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Sechzehntes Kapitel

Ihr, die sich den Glauben durch die Liebe bewahrt hat, deren Hoffnung auch im Strome des Leidens wuchs, die ihr Glück darin fand, daß sie sich opfern sollte, ihr, die immer der Gefährte meines Lebens, der Sternenhimmel meiner Gedanken und das lebendige Gebet meines Herzens und des Himmelreichs bleibt, Jeanne Elisabeth Carolyne am 18. Februar 1855.

Liszt.«

Diese Widmung schrieb er am Geburtstage der Fürstin in die neueste Ausgabe seiner musikalischen Werke. Er konnte dieser Frau nicht genug Liebe und Hingabe spenden, die für ihn ihre gesellschaftliche Stellung, Vermögen und Vaterland geopfert hatte. Wie das Feuer ihrer Liebe immer kleiner wurde, so wuchs das freundschaftliche Gefühl der Zueinandergehörigkeit und ihr Verantwortungsgefühl füreinander. Während seine besten Bekannten förmlich ein Hagel von Schicksalsschlägen traf, fühlte er sich in der völligen freundschaftlichen Hingabe an diese Frau wie einer, der vor dem Sturm unter ein Dach geflüchtet ist. Über Wagners Leben kamen aufregende Nachrichten, er wanderte ohne seine Frau von einem Ort zum anderen, um seiner anspruchsvollen Natur die geeignete Umgebung für seine große Arbeit zu verschaffen; sein mit aufgewühlten Problemen erfülltes Herz mußte er aber überall mit hinschleppen. Lamennais, der große Christ, der sich gegen das alte Papsttum empörende Asket, war zu jenem Gott zurückgekehrt, den er in seiner rastlosen, quälenden und weltaufsässigen Unruhe gesucht und in La Chenais gefunden hatte, wo er schon sein Grab bestimmte hatte. Victor Hugo lebte im Exil; er hatte sich gegen die neue Macht aufgelehnt. Das fürchterlichste Schicksal war jedoch dem unglücklichen Schumann zuteil geworden. Er hatte eine Zeitlang in Düsseldorf gelebt, und von dort kamen erschreckende Nachrichten über ihn. Er benahm sich immer sonderbarer, hatte Visionen, ließ sein Klavier auf eine blumige Wiese schaffen und phantasierte dort unverständlich; es wurde immer offensichtlicher, daß er in geistige Umnachtung verfiel. Eines Tages brachten ihn zwei Rheinschiffer zu der verzweifelten Clara nach Hause. Er war von der Brücke in den Rhein gesprungen, weil er sich das Leben nehmen wollte, aber man rettete ihn noch einmal. Jetzt mußte man handeln und konnte es nicht länger aufschieben: man schaffte ihn nach Endenich in die Irrenanstalt. Dort litt er als lebendiger Toter. Brahms und Joachim, die ihn besuchten, erzählten fürchterliche Einzelheiten von seiner Krankheit, und was das Allerentsetzlichste war: Schumann war schon seit Monaten in der Irrenanstalt, als Clara ihr achtes Kind von ihm bekam.

»Ich bitte den armen Unglücklichen im stillen um Vergebung«, sagte Franzi in der häuslichen Ruhe des Abendessens in der Altenburg, »ich war einst sehr zornig auf ihn. Erst jetzt weiß ich, daß er nicht mehr Herr dessen war, was er tat. Dieses achte Kind ist fürchterlich. Bei solchen Gelegenheiten kommt es mir erst richtig zum Bewußtsein, daß man dem lieben Gott jeden Tag auf den Knien danken müßte, daß einem die Kinder gut geraten sind. Die arme kleine Tochter Lilines geht mir auch nie aus dem Sinn. Für Frau Schumann muß es doch furchtbar sein, dieses Kind anzusehen … aber gut, daß es mir einfällt, ich werde ›Genoveva‹ aufführen lassen.«

»Was ist Genoveva?«

»Schumanns Oper. Sie ist noch nirgends aufgeführt worden. Das ist ein schweres Versäumnis der deutschen Bühnen. Wenn eine Nation einen Schumann hat, dann muß sie seine Oper aufführen. Ich hole dieses Versäumnis jetzt nach.«

»Genoveva« kam auf den Spielplan des Theaters. Schumann und er hatten über dieses Stück oft gestritten. Franzi hielt den Text für schwach. Den ersten Akt fand er gut, das Ende des Stückes aber schlecht. Er wollte Schumann damals unter allen Umständen überreden, das Textbuch umzuarbeiten. Da trat aber Clara dazwischen, und das Stück blieb wie es war. Jetzt mußte man es also mit diesem schwachen Text aufführen. Franzi lud auch Clara zur Uraufführung ein, sie kam aber nicht.

»Ist es denn überhaupt der Mühe wert, ihr zu helfen?« meinte die Fürstin.

»Lassen Sie nur. Das ist die Sache des armen, lebendig toten Schumann und nicht dieser Frau. Was sie tut, ist ganz gleichgültig. Sie ist nicht gekommen, weil sie mich haßt. Und diesen Haß muß man auch verstehen. Sie haßt jeden Tondichter, der lebt, gesund ist und arbeiten kann, während ihr Robert im Irrenhause ist. Ihr Haß ist ganz natürlich.«

»Franzi, das ist bei Ihnen schon keine Güte mehr. Man kann einfach nicht bis zur Grenze des Schwachsinns gut sein. Ist es Ihnen denn ganz gleichgültig, ob man Ihnen auf dem Kopf herumtrampelt?«

In solchen Fällen lächelte er nur und küßte Carolyne; das war seine ganze Debatte. Angesichts dieses Lächelns und mit diesem Kuß konnte die Fürstin nicht weiter streiten. Sie murrte heimlich und schalt die übertriebene Geduld Franzis und die Schlechtigkeit der ihn ausnutzenden Menschen. Sie nahm sich seine Schüler vor und erleichterte dadurch ihren Zorn, daß sie sie gegen die Ausbeuter aufhetzte.

Unter den Schülern war manches anders geworden. Agnes Street-Klindworth hatte ihre Studien beendet. Sie war der Meinung, daß ihr Können nunmehr für die Laufbahn einer Klavierlehrerin ausreichte. Eines Tages meldete sie Franzi, daß sie Weimar verlassen wolle. Franzi war überrascht, entgegnete aber nichts auf diese Mitteilung. Seit der nicht eingehaltenen Verabredung über die abendliche Zusammenkunft sprachen sie nie mehr über persönliche Sachen miteinander. Es kam zwar öfters vor, daß sie zufällig zu zweit blieben, von ihren Gefühlen schwiegen sie aber alle beide. Sie sprachen nur von Musik und von unpersönlichen Dingen. Das außerordentliche musikalische Gefühl Agnes' entzückte ihn jedesmal von neuem, und nicht nur einmal unterdrückte er in sich den Seufzer: ach, wenn doch Carolyne über dieses musikalische Können verfügte … Dann aber glitt sein Blick an der vornehmen, eleganten, begehrenswerten Gestalt Agnes' entlang, und er mußte mit brennend wehmütigem Gewissen einsehen, daß ihn bei dieser Frau nicht nur die Musik anzog. Jetzt, wo Agnes für immer scheiden wollte, entstanden in ihm sonderbare Gefühle. Er war einerseits froh, daß der versuchende, beunruhigende Reiz Gretchens aus seinem Lebensweg schwinde, andererseits bewegte es ihn aber auch stark, daß gerade diese Frau ohne die Erinnerung an einen Kuß von ihm gehen werde, – wie ein zünftiger Jäger sich niemals vergibt, die Gelegenheit, einen prächtigen Hirsch zu schießen, versäumt zu haben.

