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Siebzehntes Kapitel

In Wien sollte die hundertste Wiederkehr von Mozarts Geburtstag gefeiert werden, und den Veranstaltern kam der Gedanke, das Erinnerungskonzert an das Wunderkind des achtzehnten Jahrhunderts von dem Wunderkind des neunzehnten Jahrhunderts dirigieren zu lassen. Er übernahm beglückt diese Aufgabe und dirigierte zwei große Konzerte, die nur Mozart-Werke auf der Spielfolge hatten.

Da sah er zum ersten Male den Herrscher seines Heimatlandes: in der Hofloge war der Kaiser erschienen, der siebenundzwanzigjährige Herrscher mit einer großen Anzahl blitzender Orden auf seinem schneeweißen Generalsrock, mit dem goldenen Vließ am Hals, neben ihm die bezaubernd schöne Kaiserin Elisabeth. Als Franzi auf das Podium trat, verneigte er sich zuerst nach der Hofloge. Der junge Kaiser hatte ihn nicht beachtet, er sagte gerade etwas nach hinten zu seinen Begleitern, die strahlende Kaiserin aber neigte kaum merklich ihren Kopf mit der dichten Haarkrone und hob das Fernglas sofort an die Augen. Sie waren schön, strahlend und jung, in der gemeinsamen Erscheinung des Herrscherpaares war etwas märchenhaft Anziehendes. Und als sich Franzi umgedreht hatte, um mit dem Taktstock zum Zeichen des Beginns auf den Notenständer zu klopfen, mußte er an den Grafen Ludwig Batthyani, seinen einstigen Gastgeber in Preßburg, denken. Und an alle die anderen, an die dreizehn Generäle, an die Erschossenen und durch Strang Erwürgten … Er konnte mit seinen Gefühlen nicht zurecht kommen. Da überließ er sich den Schönheiten der g-moll-Symphonie. Wien, sein altes, liebes Wien, ergriff auch jetzt mit begeisterter Liebe Partei für ihn, wie einst vor dreißig Jahren für den kleinen Jungen. Nach dem letzten Stück war der Beifall so riesengroß, daß er minutenlang auf dem Podium im Sturm des dröhnenden Applauses ausharren mußte. Auf dem geschmückten Podium stand die Büste Mozarts, daran angelehnt der festliche Lorbeerkranz. Plötzlich erhob sich in der ersten Reihe der Wiener Bürgermeister, schritt auf die Büste zu, ergriff den Lorbeerkranz und reichte ihn Franzi. Der Applaus steigerte sich zu unbeschreiblichem Toben. Der Meister warf einen Blick in die Hofloge, ob das kaiserliche Paar wohl den Erfolg seines ungarischen Untertanen sähe, die Loge war aber schon leer.

Franzi wohnte bei Eduard, seinem um viele Jahre jüngeren Onkel, in der inneren Stadt, in einem »Schottenhof« genannten großen Hause. Eduard war sein einziger Verwandter, mit dem er überhaupt zusammenkam und oft Briefe wechselte; sie hatten einander sehr liebgewonnen. Da ihr umgekehrter Altersunterschied ihr verwandtschaftliches Verhältnis geradezu komisch erscheinen ließ, beschlossen sie gutgelaunt, sich gegenseitig als Vettern zu betrachten. Der Vetter in Wien war Jurist und erfreute sich bereits des Rufes, der beste Redner unter den Wiener Strafverteidigern zu sein. Er war schon außer der Reihe befördert worden und erwartete jetzt gerade seine Ernennung zum Staatsanwalt. Er hatte auch eine Familie gegründet und die Tochter eines Offiziers geheiratet; einen Sohn hatte er auch schon, dem Franzi Pate war und den man auch Franz Liszt genannt hatte.

