande, aber den ersten Lohengrin wiederzusehen, das kann nur ein sehr gutes Zeichen sein.«

Das gute Zeichen bewährte sich. Die Dante-Symphonie wurde sonderbarerweise in Prag sehr gut aufgenommen. Sie gefiel so, daß die entzückten Zuhörer bei der Partie Paolos und Francescas mitten in die Musik hinein Beifall spendeten. Tausig trug das A-dur-Klavierkonzert mit verblüffendem Können und mitreißender Kraft vor. Die Zuhörer klatschten wie die Wahnsinnigen. Die Presse schrieb ganz begeistert. Nach einigen Tagen folgte ein weiteres Konzert. Die Tasso-Symphonie und das E-dur-Klavierkonzert. Ein noch größerer Erfolg. Die Tasso-Symphonie mußte wiederholt werden.

»Richte der Fürstin aus«, sagte Franzi zu Tausig, als er ihn zur Bahn brachte, »daß du ein nichtsnutziger, unartiger Bengel bist, aber einen Riesenerfolg gehabt hast und …«

Frech und übermütig fiel ihm der Knabe ins Wort:

»… und daß ich dem Meister Glück gebracht habe, wenn die Fürstin deswegen auch noch so zornig ist.«

Franzi drehte ihm schnell noch ein Hörnchen am Kopf und drängte ihn lachend in den Eisenbahnwagen hinein. Dann fuhr er selbst nach Wien. Eduard und Daniel erwarteten ihn auf dem Bahnhof. In seiner überschäumenden Freude umarmte er sie beide minutenlang. Daniel schob er ein wenig von sich, um ihn besser mustern zu können, dann umarmte er ihn wieder. Der Junge sah nicht schlecht aus, aber sein Vater fand ihn viel zu ätherisch, viel zu zart und müde. Im Mietwagen war seine erste Frage, was der Arzt gesagt habe. Der Arzt hätte an der einen Lungenspitze irgend etwas festgestellt, die Sache wäre aber nicht so schlimm, die wachsenden Organe würden das noch ausgleichen. Vater und Sohn hielten sich bei den Händen und ließen sich nicht los.

»Ist Augusz schon angekommen?« erkundigte sich Franzi bei Eduard.

»Er kommt erst morgen. Aber hör' mal, es ist einfach erstaunlich, wieviel Unstimmigkeiten deiner Messe vorangegangen sind. Erinnerst du dich noch, als ich dich bat, du solltest es nicht mit dem Hofe verderben? Also hör' zu, was geschehen ist. Wir hatten vier Solisten ausgewählt, und die freuten sich auch, mitwirken zu können. Vor einer Woche kamen sie ganz verzweifelt zu mir gelaufen, der Intendant, Graf Lanckoronski, versage ihnen die Erlaubnis, Mitwirken zu dürfen. Also dafür gab es noch kein Beispiel, daß man den Mitgliedern einer Oper nicht erlaubt hätte, in einer Festmesse zu singen! Ich laufe in die Intendantur, was denn das für ein Mißverständnis wäre. Der Graf selbst war nicht da, ich mußte mit seinem Stellvertreter sprechen. Dieser teilte mir dann mit, daß das keineswegs ein Mißverständnis sei. Du hättest seinerzeit abgelehnt, in einem Hofkonzert mitzuwirken, jetzt gäben sie dir eben kein Hofpersonal. Ich habe alles mögliche versucht, umsonst. Wir haben Solisten von Pest kommen lassen. Soviel ich weiß, sind die ganz ordentlich. Das war alles, die Messe wird also stattfinden.«

Daniel lachte seinen Vater an:

»Die Ungarn singen auch lateinisch. Und der Herrgott liebt die lateinische Sprache.«

»Du dummer Junge, du«, sagte Franzi, den Jungen an sich drückend, »wie weit sind wir denn mit der ungarischen Sprache?«

»Ach, danke, es geht ganz gut. Ich verstehe alles und kann auch schon einigermaßen sprechen. Ich werde mich mit den ungarischen Solisten unterhalten, damit Sie es auch hören, Papa, einverstanden?«

Sie kamen im Schottenhof an. Henriette erwartete sie mit frischem Kaffee und Kuchen. Der kleine Franz Liszt tapste ungeschickt bei der Begrüßung herum und wollte durchaus die langen Haare seines Paten fassen. Sie lachten viel über ihn. Und kaum hatten sie Kaffee getrunken, da kam auch schon das Abendessen. Jeder aß mit großem Appetit und reichlich, nur Daniel stocherte in den Speisen herum.