Am Tage vor Agnes' Abreise schlenderte er mit wirren Gedanken die Straße entlang. Er wußte selbst nicht wie es geschah, aber mit einem Male stand er vor der Wohnung der Frau in dem kleinen abgelegenen Gäßchen. Er war noch nie bei ihr gewesen, die ihren Ruf sorgsam hütende Agnes hatte nie Besuch empfangen. Vor dem Tor zögerte er noch einen Augenblick, dann konnte er sich aber nicht mehr beherrschen. Er trat ein. Und wenige Sekunden später stand er Agnes gegenüber. Er war in einer unbeschreiblichen Verlegenheit. Agnes nicht.

»Ich habe gewußt, daß Sie kommen werden«, sagte sie ruhig.

»Sie haben es gewußt? Woher haben Sie es gewußt?«

»Es war so bestimmt. Ich habe es gefühlt. Nehmen Sie Platz. Sie haben mich glücklich gemacht dadurch, daß Sie gekommen sind. Vielleicht werde ich Sie nie im Leben wiedersehen. Es tut gut, daß ich mich mit ein paar Worten von Ihnen verabschieden kann. Für den Unterricht habe ich mich in der Altenburg schon bedankt, jetzt will ich mich nur noch für die Wärme bedanken, die Sie in meine einsame Seele gebracht haben. Von dieser Wärme habe ich gelebt, solange ich da war. Ich danke Ihnen.«

»Für dasselbe will auch ich Ihnen danken, Agnes, für die feine und besondere Freude, daß ich mich beinahe in Sie verliebt hätte. Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen; es hat nicht viel gefehlt. Es ist nur nicht geschehen, weil ich es nicht gewollt habe. Meines Erachtens ist die Liebe etwas Lenkbares. In wen man sich nicht verlieben will, in den verliebt man sich auch nicht. Man empfindet es schnell, bei wem ein Unglück geschehen kann. Alles übrige sind technische Einzelheiten: man muß die Gelegenheit meiden, durch Aussprechen seiner Gefühle, durch den Austausch von Vertraulichkeiten, durch freundschaftlichen Verkehr das Erlebnis reif werden zu lassen. So habe ich auch gehandelt. Ich habe aber immer gewußt und weiß es auch jetzt, daß Sie mir jemand hätten sein können, der … aber lassen wir das. Das andere wissen Sie selbst. Weiter wollte ich Ihnen nichts sagen, und jetzt gehe ich. Ihre kleinen Söhne sind nicht zu Hause?«

»Ich habe sie mit dem Mädchen spazieren geschickt.«

Sie standen nebeneinander. Franzi reichte ihr die Hand zum Abschied. Dann aber, die Hand Agnes' ergreifend, ließ er sie nicht los und zog sie an sich. Ohne Widerstand sank ihm die Frau an die Brust. Ihre Lippen trafen sich. Nach dem langen Kuß ließ Franzi die schlanke Gestalt noch immer nicht aus der Umarmung und glitt mit seiner Hand langsam und heiß an ihrem Körper entlang. Agnes befreite sich errötend und mit zerzaustem Haar.

»Jetzt gehen Sie. Diese Freundschaft muß rein bleiben. Ein kleines Abenteuer bedeutet nicht viel, und ich liebe es nicht, Blümlein Rührmichnichtan zu spielen, in Ihrer Erinnerung will ich aber so bleiben, wie ich bisher war.«

»Warum?«

»Weil ich möchte, daß Sie mir viel und häufig schreiben. Jede belanglose Kleinigkeit ist mir wichtig, wenn sie von Ihnen kommt. Nicht wahr, Sie werden mir schreiben? Ich werde Ihnen auch schreiben. Dem einzigen, der mich in dieser Welt etwas angeht. Wenn Sie jetzt nicht auf mich hörten, sondern auf Ihre Gefühle, dann könnten Sie mir nicht schreiben. Sie würden jemanden betrügen, nicht nur mit einem vergänglichen Abenteuer, das man vergessen kann, sondern auch in diesen Briefen. So aber können Sie schreiben. Habe ich recht?«

Franzi stand unbeweglich und sann nach, dann nickte er stumm mit dem Kopf und gab ihr recht. Er drehte sich um, sagte nichts mehr und ging. Auf der Straße wollte er sich vor allem loben, daß er sich anständig benommen hatte. Dann aber sah er der Wahrheit ins Auge. Er wußte nur zu gut, daß er Agnes oft schreiben würde. Und er wußte nur zu gut, daß er diese Briefe vor Carolyne verheimlichen würde. Das aber war eine viel schwerer wiegende Treulosigkeit, als wenn er jetzt für eine berauschte Viertelstunde seinen Kopf verloren hätte. Es war eben alles umsonst, er war nicht dazu geboren, seine ganze Seele jemandem zu schenken. Der einstigen Einzigen ja. Das hätte er gekonnt. Jetzt konnte er nichts anderes tun, als so zärtlich zur Fürstin Carolyne zu sein, wie er dessen nur fähig war. Wenn er später neben Carolyne aushalten sollte, dann mußte er es jetzt erst recht tun, wo er gesehen hatte, wie schwer er in der Schuld der Frau stand, die ihm alles gegeben hatte, von ihm aber nichts empfing.

Agnes reiste am anderen Tage ab. Er begleitete sie nicht einmal zur Bahn, obwohl es selbstverständlich gewesen wäre, daß er sie nach zweijährigem Unterricht und guter Freundschaft begleitet hätte. Er schob aber Kopfweh vor, er wollte die warme Erinnerung an dieses feine Wesen so in sich bewahren, wie er sie in seinen Armen gehalten und ihre Gesichter sich berührt hatten. Und am Abend dieses Tages legte er sich mit dem Gedanken zur Ruhe, daß zwischen ihm und Carolyne nunmehr eine Saite gesprungen war. Nur eine einzige Saite von den vielen, das Instrument ihrer Liebe war aber nicht mehr ganz und es gab kein Wunder, das seine alte Vollkommenheit wiederherstellen würde.