»Wo ist denn dieser große Junge, ich will ihn mal sehen!«

»Um diese Zeit schläft er schon«, erwiderte Henriette, die junge Mutter, »wenn du aber auf den Zehenspitzen gehst, darfst du ihn dir ansehen.«

In dem kleinen Bettchen mit dem Spitzenvorhang betrachtete sich Franzi den schnaufenden Franz Liszt. Der Patenjunge war ein gesunder, pausbackiger kleiner Kerl und nach Meinung der Eltern mit keinem anderen Kinde zu vergleichen. Die meisten Sätze Eduards und Henriettes fingen damit an: »Nicht deswegen, weil es mein Sohn ist …« Sonst war Eduard ein außerordentlich gescheiter Kopf, sehr belesen, interessierte sich für alles, war für Debatten von hohem Niveau zugänglich, und sein Klavierkönnen überflügelte weit den Durchschnitt. Das Es-dur-Konzert seines Verwandten konnte er zum Beispiel ganz gut spielen. Franzi zog hauptsächlich die familiäre Verbundenheit an. Wenn Eduard ihn über Mutter Liszt befragte, wie sich denn Tante Anna in Paris fühle, ergriff ihn mit einem Male eine familiäre Vertrautheit, er fühlte sich durch Eduard geborgen in der Luft bürgerlicher Sauberkeit, er, dessen Kinder einer außerehelichen Liebe entsprungen waren.

»Wer ist das?« erkundigte er sich nach einem Miniaturporträt in ovalem Rahmen.

»Das ist mein Onkel, Baron Richler«, erwiderte Henriette, »ein Deutschmeister-Oberst, ein sehr lieber Mensch.«

Ohne ihn gesehen zu haben, war Franzi diesem Deutschmeister-Obersten sofort zugetan. Dann sprachen sie vom Großvater Adam, von der außerordentlichen Klugheit Daniels, seinen Zeugnissen mit lauter Einsen, von den Mädchen und von Cosimas junger Liebe. Henriette war voller neugieriger Fragen: wie alt war Bülow? wieviel Gehalt bezog er vom Konservatorium und, was die Hauptsache war: liebte er seine Mutter? »Denn aus einem jungen Mann, der seine Mutter nicht liebt, wird nie ein guter Gatte!« Da fingen beide Männer die gute Henriette lustig an zu hänseln, daß sie doch alles nur auf sich bezöge, weil sie selber einen Sohn habe. Henriette war beleidigt, sie versöhnten sie wieder, in der behaglichen Stimmung von Milchkaffee und Kuchen vergingen die Stunden, und Franzi stellte mehrmals verwundert fest, daß er in seinem vorgeschrittenen Alter zum ersten Male fühle, was es heißt, kein Heim zu haben. In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die Schuld entweder an ihm selbst oder an Carolyne liegen müsse, denn auch die Altenburg gab ihm nicht das Gefühl des Heimes. Die liebevolle Ruhe der Schottenhofer Anwaltswohnung wurde noch während Franzis Anwesenheit in Wien durch ein großes Ereignis erschüttert: Franzi erhielt vom Hofmarschallamt die Mitteilung, daß Ihre Majestät, die Kaiserin Elisabeth, ein Hofkonzert zu veranstalten wünsche, und der Hof es gern sehen würde, wenn Franz Liszt bei diesem Konzert den Klavierpart übernähme. Diese Nachricht des Hofmarschallamtes überbrachte ein außerordentlicher würdiger und steifer Hofkavalier, der eigens deswegen in den Schottenhof kam. Franzi überlegte nur eine Sekunde lang, dann schüttelte er den Kopf:

»Die Aufforderung ehrt mich sehr, sie kam aber an die falsche Adresse. Ich bin kein Klavierkünstler mehr. Ich habe eine andere Laufbahn eingeschlagen. Ich bin jetzt nur noch Komponist. Wenn das Hofmarschallamt in diesem Konzert eins meiner Werke vorführen will, so würde ich das für eine große Auszeichnung erachten.«

»Wie soll ich das verstehen? Daß Sie nicht aufzutreten wünschen?«

»In der Tat, ich spiele nicht mehr öffentlich Klavier.«

»Aber, mein Herr, Sie haben vielleicht geruht, es falsch zu verstehen. Es ist davon die Rede, daß Sie vor dem kaiserlichen Paar spielen sollen.«