»Dieser Junge bringt mich noch ins Grab«, klagte Henriette, »er will nicht essen. Ich kann ihm kochen, was ich will, er ißt nicht. Ich weiß gar nicht, wovon er eigentlich lebt. Er lernt und lernt nur.«

»Laßt mir morgen den Arzt kommen«, bat Franzi ernst werdend, »ich möchte ihn sprechen.«

Dann kam die endlose Reihe der Familienangelegenheiten zur Sprache. Cosimas und Blandines Ehe, der in Gran aufgetauchte Alois Hennig, die Pariser Briefe der Großmutter Liszt. Der vertraute Zauber des Heims nahm Franzi abermals gefangen. Und diesmal war ja auch sein Sohn bei ihm. Er wünschte sich, daß dieser Abend gar nicht wieder aufhören möge, wie sie so alle beim milden Licht der Lampe zusammensaßen und von ihren Lieben sprachen. Nirgends, auf der ganzen Welt nicht, hatte er sich jemals so wohlgefühlt, wie hier neben Daniel.

Am anderen Tage ließen sie den Arzt kommen, der äußerte sich sehr unsicher. Seine schwankende Weisheit ließ nichts Bestimmtes verlauten. Er betonte nur immer wieder, daß keine unmittelbare Gefahr bestehe und es außerordentlich wichtig sei, daß der Junge sich gut ernähre. Solche Jungen von siebzehn Jahren ständen mitten in der Entwicklung, man müsse sich nicht gleich ängstigen, wenn das Wachstum ihnen ein wenig zu schaffen mache. Franzi dankte für die Aufklärung und war einigermaßen beruhigt. Daniel war seine Hauptsorge. Jetzt konnten alle anderen offiziellen Sachen kommen.

Die Aufführung der Messe verlief sehr gut, außer Baron Augusz waren noch zahlreiche andere Bekannte nach Wien gekommen, um ihr beizuwohnen. Augusz war aber nicht nur deshalb nach Wien gekommen. Er nahm Franzi zur Seite und berichtete ihm über alle Einzelheiten des Zwischenfalles im Hofmarschallamt. Dann setzten sie sich in einen Fiaker und fuhren nach der Burg. Da stieg Augusz aus:

»Bleib' du unten und erwarte mich im Wagen. In einer Stunde bin ich spätestens wieder da.«

Er war schon nach einer halben Stunde zurück. Sein Gesicht strahlte. Er warf sich in den Wagen und rief dem Kutscher »Schottenhof« zu. Der Wagen zog ratternd an, Augusz reichte Franzi beide Hände:

»Meinen herzlichsten Glückwunsch, Herr Ritter.«

»Wie bitte?«

»Wir haben alles erreicht, alles! Im Hofmarschallamt habe ich das ganze Mißverständnis in fünf Minuten geklärt. Die Wichtigtuerei eines großspurigen Menschen hat die ganze Sache eingerührt. Als ich dargelegt hatte, wie sich alles wirklich abgespielt habe, meinten sie, das wäre ja ganz etwas anderes, und du hättest recht. Das ist Numero eins. Daraufhin löste sich die andere Frage von selbst. Ich habe dich zur Audienz angemeldet, weil du dich bei Seiner Majestät bedanken möchtest, da sie geruhten, den Druck deiner Graner Messe auf Staatskosten zu veranlassen. Morgen mittag um ein Uhr und zwanzig Minuten wirst du vor dem Kaiser erscheinen. Die Kleidungsvorschriften bekommst du noch heute durch einen Hofkurier mitgeteilt. Das ist Nummero zwei. Drittens: während der Audienz wird dir Seine Majestät mitteilen, daß er dir das Ritterkreuz des Eisernen Kronenordens verleiht. Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein.«