Der Platz der abgegangenen Schülerin blieb nicht leer. Aus Rußland kam ein Knabe nach Weimar. Er war nicht älter als dreizehn Jahre und kam allein mit der Eisenbahn angereist, konnte aber deutsch und fand den Weg in die Stadt. Und auch den weltberühmten Mann fand er, dem er von russischen Aristokraten Empfehlungsbriefe brachte. Er hieß Karl Tausig und war ein ständig verschnupfter Junge von unscheinbarem Äußeren. Als er sich jedoch ans Klavier setzte, verwandelte er sich in einen Dämon, der alle teuflischen Kunstgriffe der Technik beherrschte und mit der unbegrenzten Fähigkeit lyrischer Hingabe gesegnet und verflucht war. Franzi hörte sich etwa zehn Stücke von ihm an, dann brachte er ihn in der Altenburg unter.

Da war immer noch Platz genug trotz der großen Veränderung, die im Hause vor sich gegangen war. Es hatte damit angefangen, daß Franzi eines Abends in der Altenburg beim Essen über Kopfschmerzen klagte und Fieber hatte. Die Fürstin legte ihm die Hand auf die Stirn.

»Sie sind krank, Franzi, Sie müssen sich sofort niederlegen.«

»Ich habe aber noch keine Lust fortzugehen. Außerdem regnet es draußen scheußlich. Ich will abwarten, bis es aufgehört hat.«

»Das hört aber nicht so bald auf, und ich lasse Sie so nicht weg. Sie werden hier schlafen, wir lassen oben ein Zimmer öffnen. Die notwendigen Sachen lasse ich vom ›Erbprinzen‹ herüberholen.«

Carolyne wartete gar keine Antwort ab und ging hinaus. Sie schickte ein Dienstmädchen in den »Erbprinzen«, das Nachtkleid, Zahnbürste und die anderen Dinge zu holen. Als die Sachen gekommen waren, braute sie dem Kranken eine heiße Limonade, brachte ihn zu Bett und gab ihm noch einen bitteren Tee, dessen Blätter sie einmal von irgendeiner polnischen Wahrsagerin bekommen hatte. Franzi lag ungefähr zwei Tage, am dritten Tage war sein Fieber vorüber. Er verließ aber das Haus noch nicht. Am vierten Tage mußte er zum Tee des Großherzogs erscheinen, von dort kam er sofort wieder nach der Altenburg und blieb wieder da. Seine frische Wäsche brachte man langsam Stück für Stück aus dem »Erbprinzen«, ebenso kamen nacheinander seine Schriftstücke, Aufzeichnungen und Bücher in die Altenburg herüber. Am zehnten Tage brachte er die Sache zur Sprache:

»Im Grunde genommen müßte ich zurück in den ›Erbprinzen‹. Mir fehlt ja nichts mehr.«

»Sehnen Sie sich denn so zurück?«

»Meine ganze Sehnsucht bindet mich hierher, mein Engel, aber ich weiß nicht, daß … Ihr Ruf …«

»Was ist mein Ruf noch wert? Ich gehöre zu Ihnen, und wem es nicht gefällt, der wird es schon sagen. An der Angelegenheit in Petersburg wird das nichts ändern, ob wir zusammen wohnen oder nicht. Solange der Metropolit noch lebt, wird die Scheidung nur sehr schwer vorangehen, das sehe ich jetzt schon. Hier gibt's nur eine Frage, und die ist, ob die großherzogliche Familie ein Auge zudrückt, wenn Sie hier wohnen, oder nicht. Das zu erledigen wäre Ihre Angelegenheit, und zwar nicht mit dem Großherzog, sondern mit Maria Pawlowna, die kann dann mit ihrem Sohne sprechen, wenn sie will. Sie sollen in jedem Fall hier schlafen, auch weiterhin.«

»Ich bleibe gerne hier, aber wie kann ich als Mann mit Maria Pawlowna über diese Sache sprechen? Warten wir lieber, bis sie oder der Großherzog etwas verlauten läßt. Machen sie irgendeine Bemerkung, haben wir immer noch Zeit, darüber nachzudenken, was geschehen soll. Mein Zimmer im ›Erbprinzen‹ behalte ich auf alle Fälle bei. Es mag leer stehen, aber auf meinen Namen.«

Dabei blieben sie auch. Franzi übersiedelte vollkommen in die Altenburg, und sie lebten jetzt miteinander wie ein ordentliches Ehepaar. Am Hofe machte niemand eine Bemerkung, obwohl jeder von der Übersiedlung wußte und die Angelegenheit mit lebhaften Randbemerkungen versah. Die großherzogliche Familie blieb einfach bei ihrer Auffassung, daß Franzi im »Erbprinzen« wohne. Dorthin schickten sie ihm seine Einladungen, dorthin ließen sie ihm Bescheid sagen, wenn sie ihn dringend zu sprechen wünschten. Der Hausdiener des »Erbprinzen« brachte dann die Briefe und Nachrichten unverzüglich in die Altenburg. Auch Carolyne ließ man nichts fühlen, man empfing sie genau so am Hofe wie früher.

Franzi arbeitete mit gesteigerter Arbeitslust, seit er ein Heim hatte. Er konnte endlich unter seinen Noten und Büchern Ordnung machen, war nicht mehr gezwungen, wegen jedes Bandes ganze Buchtürme abzuräumen, und brauchte nicht mehr einer einzigen musikalischen Notiz wegen hundert andere durchzusehen, bis er die richtige gefunden hatte. Feder und Tinte fand er stets in Ordnung, das saubere Notenpapier erwartete ihn immer schon, wie die Frau ihren Mann. Auf seinem Tisch erfreuten Blumen seinen Blick, und wenn er während der Arbeit Kaffee trinken wollte, mußte er nicht mehr stundenlang auf den Zimmerkellner warten. Zufrieden legte er sich nieder, und erfrischt stand er wieder auf. Die Arbeit ging wie am Schnürchen. Er arbeitete jetzt an der Graner Messe. Aus den Werken von Palestrina und Orlando di Lasso unterrichtete er sich über die liturgischen Normen, denen er seinen schaffenden Geist anpassen mußte. Er vertiefte sich in das Wunder des Messe-Opfer-Gedankens und erlebte nochmals die Kirchenschwärmerei seiner Jugend. Das war eine nicht ganz neue Arbeit für ihn. Hier in Weimar hatte er bereits eine kleinere Messe für Männerchor geschrieben, die anläßlich eines Gottesdienstes in der französischen Gesandtschaft aufgeführt wurde. Diese Arbeit war aber mit der heutigen nicht zu vergleichen. Jetzt wollte er mit der ganzen Kraft seiner Begabung erzählen, was ihn schon in seiner frühesten Kindheit bei den Worten: Gott, Glauben, Christus, Demut, vor dem mystischen Wunder der Verwandlung des Brotes und des Weines in dem mit heiligen Schauern erfüllten Augenblick der Hochhaltung der Monstranz bewegt hatte. Die Fürstin verfolgte seine Arbeit in seliger, jubelnder Erregung. Ihr starker, leidenschaftlicher Katholizismus hatte sich mit Franzis geringer Achtung für die äußeren Formen der Religion nie versöhnen können. Jetzt betrachtete sie ihren Geliebten wie ein Missionar den Herrscher eines wilden Volkes.