»Wenn nur die kaiserlichen Majestäten anwesend sein werden, spiele ich selbstverständlich gerne, das wird dann vielleicht einer der schönsten Abende meines Lebens.«

Der Hofkavalier erwiderte nichts, nur daß er Seiner Exzellenz entsprechend Meldung erstatten wolle, aber nicht glaube, daß Seine Exzellenz diese Antwort mit den bestehenden Sitten in Einklang finden würde. Dann nickte er mit dem Kopf, schlug die Hacken zusammen und ging fort. Eduard war nicht zu Hause, erst mittags erfuhr er von der Angelegenheit. Erschrocken schlug er die Hände zusammen.

»Was hast du gemacht, Franzi? Du hast deine Sache beim Wiener Hof für immer verdorben.«

»Das glaube ich nicht. Es ist bestimmt ein Sachverständiger da, der versteht, daß ich über allen diesen Dingen stehe.«

»Das hat mit dem Verstand gar nichts zu tun, den Wiener Hof muß man kennen. Du hast einen großen Fehler gemacht. Lauf' schnell in die Burg und mache alles wieder gut.«

Darüber überwarfen sie sich. Eduard war umsonst der debattierende Kopf des Landgerichtes, in dieser Debatte zog er den kürzeren. Er sah zwar ein, daß Franzi, von der hohen Warte der Kunst aus gesehen, recht hatte, seine Meinung aber, daß der Wiener Hof dem Künstler diese Angelegenheit dauernd nachtragen würde, hielt er aufrecht. Franzi zuckte mit den Achseln.

»Früher, in meiner unbekümmerten Virtuosenzeit, hätte ich vielleicht geantwortet: ›Ich pfeife auf das Hofmarschallamt.‹ Heute sage ich das nicht mehr. Es fällt mir nicht im Traume ein, so geschmacklos zu sein, mich dem Herrscher gegenüber unter allen Umständen ungebührlich benehmen zu wollen. Die Kunst ist aber meine Religion. Und wenn man mich auffordern würde, irgend etwas gegen meine Religion zu unternehmen, würde ich es auch nicht tun.«

Dabei blieb es, und Franzi trat am Hofe nicht auf. Er küßte die pausbäckigen Wangen des kleinen Franz Liszt, umarmte das Ehepaar Eduard und fuhr zurück nach Weimar. Ob er nun in irgendeinem Hofkonzert auftrat oder nicht, – was bedeutete das neben dem viel größeren Problem, das er jetzt ruhig und umsichtig zu lösen hatte. Die Graner Messe, zu der ihn der Fürstprimas Scitovszky durch Baron Augusz aufgefordert hatte, war schon seit langem fertig. Seit er komponierte, hatte ihn noch niemals die Aufführung eines Werkes mit soviel Erwartung und glücklicher Aufregung erfüllt, wie diesmal. Für ihn war diese Arbeit das schönste und größte Gebet seines Lebens. Daß die dem Range nach erste Kathedrale des ungarischen Katholizismus mit seinem Gebet eingeweiht werden sollte, das sah er als den schönsten Lohn für seinen tiefen und treuen Glauben an. In seiner Religiosität war von jeher eine gewisse kindliche Schwärmerei gewesen, und aus diesem kindlich schlichten Glauben kam ihm die Empfindung, als müßte er durch die Aufführung seiner Messe vor dem lieben Gott selbst Erfolg haben … Und diesen Erfolg begann irgendeine unverständliche, nicht zu erklärende Gefahr zu bedrohen.