»In der Sprache des Kaisers ist das die Aufforderung zum Tanz. Den eisernen Kronenorden darf nur ein Adliger tragen, wer also kein Adeliger ist und ihn doch erhält, ist berechtigt, den Antrag auf Erhebung in den Adelsstand zu stellen. Bitte, das habe ich also erledigt, Herr von Liszt. Und nun nochmals herzlichsten Glückwunsch.«

Franzi fand keine Worte. Er starrte seinen Freund schweigend an und drückte die ihm dargebotene Hand.

»Ist das wahr?« stotterte er endlich.

»Na, hör' mal, mit solchen Dingen werde ich doch nicht scherzen. Aber ich will dir noch etwas sagen. Soviel ich gehört habe, ist deine Familie von altem Adel. Du selbst hast mir gegenüber einmal erwähnt, daß ihr nach alter Überlieferung mit der Familie eines gewissen Barons Listius verwandt seid. Deshalb nimm dir die Mühe und sieh dich in der Verwandtschaft um, was für Belege du hierzu beschaffen kannst. Denn wenn du etwas findest, stellst du nicht mehr den Antrag, in den Adelsstand erhoben zu werden, sondern ersuchst nur um die Bestätigung deines alten Adels. Das ist viel vornehmer. Nun, was sagst du dazu?«

Franzi schüttelte den Kopf.

»Nein. Das ist nicht vornehm. Meines Erachtens ist es vornehmer, in den Adelsstand erhoben zu werden, als den Adel des Vaters zu erben. Wenn es von mir abhängt, so wähle ich lieber den Weg, daß ich, Franz Liszt, in den Adelsstand erhoben werden soll. Aber sag' du mir, wie kann ich dir das je danken? Deine Freundschaft bedrückt mich förmlich. Ein Leben reicht gar nicht aus, um dir zurückzuzahlen, was ich dir für die Messe und jetzt für diese große Freude schulde …«

»Nicht der Rede wert. Entweder gibt's eine Freundschaft oder es gibt keine. Ich will nicht, daß du darüber noch sprichst.«

Am dritten Tage, pünktlich um ein Uhr, fuhr Franzi im vorgeschriebenen Frack in die Burg. Den Schloßgardisten zeigte er seine Einladung vor. Man wies ihm den Weg. Unendliche Treppen, Gänge, Teppiche, Gardisten. Jeder Raum verkündete die Macht der Habsburger. Wohl war er schon einmal in diesem Schloß. Da hatte er aber noch nicht empfunden, was er jetzt empfand: die Wirkung der Persönlichkeit des jungen Kaisers. Dieser achtundzwanzigjährige junge Mann, der schon zehn Jahre auf dem Throne saß, ließ auch in den entlegensten Ecken seines Schlosses seine Macht fühlen. Die Generäle des ungarischen Freiheitskampfes hatte er unbarmherzig hinrichten lassen. Die Wiener hingegen beteten ihn an. In Gran durften vornehme Magnaten nicht an seinem Tisch sitzen, ihn, Franz Liszt, hingegen wollte er jetzt auszeichnen. Was für ein Mensch war er, – gut oder herzlos?

Franzi trat in ein stilles, von gespannter Erregung erfülltes Vorzimmer. Schwere Teppiche, prächtige Wände. Gardisten. Flüsternde Höflinge. Ein Offizier mit der Dienstschärpe ging auf ihn zu und erklärte ihm, wie er sich beim Eintreten zu benehmen habe. Ein Beamter der Kabinettskanzlei musterte ihn gewissenhaft von Kopf bis Fuß, ob seine Kleidung der Vorschrift entsprach. Seine Orden, die er sämtlich angelegt hatte, prüfte man einzeln. Auch einige andere auf die Audienz Wartende standen unruhig herum. Drei kamen vor ihm dran. Dann nur zwei. Endlich nur noch ein alter Offizier. Auch der kam wieder heraus. Jetzt schnell.