Seit Franzi zu ihr übergesiedelt war, erwachte durch die neue Form des Zusammenlebens in ihr wieder der alte Wunsch, die persönlichen Angelegenheiten ihres Geliebten klug und beharrlich zu ordnen. Aus Paris kam nämlich die Nachricht, daß Frau Patersi, die Erzieherin der Mädchen, schwer erkrankt war. Carolyne nahm sofort die Gelegenheit wahr, die Mädchen jetzt von dort wegbringen zu lassen. Aus dem Bernardschen Institut hatte man sie seinerzeit herausholen können, ohne daß es zu einer ernsten Auseinandersetzung mit der Gräfin D'Agoult gekommen wäre. Nun konnte man einen Schritt weitergehen. Die Mädchen sollten nach Deutschland kommen, in die Nähe ihres Vaters. Der Gräfin D'Agoult würde man zu verstehen geben, daß der Vater die Kosten in Paris zu bezahlen nicht mehr in der Lage sei, und daß die Erziehung der Mädchen in Deutschland viel weniger kosten werde. Die Gräfin D'Agoult hätte darauf nur erwidern können, daß sie einen Teil der Kosten übernehmen wolle; sie war ja eine steinreiche Frau. Davor brauchte man aber keine Angst zu haben, diese Antwort würde sie bestimmt nicht geben. Sie würde niemals auf den gewohnten Luxus verzichten, die reiche Bequemlichkeit ihres Lebens war ihr wichtiger, als die Nähe ihrer Kinder, die sie sowieso kaum sah, obwohl sie mit ihnen in einer Stadt wohnte. Die beiden Mädchen konnte man also mit Leichtigkeit aus Paris wegholen, und es war bloß zu erwägen, wo man sie in Deutschland möglichst nahe von Weimar unterbringen sollte. Von der Altenburg selbst konnte keine Rede sein, solange ihr Vater dort in einer freien Ehe lebte. Man dachte an die verschiedensten Internate, überlegte alle Möglichkeiten, bis der Fürstin ein guter Gedanke kam: die Töchter in Berlin bei der Mutter Hans von Bülows unterzubringen. Frau von Bülow mit ihren vornehmen Umgangsformen und ihrem gemessenen Wesen würde zweifellos eine sehr gute erzieherische Wirkung auf die Mädchen ausüben, und das Geld würde ihr ebenfalls sehr gut zustatten kommen, da Hans vorerst noch sehr bescheiden verdiente.

Carolynes Plan ging Punkt für Punkt und Wort für Wort in Erfüllung. Marie brach in Tränen aus über die Grausamkeit, die sie der Nähe ihrer Kinder beraubte, als Franzis Pariser Anwalt ihr den Wunsch des Vaters mitteilte, die Lösung aber, daß sie aus ihrem Vermögen zu den Zahlungen des vermögenslosen Vaters zuschießen könnte, fiel ihr nicht ein. Die Mädchen konnten ohne jede Schwierigkeit abreisen. Nur Mutter Liszt nahm sich die Angelegenheit sehr zu Herzen und einzig der Umstand, daß Daniel, den sie von ihren Enkeln am zärtlichsten liebte, in Paris belassen werden sollte, bis er das Gymnasium absolviert haben würde, tröstete sie ein wenig. Frau von Bülow übernahm es tatsächlich mit Freuden, mütterlich für die Mädchen zu sorgen. Sie fuhr selbst nach Paris, um sie abzuholen, und an einem schönen Sommertage kamen Blandine und Cosima in Weimar an. Auch Daniel kam mit, um seine Ferien in der Nähe des Vaters zu verbringen.

Franzi konnte der Fürstin nicht dankbar genug sein, die ihm sozusagen seine Kinder wiedergegeben hatte und jetzt auch in Weimar und nach Ablauf der Ferienwochen in Berlin unermüdlich um sie bemüht war. Sie fuhr nach Berlin, um Frau von Bülow bei der Einrichtung zu helfen und nahm auch Manja mit, um die Annäherung hartnäckig zu fördern. Blandine konnte sie schon langsam für sich gewinnen, nur mit der verschlossenen Natur Cosimas wurde sie nicht fertig. Aber auch Franzi kam ihr nicht näher. In Cosimas Verhalten war eine seltsame Scheu ähnlich der eines umzingelten wilden Tieres. Wenn man sich plötzlich an sie wandte, fuhr sie erschrocken zusammen und war sichtlich am zufriedensten, wenn man sie in Ruhe ließ. Ihrem Vater gegenüber war sie stets artig und respektvoll, aber wenn sie sich in Paris auch scheinbar nähergekommen waren, sie hatte doch immer noch etwas wie Angst vor ihm. Franzi scheute keine Mühe, die Befangenheit seines Kindes zu besiegen. Cosimas ständige scheue Zurückhaltung erweckte in ihm eine tiefe, menschliche Anteilnahme. Er beschuldigte sich selbst, daß die Seele seiner Tochter verwaist war. Und Cosima beschäftigte ihn jetzt mehr als Blandine, die schon vollständig aufgetaut war, während er Cosima verwaist sah und sie ihm immer noch fremd war. Beruhigt und glücklich überließ er seine Töchter der Obhut von Frau von Bülow und baute hoffnungsfroh darauf, daß sein öfteres Zusammensein mit den Kindern mit der Zeit Früchte tragen werde: jegliche Spannung zwischen ihm und Cosima mußte mit der Zeit genau so restlos verschwinden, wie nichts das vertraute Verhältnis von Blandine und Daniel zu ihrem Vater mehr zu stören vermochte. Hans, der fünfundzwanzigjährige junge Musiklehrer, umgab die Töchter des Meisters mit geschäftiger Höflichkeit, an der immer wärmer werdenden familiären Vertrautheit wollte auch er unter allen Umständen teilnehmen. Aus dem kleinen Hans war ein würdiger ernster, um alles in der Welt älter aussehen wollender Mann geworden. Mit großer Sorgfalt pflegte er seinen Schnurrbart und sein sprießendes Spitzbärtchen. Er gab am Hofe Stunden, da ihn Franzi dem Erbprinzen empfohlen hatte und sich vor seiner Empfehlung nach wie vor die goldenen Türen öffneten. Die Tochter des Erbprinzen, Herzogin Louise, lernte bei Hans von Bülow Klavierspielen, und der junge Lehrer berichtete zu Hause Liszts Töchtern mit gebührendem Stolz über die glanzvollen Einzelheiten des höfischen Lebens.