Der erste Mißton kam in seine freudige, fast andächtige Stimmung, als der Fürstprimas gewisse Bedenken in einem Brief äußerte. Er schrieb, die Liturgie der Einweihung der Basilika werde mindestens vier Stunden in Anspruch nehmen, die Zuhörer würden sehr müde sein, was unter Umständen der künstlerischen Wirkung der Messe-Aufführung schädlich sein könnte. Es wäre vielleicht besser, dieses Werk nicht bei der Einweihung, sondern an irgendeinem anderen Feiertag, zum Beispiel zu Ostern, aufzuführen. Die Liszt-Messe würde dann auch viel besser zur Geltung kommen, denn bei der Einweihung der Basilika sei die Einweihung selbst das Hauptereignis, die Messe werde zwangsläufig zu einer zweitrangigen Angelegenheit, wenn man sie in eine so großartige Liturgie einkeile. Zwischen den in liebenswürdigem und vorsichtigem Ton geschriebenen Zeilen des Fürstprimas war es nicht schwer, das wahre Bedenken des hohen Priesters herauszulesen: er fürchtete, daß die Messe die schöne und großartige Zeremonie stören könnte. Franzi antwortete sofort und beruhigte den hohen Geistlichen: die Messe würde die Liturgie nicht stören, und er könne auf die Aufführung bei der Einweihung verzichten.

Damit schien die ganze Angelegenheit erledigt. Nach langen Monaten war jetzt endlich aus Pest die Nachricht gekommen, daß die Einweihung der Basilika auf den letzten Tag des August festgesetzt worden sei, Franzi möge die Partitur nach Gran schicken. Man würde seine Messe bei der Einweihung aufführen, in einer bei dem Fürstprimas abgehaltenen Beratung sei beschlossen, den dazu erforderlichen Chor vom Nationaltheater zu borgen, aber nur achtzig Mann, da die Empore der Basilika für mehr Personen nicht Platz habe. Das tat ihm schon weh. Er hatte das Ganze für einen großen Chor in Aussicht genommen. Die Partitur schickte er jedoch trotzdem ab. Als Antwort erhielt er einen Brief von seinem alten, guten Freund, dem Grafen Leo Festetics. Der Brief war verblüffend, insbesondere für den guten Freund verblüffend. Festetics teilte ihm als Mitglied des von dem Fürstprimas eingesetzten Komitees in kühlem Tone mit, daß sich eine würdige Vorführung der Messe als unmöglich herausgestellt habe, da sie einen viel zu großen Apparat erfordere, wofür aber kein Geld vorhanden sei, ganz abgesehen davon, daß in der Basilika so viele Menschen gar nicht Platz hätten, wie es der Komponist vorschreibe. Mit einem Wort: es wäre zweckmäßig, wenn Franzi aus eigenem Entschluß darauf verzichtete, die Basilika mit seiner Messe einweihen zu lassen.

Was war das? War das Festetics, der alte Freund, bei dem er gewohnt, der ihm den Ehrensäbel überreicht, in dem er den treuesten und innigst verbundenen Landsmann geehrt hatte? Was war denn hier bloß um diese Messe los? Er überlegte lange, was er antworten sollte. Wenn von etwas anderem die Rede gewesen wäre, hätte er das Ganze mit einer einzigen Bewegung hingeworfen, wenn nicht aus Stolz, so aus Eitelkeit. In diesem Falle war aber sein Wunsch stärker als sein Stolz. Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, schrieb er einen bescheidenen Brief an Festetics, voller Zugeständnisse: er erklärte sich einverstanden, auf den gemischten Chor zu verzichten und das Ganze nur für Männerchor umzuschreiben. Die Rückantwort des Grafen war nunmehr unverhüllt: er schrieb rundweg heraus, daß er die Messe für das Fest der Einweihung nicht geeignet halte. Die Messe dürfe nicht länger dauern als vierzig Minuten, das Werk aber beanspruche mehr als eine Stunde. Auch würde für die Einstudierung nicht genügend Zeit vorhanden sein, und für so viele Proben, die erforderlich seien, könne man die Chöre nicht bezahlen. Mit einem Wort: man konnte die Messe nicht gebrauchen. Diese kühle Ablehnung Festetics' wurde noch von einer geradezu verletzenden Äußerung übertrumpft: er legte Franzi nahe, sich in der Chorangelegenheit unter Berufung auf ihn an Raday, den Direktor des Nationaltheaters, zu wenden.