Im sonnendurchfluteten Arbeitszimmer stand der Kaiser. Ein blonder Mann, schlank, blauäugig, mit durchdringendem Blick.

»Eurer Majestät danke ich alleruntertänigst, daß Eure Majestät geruht haben, meine Graner Messe auf Staatskosten drucken zu lassen.«

»Ja«, erwiderte Franz Josef unverzüglich, »die musikalische Begleitung der Heiligen Messe hat unsere Zuneigung gefunden. Wirken Sie ständig in Weimar?«

»Jawohl, Majestät.«

»Wo haben Sie sich in den Jahren achtundvierzig und neunundvierzig aufgehalten?«

»Ich war auch damals schon in Weimar, Majestät.«

»Der Großherzog von Weimar erwähnte mir gegenüber bereits, welch allgemein wertvolle Arbeit Sie verrichten. Außerdem haben Sie ja auch als Klavierkünstler sehr schöne Erfolge gehabt. Als Zeichen meiner Anerkennung verleihe ich Ihnen das Ritterkreuz meines Eisernen Kronenordens.«

»Ich danke Eurer Majestät alleruntertänigst für die Gnade. Ich werde mit meiner ganzen Kraft bemüht sein, mich auch in Zukunft durch mein weiteres Wirken des Wohlwollens Eurer Majestät würdig zu zeigen und meinem Vaterlands zur Ehre zu gereichen.«

Es schien, als ob bei dem Wort »Vaterland« in den Blick der blauen Augen ein kalter forschender Ausdruck gekommen wäre. Der Kaiser sagte aber nichts mehr. Er unterhielt sich nicht, er interessierte sich nicht. Er sprach wie ein Aktenstück. Er war seine eigene Statue. Er schlug die Hacken zusammen. Franzi schritt höflich rückwärts bis zur Tür, wie man es ihn gelehrt hatte. Draußen torkelte blaß, vor Aufregung schluckend, der nächste zur Türe hinein.

Franzi mußte sich noch in der Kabinettskanzlei melden, wo er gegen eine Quittung den Orden und die beigelegte umfängliche Anweisung entgegennahm. Als das erledigt war, nahm er sich einen Fiaker. Um ein Viertel vor zwei Uhr mußte er dem Baron Bach seinen Besuch machen. Spät am Abend des vorigen Tages hatte Augusz das ganze Haus Eduards damit auf die Beine gebracht, daß er mitteilte, auch diese Audienz zustande gebracht zu haben.

Das waren nun keine so hoheitsvoll kalten zwei Minuten und überhaupt keine zwei Minuten, sondern eine halbe Stunde. Baron Bach empfing ihn außer der Reihe, da er früher gekommen war. Die Wartenden murrten hinter ihm her. Ein eleganter, feiner Mann war der Baron, und im ersten Augenblick sah er nicht anders aus als irgendein beliebiger hoher Staatsbeamter. Mit einer herablassenden Geste forderte er ihn auf Platz zu nehmen und schob ihm die Zigarren hin.

»Ich bin gekommen, Exzellenz, meinem innigsten Dank Ausdruck zu verleihen, da Eure Exzellenz die Angelegenheit meiner Messe so freundlich unterstützt haben.«

»Mir steht kein Dank zu, lieber Hofrat« – der Sekretär des Barons hatte seinen Chef anscheinend über seinen Hohenzollern-Hechingenschen-Hofrats-Titel informiert – »Seine Majestät wollte alles das aus eigenem Entschluß heraus. Ich bin dieser Gelegenheit jedoch dankbar, da ich Sie kennenlernen kann. Ich bin selbst Musiker, wenn in Ihrer Anwesenheit sich überhaupt jemand als Musiker bezeichnen darf, und danke Ihnen viele herrliche Minuten. Von der Messe bin ich entzückt. Ich war dabei. Dieses Kredo … diese überwältigende Kraft des Glaubens … also ich kann Ihnen nur meinen herzlichsten Glückwunsch aussprechen. Wohin reisen Sie von Wien?«

»Nach Pest.«

»Ach, nach Pest. Sie sind ein in Ungarn geborener Österreicher, nicht wahr?«

»Nein, Exzellenz, ich bin ein in Ungarn geborener Ungar. Meine Mutter war aber aus Krems.«

Über das Gesicht des Barons lief ein süßsaures Lächeln.