Aber man mußte Hans wirklich mit jedem Tage ernster nehmen. Noch in diesem Herbst machte er seinem Meister eine große Überraschung. Er lud ihn ein, in Berlin ein Konzert zu geben. Franzi blieb der Atem weg, als er in dieser Angelegenheit den ersten Brief bekam. Der Direktor des Konservatoriums, an dem Hans tätig war, befaßte sich auch mit Konzertveranstaltungen. Für diesen Herbst plante er eine Serie von Konzerten, und Hans hatte es durchgesetzt, daß in dieser Folge auch der Künder der »neuen Musik«, Franz Liszt, als Tondichter einen Platz bekommen sollte. Die Einladung machte Franzi sehr glücklich. Berlin war ihm damals sehr wichtig. Nicht seinetwegen, sondern Wagners wegen. Schon seit langem hatte er alles mögliche unternommen, um eine »Tannhäuser«-Aufführung in Berlin zustande zu bringen. Diese Oper war bis jetzt nur auf einer kleinen Provinzbühne mit Erfolg gespielt worden; eine Berliner Aufführung hätte die ganze Angelegenheit mächtig vorwärts gebracht. Selbstverständlich hing sehr viel davon ab, wie die Oper gespielt wurde. Eine verständnislose Einstudierung würde mehr schaden als nützen. Deswegen hatte Wagner, der Franzis hartnäckige, energische Schritte mit Briefen unterstützte, sich ausbedungen, daß der »Tannhäuser« in Berlin nur aufgeführt werden sollte, wenn für die Einstudierung und Leitung Liszt gewonnen würde. Der Berliner Intendant, Graf Hülsen, hatte sich aber bisher nicht getraut, diese Bedingung zu erfüllen, weil er fürchtete, damit den Zorn aller Berliner Dirigenten gegen sich heraufzubeschwören. Franzi aber ließ die Sache nicht dabei bewenden und gab sich mit der ersten Antwort nicht zufrieden. Er setzte weiterhin seine Schachfiguren und hoffte zuversichtlich, daß doch er es sein würde, der den Berlinern die Musik des »Tannhäuser« nahebringen durfte. Deswegen also war das, was Hans jetzt für ihn erreicht hatte, so wichtig. Franzi war bestrebt, seine Beziehungen zu den Berliner musikalischen Größen zu festigen, und es war für ihn keineswegs gleichgültig, daß er seine eigenen Kompositionen dem Berliner Publikum vortragen sollte. Nicht im Interesse seines eigenen Erfolges, sondern im Interesse der Sache, mit der nunmehr seine Musik untrennbar verwachsen war.

Während wegen seiner in das Berliner Programm aufzunehmenden Tonwerke ein Brief den anderen jagte, arbeitete er mit unvermindertem Eifer für die Berliner »Tannhäuser«-Aufführung. Eine große moralische Stütze war ihm dabei der Umstand, daß Wagner die Aufführung von seiner Leitung abhängig gemacht hatte. So war er imstande, das Gewicht seiner persönlichen Autorität in die Waagschale der Verhandlungen zu werfen, er konnte alles mit seinem persönlichen Auftreten verknüpfen und, während er im Interesse Wagners sich kaum an die Mitglieder des Herrscherhauses hätte wenden dürfen, da Wagner noch immer ein verfolgter Emigrant war, konnte Franzi dies mit seinen Anliegen getrost wagen. Er ersuchte also einfach den Großherzog von Weimar, er möge dem König von Preußen schreiben, daß dieser durch ein Machtwort den Grafen Hülsen veranlasse, Liszt als Dirigenten heranzuziehen. Der Großherzog erfüllte diese Bitte auch und schrieb sofort an den König. Franzi rieb sich freudig die Hände, wie geschickt er das im Interesse Wagners wieder einmal gemacht hatte. Jetzt war es wenigstens sicher, daß die Musik des »Tannhäuser« in richtiger Wiedergabe vor die Ohren der Berliner gelangen würde. Er freute sich ungemein über diese Angelegenheit, als er aus Berlin eine überraschende Nachricht erhielt: der Intendant hatte versucht, sich unmittelbar mit Wagner in Verbindung zu setzen, das war ihm auch gelungen, und Wagner hatte seine Forderung, daß Liszt dirigieren solle, zurückgenommen.

Zwischen Franzi und der Fürstin entfachte das einen langen Streit. Die Fürstin war der Meinung, daß Wagner seine Bedingungen zwar großspurig stelle, wenn es sich aber dann so füge, daß er irgendwo zu Geld gelangen könne, wäre er sofort bereit, seinen Wohltäter im Stiche zu lassen. Franzi hingegen war der Meinung, daß Wagner diese Bedingung wohl aufrechterhalten habe, solange er nur konnte, und erst als er die Unmöglichkeit, sie durchzusetzen, eingesehen habe, es vorgezogen habe, den »Tannhäuser« eher ohne seinen Freund als überhaupt nicht aufgeführt zu sehen. Er verteidigte Wagner bis zum letzten Atemzug, hatte noch obendrein das Gefühl, daß Wagner nun seinetwegen in eine sehr heikle Sage geraten sei, und beeilte sich deshalb, ihm schriftlich Absolution zu erteilen.

»Über die Tannhäuser-Angelegenheit in Berlin wollen wir uns keine grauen Haare wachsen lassen. Ich sah es im voraus so kommen, obschon ich für meinen Teil nicht dazu beitragen konnte noch vermochte. Ich gewähre gerne Deinen Berliner Freunden die Befriedigung, welche sie in diesem Ausgang der Sache finden, und hoffe, daß sich noch manche andere Gelegenheiten treffen werden, wo ich Dir nicht überflüssig oder unbequem sein kann.«

Mochte er in Berlin den »Tannhäuser« nicht einstudieren und dirigieren dürfen, – die Hauptsache war doch, daß man ihn überhaupt aufführte. Das hatte endlich auch Graf Hülsen beschlossen, das Berliner Opernhaus hatte die Aufführung des Werkes, das schon soviel Lärm und Streit verursacht hatte, auf den kommenden Januar festgesetzt. Jetzt war es allerdings erst Ende November, und Franzi mußte sich vorerst mit seinem eigenen Konzert befassen.

Als er in Berlin angekommen war, um den Orchesterproben beizuwohnen, entstieg er dem Zug mit sonderbaren Gefühlen. Ihm fielen jene Berliner Tage ein, als ihm diese Stadt in seiner Virtuosenzeit einen in der Geschichte noch nicht dagewesenen Triumph bereitete, als ihm die ostentative Freundschaft des Hofes zuteil wurde und er täglich Gast des Königs und des Kronprinzenpaares sein durfte … als ihn die heiße und duftige Liebe der schönen Charlotte von Hagn umgab … als Graf Teleki sich seinetwegen duelliert hatte und auf dem Gang seines Hotels aufgeregte Frauen warteten … Und als ihn zum Abschied eine märchenhafte Kutsche in der Begleitung einer uniformierten Reiterschar die jubelnden Straßen entlang fuhr … Das war nun schon fünfzehn Jahre her, und seitdem hatte sich vieles, vieles ganz gründlich geändert. Die schöne Charlotte hatte geheiratet, sich wieder scheiden lassen und lebte jetzt irgendwo gelähmt ihre freudlosen Tage, die erfolglose, blutige ungarische Revolution hatte den Grafen Teleki zum flüchtigen Emigranten gemacht; er selbst war nicht mehr der Orpheus, dessen Finger dem Klavier Zaubertöne entlockten, sein künstlerisches Streben war jetzt darauf gerichtet, einen viel schwereren Felsen zu bewegen als damals. Der Titan des Klavieres hatte den Nibelungenhort des Erfolges dem Zwerg hingeworfen, und mit dem Schwert, dem Notung der neuen Musik, in der Hand, stürzte er sich in den Kampf, damit statt des funkelnden Ringes dieses Schwert die Welt beherrsche.