Um Franzi drehte sich die ganze Welt. Der Graf Leo Festetics wurde offen zu seinem Feind. Warum bloß? Die ganze Angelegenheit war ihm unbegreiflich. Tief niedergedrückt zerbrach er sich den Kopf über diese Rätsel, er wurde wortkarg, nervös und reizbar. Seit langen Jahren hatte ihn nichts so sehr betroffen. In dieser trüben, verzweifelten und wehmütigen Zeit, die den schönsten Traum seiner Komponisten-Laufbahn beweinte, kam aber ein anderer Brief, der ihm als Vater den schönsten Traum erfüllte. Hans hielt um die Hand Cosimas an.

»Es ist mehr als Liebe, was ich für Cosima empfinde; der Gedanke, mich Dir, den ich als hauptsächlichen Stifter und Beweger meines gegenwärtigen und zukünftigen Daseins betrachte, noch mehr zu nähern, faßt alles Glück zusammen, das ich hienieden erwarte. Cosima überragt für mich nicht nur als Trägerin Deines Namens alle Frauen, sondern auch, weil sie Dir so gleicht, weil sie durch so viele Eigenschaften ein treuer Spiegel Deiner Persönlichkeit ist. Und da sie mir erlaubt, sie zu lieben, brauche ich meine Anbetung nicht als eine Verirrung zu betrachten, noch auch meine Bewerbung als eine Phantasie, deren Aussprechen Dich etwa veranlassen müßte, zur Tagesordnung überzugehen … Ich kann mit gutem Gewissen versichern, daß ich nach der ersten günstigen Aufnahme meiner Gefühle nichts unternahm, um sie an mich zu fesseln; ich habe durchaus nichts getan, mich in ihren Augen zu heben; die Achtung, die ich ihr als Deiner Tochter schuldete, ließ sie mich als vollkommen frei betrachten, mir, falls sie sich enttäuscht fand, ihr Wort zurückzugeben. Sechs Monate sind nun verflossen, und es scheint, daß Cosima mir ihre Neigung erhalten hat. Ich fühle mich also berechtigter als vorher – wenn Du mir überhaupt Berechtigung zuerkennst – Dich um Deine Einwilligung zu bitten, Cosima als meine Braut zu betrachten. Ich schwöre, daß, so sehr ich mich durch meine Liebe gebunden fühle, ich niemals zaudern würde, mich ihrem Glücke zu opfern, indem ich sie freigebe, im Falle sie bemerken sollte, sich in mir getäuscht zu haben.«

Franzi traten die Tränen in die Augen. Er war über dem Hin und Her um die Messe viel zu nervös geworden, jede Kleinigkeit brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Diese große Freude wirkte um so mehr auf ihn und löste eine tiefe Dankbarkeit in ihm aus. Er antwortete dem jungen Paare sofort, daß er sie mit ergriffener Liebe segne, und stellte nur die eine Bedingung, daß sie noch ein Jahr lang warten sollten. Sie seien noch jung genug dazu, die Beständigkeit ihrer Gefühle durch dieses Jahr erproben zu können.

Jetzt vermochte er den Schmerz, den ihm die unverständliche Zurückweisung Festetics' verursacht hatte, schon viel leichter zu ertragen. Und mit seinem väterlichen Glück kehrte auch langsam die Tatenfreude zurück. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Er gab auch dann noch nicht alle Hoffnung endgültig auf, als ihm der Fürstprimas offiziell mitteilte, daß er zu seinem größten Bedauern gezwungen sei, von der Aufführung der Messe abzusehen. Franzi schrieb an Baron Augusz, in dessen Freundschaft er sich bisher noch nie getäuscht hatte, er schrieb an Franz Erkel. Er schrieb einem jeden, von dem er nur vermutete, daß er Einfluß am Hofe des Fürstprimas haben könnte. Die Antworten liefen nacheinander ein, und er erfuhr Tag für Tag in Weimar aus den verschiedensten Briefen die Einzelheiten des Feldzuges, den Festetics noch immer gegen seine Messe führte. In Pest und in Gran hatten sich zwei Parteien gebildet. Die eine Partei forderte unter allen Umständen und um jeden Preis die Liszt-Messe, die andere Partei war dagegen. Nunmehr spiegelte sich der ganze Kampf auch schon in der Presse wider, die Pester Zeitungen brachten jetzt auf Schritt und Tritt Nachrichten über diesen Kampf. Es stellte sich heraus, daß der Pester Gesangverein, zu dessen größten Wohltätern Franzi gehörte, durch ein Memorandum die Aufführung der Liszt-Messe von dem Fürstprimas erbeten hatte. Festetics hingegen besuchte der Reihe nach alle Choristen des Nationaltheaters und wiegelte sie auf, in der Liszt-Messe nicht mitzuwirken.