»Mein politisches Ideal, das Sie möglicherweise noch nicht kennen, ist die einheitliche Monarchie. Unter dem Zepter seiner Majestät sind wir allesamt Untertanen eines Reiches. Sie sind ein kluger und weltgewandter Mann. Ist es denn für Ihre Nation nicht besser, ihre Sprache, ihre Presse, ihre Kulturfreiheit, ihr alltägliches Leben zu behalten und unter der Herrschaft eines weisen Kaisers zur Blüte gelangen zu lassen?«

»Exzellenz, ich befasse mich nicht mit Politik. Ich lebe weit von meiner Heimat entfernt, ich weiß nicht, was in Pest vor sich geht und was nicht. Von der deutschen und der französischen Politik weiß ich heute noch mehr, mit diesen Ländern verknüpfen mich lauter persönliche Bindungen.«

»Auch über die heutige französische Politik? Wen kennen Sie zum Beispiel?«

»Den Kaiser selbst. Ich habe ihn schon vor Jahren in London kennengelernt, als er noch ein einfacher Bonaparte war. Auch hatte ich den Vorzug, in Madrid der Kaiserin zu begegnen. Damals war sie noch unverheiratet, die Tochter der Hofdame Gräfin Montijo. Wie überwältigend schön ich sie damals fand, daran erinnere ich mich heute noch.«

»Sie ist schön. Aber auch unsere Kaiserin ist bezaubernd, finden Sie nicht?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth zu begegnen. Ich habe aber von einer Dame, die in diplomatischen Kreisen sehr gut bekannt ist, gehört, daß Ihre Majestät nicht nur außerordentlich schön, sondern auch sehr liebenswürdig ist.«

»Wer ist diese Dame?«

»Eure Exzellenz werden sie kaum kennen. Agnes Klindworth.«

»Ich kenne sie nicht? Und ob ich die schöne Agnes kenne! Ihr Vater hat unter Metternich gedient und lebt jetzt in Brüssel, nicht wahr? Selbstverständlich kenne ich sie. Leider nur flüchtig. Wo sind Sie ihr begegnet, Herr Hofrat?«

»Sie war meine Schülerin. Wir treffen einander jetzt noch ab und zu. Sie ist eine ausgezeichnete Klavierspielerin. Meine Rhapsodien spielt sie ganz gut.«

»Ach, die Rhapsodien! Sehr schön.«

Sie begannen von Musik zu sprechen. Sehr lange. Die Audienz dauerte bis ein Viertel drei Uhr. Als ihn der Baron Bach endlich zur Tür geleitete, sagte er:

»Sagen Sie in Pest den Ungarn, die mich hassen, daß sie auf einem falschen Wege sind. Ich habe recht und nicht sie. Sie können auch nur in einer starken Monarchie stark sein. Die Monarchie aber kann nur dann stark sein, wenn sie einig ist.«

»Es ist eine schwere Wahl, Exzellenz, ob man stark oder ein Ungar sein soll.«

»Sie haben schon gewählt, Herr Hofrat. Sie sind beides. Wenn Sie wieder nach Wien kommen, versäumen Sie nicht, mich zu besuchen. Ich möchte diese wirklich nette Stunde gerne wiederholen.«

Das war der Menschenfresser, den man in Pest am liebsten erwürgt hätte? Franzi war verwundert. Er fand, daß der Baron ein außerordentlich liebenswürdiger Mensch war. Wenn man ihn mit jedem einzelnen Ungarn besonders zusammenbringen könnte … vielleicht würde das zu einem Erfolg führen … Über die Politik vermochte er sich aber nach wie vor keine Meinung zu bilden. Er fühlte nur ganz undeutlich, daß im geheimen in Pest irgendein tiefer, echter Schmerz schluchzte. Und diesem unbegreiflichen Schmerz glaubte er doch mehr, als dem liebenswürdigen Baron Bach.