Am Bahnhof empfing ihn eine Schar junger Männer: Hans und die Anhänger der »neuen Musik«. Nach treudeutscher Art hatten sie sich schon organisiert und zusammengefunden, es gab schon einen Empfangsausschuß, einen Organisationsausschuß und einen Vergnügungsausschuß. Sie hatten bereits für jeden Tag einen fertigen Plan ausgearbeitet mit Proben, Festmahlen, Besuchen und Banketts. Für zwei Wochen im voraus war schon festgesetzt, was Franzi nachmittags um halb fünf Uhr zu tun hatte.

»Was bedeuten denn diese eingekreisten Stunden?« erkundigte sich Franzi.

»Das sind Cosimas Stunden«, erwiderte Hans. Dann plötzlich rot werdend, verbesserte er: »Die Stunden von Blandine und Cosima. Jeden Tag haben wir eine kurze Zeit frei gelassen, daß du auch mit deinen Töchtern zusammen sein kannst, soweit es möglich ist.«

Dieses Erröten war Franzis Aufmerksamkeit nicht entgangen. Und als er im Heim seiner Töchter bei Mutter Bülow am Familientisch Platz nahm, bemerkte er, daß auch Cosima sich auffallend verändert hatte. Bis jetzt war sie unfraulich, unausgeglichen und eckig gewesen. Jetzt hatte sie sich mit einem Male in eine junge Dame verwandelt, sie schien fraulicher und erwachsener als die um zwei Jahre ältere Blandine. Im Vater blitzte die Erkenntnis auf: Cosima und Hans interessierten sich füreinander. Das erfüllte ihn mit einer so großen Freude, daß er eine Zeitlang kein Wort über die Lippen bringen konnte. Diesen Jungen liebte er fast so sehr wie Daniel. Wenn das Schicksal ihn gefragt hätte, in wen Cosima sich verlieben solle, – er selbst hätte Hans gewählt. Vorerst wußte er aber noch nicht, wie tief die Gefühle zwischen den beiden waren. Vielleicht wußten sie es selbst noch nicht. Dann aber mußte man sehr vorsichtig mit ihnen umgehen. Es gibt keinen scheueren Vogel als die keimende Liebe, man muß sich ihm auf Zehenspitzen nähern.

Hans bestand schon am ersten Abend darauf, daß die Mädchen ihrem Vater etwas vorspielten. Er ließ zuerst Blandine spielen, sein Bestreben war aber offensichtlich, Cosima als die noch Begabtere herauszustellen. Und Cosima spielte tatsächlich blendend Klavier. Irgend etwas Tiefgründiges tauchte in ihrem Spiel auf. Sie konnte schon soviel, daß sie in einem öffentlichen Konzert ruhig hätte auftreten können.

»Ich bin von euch entzückt, ihr Mädchen«, sagte der Vater, »aber auch von Hans' Begabung.«

Sowohl Cosima als auch Hans wurden tief rot. Blandine freute sich nur der väterlichen Anerkennung. Hier war kein Zweifel. Franzi hütete sich, verräterisch neugierige Blicke auf die beiden zu werfen. Aber seine seufzende Sehnsucht, deren Wünsche er nicht in Worte kleidete, war einem Gebet in der Kirche gleich: wenn doch diese zwei jungen Seelen einander gehören würden …!

Am anderen Morgen begannen sie mit den Proben und arbeiteten hart bis zum Tage des Konzertes. Franzis Zeit war ständig bis auf die Viertelstunden eingeteilt. Auf jeden Tag fielen sechs verschiedene Besuche oder eine Audienz am Hofe, jeden Abend mußte er ins Theater oder zu einem Konzert gehen, jeden Vormittag arbeitete er mit dem Orchester, jeden Mittag und jeden Abend nahm er an einem Bankett teil. Das bedeutete täglich zwei Reden, da er auf die Toaste antworten mußte.

»Die Kunst steht über dem Künstler«, sagte er gleich in seiner ersten Rede, »einst ging ich aus dieser Stadt als der Herrscher über die Kunst, jetzt kehre ich als ihr demütiger Sklave hierher zurück.«

Zum Konzert füllte sich der Saal bis auf den letzten Platz. In der ersten Reihe saß Frau von Bülow zwischen Blandine und Cosima. Glänzendes Publikum, der Hof, die Aristokratie, Schmuck, dekolletierte Toiletten, eine dumpfe, massige Erregung. Franzi trat in seinem schnittigen Frack, das Adlergesicht von der Löwenmähne umgeben, vor. Höflicher Applaus empfing ihn, ein von Erwartung getragener Applaus, ein Fragezeichen sozusagen. Er klopfte und schwang seinen Dirigentenstab. Das Orchester setzte mit der farbigen und schwelgerischen Musik der »Préludes« ein. Sie lösten großes Gefallen aus, was angesichts der melodischen Art und der bezaubernden Lieblichkeit des Liebesthemas auch zu erwarten war. Schöner, warmer Beifall.

»Bis hierher war es großartig«, rief Hans aufgeregt im Künstlerzimmer, »es soll nur so weitergehen.«

Jetzt folgte das »Ave Maria« mit gemischtem Chor und Orgel. Das war schon ein etwas schwierigeres Werk. Dazu war ein sicherer und guter Chor erforderlich, denn die stellenweise kühne und ungewohnte Harmonik hätte die gewohnheitsmäßig arbeitenden Choristen leicht irreführen können. Als Franzi zu dem Teil kam, wo er beim » fructus ventris tui« die Melodie durch den Tenor über den Sopran geführt hatte, vergaß er zu dirigieren. Er stand selbst als Zuhörer auf dem Podium und nicht als Dirigent. Nachdem der Tenor seine Takte glücklich überstanden hatte, dachte er, seinen Taktstock schwingend, resigniert, fast belästigt darüber nach, was das alles wohl für einen Zweck hatte, wieviel Leute in diesem Saale sein mochten, ob auch nur zwei unter ihnen wären, die sofort begriffen, was der Tondichter mit diesem Teil seines Werkes sagen wollte?

Auch dieses Werk war zu Ende, es war von keinem Beifallssturm begleitet, aber es wurde doch lebhaft applaudiert. Nun trat Hans vor und setzte sich ans Klavier. Er sah seinem Meister mit einem liebevollen zutraulichen Blick in die Augen, als ob er sagen wollte: »Fürchte dich nicht, ich bin da, wir beide verstehen uns!« Das Es-dur-Klavierkonzert war an der Reihe. Als Franzi den Dirigentenstab hob, durchzuckte sein Komponistenherz mit blitzartiger Geschwindigkeit der fromme Wunsch: »Mein lieber Gott, ich kümmere mich ja nicht um den Beifall der Masse, das weißt du am besten, dieses mein Werk aber, dieses liebe Kind habe ich sehr gerne, mach', daß es großen Beifall findet.« Der Dirigentenstab setzte an, in den nun erklingenden Tönen war etwas ganz besonders Erregendes, etwas Unwiderstehliches. Dieses Werk war bis jetzt nur einmal aufgeführt worden, in der familiären Stimmung des Weimarer Hofes bei einem Hofkonzert. Der damals als Gast anwesende Berlioz dirigierte und Franzi selbst saß am Klavier.