Die vielen aufsehenerregenden Mitteilungen der Presse stellten fast schon Franzis Künstlerruhm aufs Spiel. Wenn er in diesem Kampf unterläge, so wäre das eine untragbare Schande. Das ganze Hin und Her begann verhängnisvoll zu werden. Die Presse des Auslandes nahm die Angelegenheit ebenfalls auf. Die Wiener »Blätter für Musik« schrieben, nicht ganz ohne Schadenfreude, in einem ihrer Artikel unter anderem: »Denselben Liszt, die Weltgröße, um den die Gesangvereine ganz Deutschlands wetteifern, hat sein eigenes Heimatland verraten.« Franzi setzte sich hin und beantwortete den Absagebrief des Fürstprimas. Er gestand aufrichtig, daß die Nichtaufführung der Messe sehr schmerzlich auf seine künstlerischen Ambitionen wirken würde, es habe ihn nicht nur überrascht, sondern tief betrübt, daß seine Dienste auf einmal nicht mehr gebraucht würden, keiner der gegen seine Messe vorgebrachten Gründe sei stichhaltig, er bäte den Fürstprimas also, er möge eine endgültige Entscheidung nochmals überprüfen. Der Brief ging weg, Baron Augusz arbeitete unermüdlich und setzte sich restlos für den Freund ein. Festetics verkündete dagegen laut, daß das Ansehen des Fürstprimas nicht gestatte, den einmal gefaßten Entschluß zu widerrufen. Die ganze Welt war aufgebracht und durcheinander, die Presse war voll von dem Streit um die Messe. An einem heißen Sommertage traf dann die endgültige Entscheidung Scitovskys in Weimar ein: Zur Einweihung der Graner Basilika wird Liszts Messe aufgeführt.

Franzi war glücklich. Er mußte sich sehr beeilen, denn bis zum Graner Fest war es nur noch ein Monat. In großer Hast erledigte er seine schwebenden Angelegenheiten in Weimar, dann fuhr er ab. Drei Wochen vor der Einweihung kam er in Gran an. Er ging nicht nach Pest, er stieg hier aus dem Dampfer aus, weil er von drängender Ungeduld beseelt war, die Basilika anzusehen und den Fürstprimas zu sprechen. Am Dampferanlegeplatz stellte sich ein Geistlicher, der ihn im Namen des Fürstprimas empfing, als Titular-Bischof Michael Fekete vor. Franzi konnte aber kaum auf den liebenswürdigen Geistlichen achten, mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit hing sein Blick an der sich auf dem Felsengipfel erhebenden Basilika. Er konnte seine Augen von der nagelneuen Kathedrale einfach nicht abwenden. Das sollte also der Schauplatz seiner aus tiefstem Herzen kommenden Messe sein …

Kaum hatte er sich im Fremdenzimmer beim Bischof Fekete die Hände gewaschen, als er sich auch schon auf den Weg zum Fürstprimas machte. Der Kirchenfürst empfing ihn herzlich und streckte ihm lächelnd beide Hände entgegen:

»Also doch! Post tot discrimina rerum!«

» Vidi iam alios ventos«, erwiderte Franzi schlagfertig gleichfalls mit einem lateinischen Zitat.