Nach den Anweisungen Augusz' setzte er sein Gesuch um Erhebung in den Adelsstand auf, dann – nachdem sich die stürmische Freude der Familie Eduard gelegt hatte – fuhr er nach Pest und stieg im Karacsonyi-Palais ab. Er wollte diesmal nichts anderes, als sich bei den Franziskanern melden. Das Angebot, seine Messe im Nationalmuseum zu dirigieren, konnte er aber doch nicht ablehnen. Er freute sich im Gegenteil, daß er seinem Lieblingsplan, dem Fonds zur Errichtung der Musikakademie, wieder Geld zukommen lassen konnte. Die Einnahme betrug achthundert Gulden. Als er mit den Veranstaltern abrechnete, griff er in die Tasche und legte noch zweihundert Gulden auf den Tisch.

»Achthundert und zweihundert sind tausend. Das gehört der Musikakademie.«

»Was sollen diese zweihundert, Meister?«

»Das ist der Preis für meine Eintrittskarte. Ich habe vergessen, eine Eintrittskarte zu lösen.«

Am anderen Tage um die Mittagsstunde erschien er bei den Franziskanern. Der Guardian las eine stille Messe, die hörte er in tiefer Andacht an. Dann trat der Prior des Ordens vor und richtete eine lateinische Ansprache an ihn. Er nahm ihn feierlich als Mitglied in den Orden auf. Das war die ganze Zeremonie. Dann folgte ein Mittagessen im Refektorium. Hier machte man ihn mit einem Domherrn bekannt, der aus Erlau einzig und allein seinetwegen hierher gereist war. Dieser Domherr hieß Danielik. Er hatte über die heilige Elisabeth ein umfassendes Werk geschrieben, und da er in den Zeitungen las, daß sich der große Musiker mit der Legende der heiligen Elisabeth befassen wollte, bot er ihm die Ergebnisse seiner Forschungen an. Während des ganzen Mittagessens redete man auch von nichts anderem, die unzähligen Begrüßungsansprachen ausgenommen, als von der heiligen Elisabeth.

Abends fand im Komlo-Garten ein Souper mit Zigeunermusik statt. Erkel, Mosonyi, Doppler und viele andere fanden sich ein. Franzi ließ sich bis tief in die Nacht hinein vorspielen und erzählte Erkel strahlend, daß er zehn neue Rhapsodien habe.

»Woran arbeiten Sie jetzt?« fragte er Erkel. »Warum lassen Sie Ihre schöne Oper ›Ladislaus Hunyadi‹ nicht ins Deutsche übersetzen, ich würde sie in Weimar aufführen.«

Erkel schüttelte nur den Kopf. Er hatte viele Kinder, die Übersetzung würde viel Geld verschlingen. Franzi wunderte sich über ihn. Andere quälten ihn zu Tode mit Aufführungsanliegen, und dieser hier winkte die Aufforderung nur traurig ab. Er nahm sich die Mühe, ihm lang und breit zu erklären, wie wichtig das vom ungarischen Standpunkt aus und auch im Interesse seines eigenen Vorwärtskommens wäre. Erkel nickte und versprach endlich, den Text übersetzen zu lassen.

Er ließ ihn aber nicht übersetzen. Franzi drängte ihn auch noch von Weimar aus, bis er es satt hatte. Und er sann oft und lange über seinen sonderbaren Landsmann nach, der vom Vorwärtskommen, von der Verwertung seiner Begabung keine Ahnung hatte, sich nur von den Zigeunern vorspielen ließ, den Baron Bach haßte und in der Empörung seines trauernden Ungartumes die Gläser an die Wand schmiß. Er würde sicherlich auch sein ganzes Leben hinschmeißen, wenn man es ihm in Form eines Glases in die Hand gäbe.


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