Heute dirigierte er und erfüllte seine Aufgabe recht treulos. Seine Aufmerksamkeit galt nicht dem Orchester, sondern zwei Lebewesen, die für seine Seele unvergleichlich viel bedeuteten: Hans und Cosima. Vor seinen Augen Hans und das Klavier, hinter ihm in der ersten Reihe Cosima, um sie herum, alles umfassend, das Tönen der Komposition.

Hans spielte vollkommen, fast so, als hätte er, Franzi, es selbst gespielt, der am Klavier mehr als vollkommen war. Als am Klavier das Hauptmotiv mit männlicher Kraft erklang, summte Franzi leise und glücklich den stark pulsenden, hart geschmiedeten Rhythmus mit: »tararampamratatam«. Und er begann zu lächeln, weil ihm einfiel, daß Hans zu diesen zwei Takten immer zu sagen pflegte: »Dies versteht ihr alle nicht!« Wahrhaftig, was hätten die besten Ohren beim ersten Hören davon begriffen, daß der Tondichter zwei chromatisch verkürzte Septakkorde ineinander geflochten hatte, die einander auf halben Stufen folgten? Was konnten sie auch von dem umfassenden Gedanken des ganzen Werkes wissen, wenn er zwischen dem » Quasi adagio« und dem lyrischen Satz als vermittelnden Kontrast den pikanten Satz des Scherzos eingelegt hatte? Wie hätten sie auch aus der sorgfältigen Verteilung der Gedanken diesen ureigenen Liszt-Stil herausfühlen können, in dem der Tondichter ganz einzigartig und keinem anderen vergleichbar das, was er zu sagen hatte, abrundete und zusammenfaßte? Hans hatte dort am Klavier keine kleinere Arbeit vollbracht, als sämtliche Erfolge, die der erste Klavierspieler der Welt durch unendlich viel Grübeln, qualvolle Kämpfe, unbeschreibliche Selbstkasteiung und Selbstantreibung, auf Höhen, die noch niemand betreten und noch niemand gesehen, gesammelt hatte. Was kann in so einem Fall jemand antworten, der das noch nie Gehörte zum ersten Male hört? Wenn auch Wohlwollen und Zutrauen in dem Zuhörer wohnen, so kann er nur mit einem zögernden Beifall antworten: das alles mag ja interessant sein, aber ich verstehe es noch nicht ganz.

Dieser zögernde Applaus trat dann auch ein. Und das, was an Wärme mitklang, das galt bestimmt auch nur den Äußerlichkeiten, dem staunenswerten Können Hans' und seinem sympathischen Äußeren, der interessanten Persönlichkeit des berühmten Tondichters und dem unwiderstehlichen Zauber seiner Erscheinung. Dort auf dem Podium neigten beide ihre Köpfe und sahen beide in die erste Reihe hinunter, in der Frau von Bülow mit den Mädchen saß. Die Mutter spendete ihrem Sohn Beifall, der Vater dankte seinen Töchtern für ihren Applaus. Einem die Zuschauer und das Podium verbindenden Feuermeer gleich, flammte zwischendurch die junge Liebe von Hans und Cosima auf.

Auf das Klavierkonzert folgte die Tasso-Symphonie, die Stimmung schien ziemlich warm zu sein. Endlich folgte die Erstaufführung, die neueste Arbeit, der dreizehnte Psalm Davids, dessen Musik während der erhabenen Arbeit an der Graner Messe als erfrischende Atempause in den glücklichen und alles vergessen lassenden Minuten der Erhebung zu Gott entstand.

»Herr, wie lange willst du meiner so gar vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängstigen in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Schaue doch und erhöre mich, Herr, mein Gott! Erleuchte meine Augen, daß ich nicht im Tode entschlafe.

Daß nicht mein Feind rühme, er sei meiner mächtig geworden und meine Widersacher sich nicht freuen, daß ich niederliege.

Ich hoffe aber darauf, daß du so gnädig bist; mein Herz freut sich, daß du so gerne hilfst. Ich will dem Herrn singen, daß er so wohl an mir tut.«

Des aus der Tiefe rufenden Menschen klagendes Tenorsolo erklang. Das Summen des Orchesters und des Chores gab zu der qualvollen Verlassenheit des in der Finsternis schluchzenden Verwaistseins und zu der erstrahlenden, auf den Himmel bauenden Hoffnung den Hintergrund.

Durch die fünf Psalmenverse schmetterte, ächzte, schluchzte die musikalische Klage und jauchzte die musikalische Hoffnung, um dann mit der in Trommelwirbeln pulsenden mächtigen Freude der letzten A-dur-Töne das Berliner Konzert zu beenden: »Ich will singen, daß du so wohl an mir getan!«

Man spendete dem Tondichter herzlichen Beifall, dreimal mußte er aus dem Künstlerzimmer aufs Podium zurückkehren; das Publikum, das ans Fortgehen gar nicht dachte, wollte ihn immer wieder und abermals von neuem sehen. Anders konnte man das gar nicht ansehen, denn als einen wirklich großen Erfolg. Die Augen der beiden Mädchen standen voller Tränen vor stolzer Freude, als sie mit Frau von Bülow zu Franzi und zu Hans ins Künstlerzimmer eilten. Und dem Vater genügte zu sehen, wie einfältig und verstört sich Hans und Cosima die Hände reichten, um sein Glück über seine Kinder und über seine Musik vollkommen zu machen. Dem Konzert folgte noch ein Festbankett, bei dem ein jeder über den großen Erfolg der »neuen Musik« sprach. Jeder hielt es für zweifelsfrei, daß Franz Liszt, der Tondichter, in der Beurteilung des großen Publikums Franz Liszt, den Klavierkünstler, einzuholen begann. Und es schien selbstverständlich, daß am anderen Tage auch die Presse nichts anderes tun konnte, als von einem nicht in Abrede zu stellenden Erfolg zu berichten. Nur Humboldt, der liebe, weise alte Gelehrte, sagte dem Gefeierten:

»Erwarten Sie nicht viel von der Musikkritik für morgen. Die Berliner Musikkritik findet eine krankhafte Freude daran, alles zu vernichten, was sie vor sich sieht.«

Franzi nickte höflich auf die Bemerkung des alten Herrn, meinte aber, daß er ungerecht wäre und Gespenster sähe. Von denen, die zu dieser Zeit in Berlin Musikkritiken schrieben, hatte Franzi zwar keine große Meinung, wo aber der Erfolg so offensichtlich war, dort konnte auch die Sachkenntnis nichts anderes feststellen, als eben den Erfolg.

Am anderen Tage weckte ihn Hans aus dem Schlaf. Er stand vor seinem Bett und hielt einen großen Stoß Zeitungen in seiner Hand. Er hatte unverkennbar schon geweint. Sein Mund zuckte und aus den Augen des guten, treuen Jungen rannen die Tränen. Franzi hatte auf dem Bankett viel getrunken und kam erst langsam zur Besinnung. Als er aber den aufgewühlten jungen Mann sah, begann er zu verstehen, daß mit der Presse irgend etwas nicht in Ordnung war.

»Was schreiben sie?« erkundigte er sich, sich im Bett aufstützend.

»Diese Gauner, diese Esel, diese nichtsnützigen Kreaturen!« schimpfte Hans zähneknirschend.

Franzi überflog nacheinander die Kritiken. Die Presse lehnte seine Musik einstimmig ab: »Liszt ist anscheinend unfähig, sich von der Unmöglichkeit seiner Musik zu überzeugen.« Der eine verkündete mit Bedauern, der andere mit schultertätschelnder Teilnahme, der dritte mit schäumendem Zorn, daß der große Klavierkünstler als Tondichter auf vollständig falschem Pfade wandle, daß das, was er schaffe, unbrauchbar und uninteressant und ein Attentat gegen die ewigen Regeln der Musik sei. Die zornigen Ergüsse konnte man noch mit einem Lächeln der Verachtung überfliegen, die Artikel aber, die mit offensichtlicher Achtung und gespreiztem Wohlwollen bedauernd das Todesurteil über seine Musik fällten, die taten sehr weh. Dieser stolze Mensch, der immer so leicht zu behaupten pflegte, daß er für die Zukunft und nicht für das Heute arbeite und daß ihm die Verherrlichung und die Ränke der Unverständigen gleichermaßen gleichgültig seien, stellte jetzt mit aufgeregtem Herzklopfen sprachlos und verwundert in sich einen empfindlichen Schmerz fest. Er konnte es nicht leugnen, durch diese Kritiken litt er grausam und brennend.

Bis zum Nachmittag hatte er sich aber schon wieder beruhigt. Er hatte sich selbst schon wiedergefunden und konnte lächelnd von der schweren Presseniederlage sprechen:

»Erst jetzt sehe ich, was für ein minderwertiger Beruf es ist, ein Virtuos zu sein. Ich habe noch aus meiner Virtuosenzeit die Empfindlichkeit gegenüber der Presse zurückbehalten, die kleinlich, äußerlich und meiner gar nicht würdig ist. Ich muß noch viel an mir arbeiten, bis ich ein Künstler nach meinem Geschmack werde.«

»Verliere nur nicht deine Arbeitslust«, entgegnete Hans ängstlich und faßte nach der Hand seines väterlichen Freundes.

»Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde sie nicht verlieren. Solche Tage lehren mich, daß es sehr schön ist, weit abseits der Masse zu schreiten, daß es aber auch zugleich sehr traurig ist. Das Ganze ähnelt ein wenig dem Schicksal der Märtyrer. Um so besser. Von Beethoven schrieb eine Prager Zeitung nach der A-dur-Symphonie, daß er für das Irrenhaus reif geworden sei. Ich mache meine Arbeit weiter, weil ich daran glaube, eine Pflicht erfüllen zu müssen. Hab' keine Angst, mein Sohn Hans, wir sehen weder nach rechts, noch nach links, wir gehen weiter.«

»Wir gehen weiter«, wiederholte Hans in seiner ruhigen und ernsten Art, »du, auch Wagner und hinter euch auch ich. Ich habe gestern den ganzen Abend in diesem Saal das Gefühl gehabt, daß wir nur zu dritt anwesend waren: wir zwei und Wagner.«

Der kluge Blick Cosimas heftete sich strahlend auf die beiden Menschen, ihren Vater und ihren heimlich Auserwählten.

Franzi fuhr dann nach Weimar zurück und verbrachte das Weihnachtsfest mit der Fürstin, Manja und seinen Schülern. Während der Feiertage erhielt er einen Brief des Grafen Hülsen, ob Franzi ihm nicht den Gefallen tun würde, nach Berlin zu kommen und an einigen Proben zu »Tannhäuser« teilzunehmen, da sie in vielen Einzelfragen sich überhaupt nicht zurechtfänden.

»Großartig, großartig!« frohlockte Carolyne, »sie sind also doch auf Sie angewiesen! Jetzt mögen sie ruhig dort sitzen und die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben! Und Wagner wird auch einsehen, wenn sein Stück durchfällt, was er ohne Ihre Mithilfe wert ist. Ich bin aber glücklich.«

»Freuen Sie sich nicht, meine liebe Carolyne, denn ich fahre morgen nach Berlin.«

»Was? Ist das Ihr Ernst? Haben Sie, Franzi, denn um Himmels willen nicht ein bißchen Selbstbewußtsein?«

»Sie beurteilen die ganze Lage falsch. Hier ist nicht von meiner Person die Rede, sondern von der Sache. Verstehen Sie das nicht? Von der Sache! Ich reise morgen.«

Und er fuhr. Er wohnte den Proben bei, arbeitete, erklärte, schrie sich heiser und blieb auch zur Aufführung dort. Wagners Kusine, Johanna, sang die Rolle der Elisabeth; mit ihr hatte er besonders geübt, sich mit ihr ereifert, sie getröstet und begleitet. Und am Tage nach der Aufführung ging er auf die Post, um zu telegraphieren: »Gestern Tannhäuser. Vortreffliche Vorstellung. Wundervolle Inszenierung. Entschiedener Beifall. Glück zu! F. Liszt.« Aus Weimar berichtete er außerdem in einem langen Brief auch über die Einzelheiten und teilte darüber hinaus noch mit, daß er nach Wien fahre, da er dort dirigieren müsse, und die Antwort Wagners deshalb dorthin erbäte.

Als er in dem seit langem nicht mehr gesehenen Wien ankam, erwartete ihn auch schon die Antwort: »Einen Brief von mir, lieber Franz, wirst Du in Wien (durch Glöggl) erhalten haben. Ich nehme meine darin ausgesprochene Anfrage noch einmal auf und frage Dich: kannst Du mir die fraglichen tausend Frank besser noch schenken? und wäre es Dir möglich, mir für die nächstfolgenden zwei Jahre jedesmals wieder einen jährlichen Zuschuß von der gleichen Höhe zu legieren? … Dein Brief hat mir einmal wieder sehr wohl getan! Ja, lieber Franz, ich vertraue Dir, und weiß, daß es mit uns eine höhere Bewandtnis hat –: könnte ich mit Dir zusammen leben – so wollte ich noch manches Schöne schaffen! – Leb' wohl und habe innigen Dank für Deine herrliche Freundschaft. Dein R. W.«

Als Franzi den Anfang des Briefes nochmals überflog, lächelte er wie ein an einer verbotenen Stelle badendes Kind. Er freute sich, daß Carolyne jetzt nicht bei ihm war, und nahm sich vor, ihr diesen Brief niemals vorzulesen.


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