»Diese Antwort war richtig«, nickte der Fürstprimas, »man muß immer durchhalten, das ist die Hauptsache. Wie gewandt Sie doch in der lateinischen Sprache sind. Das habe ich besonders auch aus der Messe feststellen können, denn ein wenig verstehe ich auch von Musik, und in der Partitur habe ich bereits geblättert.«

»Ich bin Eurer Eminenz unbeschreiblich dankbar, daß Sie mich vor der großen Schande, die mich durch die Nichtaufführung meiner Messe getroffen hätte, bewahrt haben. Eure Eminenz werden sehen, der liebe Gott segnet Ihre Wohltat durch einen großen Erfolg. Ich kann schon kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Dürfte ich in die Basilika gehen, die ich von außen schon bewundert habe?«

»Sie ist schön! Wir gehen sofort, ich will Sie selbst führen.«

Sie machten sich unverzüglich auf den Weg. Auf der Empore des nagelneuen Gebäudes voller Mörtelgeruch versperrten noch Gerüste und große Gefäße mit Kalk den Weg, auf Leitern arbeiteten Malergehilfen, schrill dazu pfeifend, und man hörte auch gar nicht in das Gotteshaus gehörende Flüche des Poliers. Als aber der Kirchenfürst und sein Begleiter herannahten, entstand eine achtungsvolle Stille, die Arbeiter bestaunten den langhaarigen Fremden mit offenem Munde. Scitovszky erklärte mit begeistertem Wortschwall den Hauptaltar, die Wandmalereien, die mannigfachen Schönheiten der Fresken, Franzi aber konnte seine Ungeduld kaum noch bezähmen: er wollte unter allen Umständen den Platz des Chores sehen und die Orgel ausprobieren. Endlich gelangten sie auf die Empore. Sie war tatsächlich etwas eng. Als er sich aber an die Orgel gesetzt hatte und seine Finger die Töne einer Bach-Fuge hervorzauberten, ließ das mächtige Brausen der Orgel seine Seele glücklich erzittern. Er sah schon die Stimmen seiner Messe von der Orgel aus diesem kleinen Städtchen Gran bis zu den Füßen Gottes aufsteigen …

Die Besichtigung dauerte nicht lange. Er wäre am liebsten geradewegs nach Pest geeilt, um nicht eine einzige Minute von den Proben zu verlieren. Man ließ ihn aber an diesem Tage noch nicht weg. Er mußte beim Primas zu Abend essen, und an diesem ganzen Abend war von nichts anderem die Rede, als von der verwickelten Veranstaltung des Festes. Er erfuhr, daß beim feierlichen Hochamt auch der Kaiser zugegen sein würde, mehrere Erzherzöge, ausländische Gäste, eine in Gran noch nie gesehene erlauchte Gesellschaft. Während der Unterhaltung hätte er gern erfahren, was für eine unverständliche Wühlarbeit hier die Aufführung seiner Messe hatte hintertreiben wollen, er bekam aber keine direkte Antwort. Der Fürstprimas freute sich offensichtlich, daß er diesen heiklen, unseligen Kampf hinter sich hatte, und wollte auch keinen Klatsch heraufbeschwören. Der Sekretär des Kirchenfürsten, Bischof Fekete, wurde aber gesprächiger, als sie sich zurückzogen, um sich zur Ruhe zu legen. Er erzählte ihm, wie leidenschaftlich Leo Festetics gegen die Messe gearbeitet und daß er sogar dem Fürstprimas unter anderem geschrieben habe: »Er könne es nicht als gleichgültig erachten, daß der Fürstprimas von Ungarn in der Geschichte als der Mäzen dieses musikalischen Unsinns von Zukunftsmusik figurieren werde, und er sage es ganz offen, Seiner Eminenz sei es nicht gestattet, seinen ruhmreichen Namen dazu herzugeben, daß dieser musikalische Gallimathias gegenüber der Musica sacra Protektion bei Seiner Eminenz finde.«

»Das ist mir unverständlich«, sagte Franzi kopfschüttelnd, »dieser Festetics war einst mein bester Freund. Haben Eure bischöfliche Gnaden denn keine Ahnung, was ihn so gegen mich aufgebracht hat?«

»Nicht daß ich wüßte … das heißt …«

»Das heißt?«

»Denken Sie mal nach, lieber Meister, war denn zwischen Ihnen nicht einmal eine Frau im Spiele? Graf Leo ist ein großer Verehrer des schönen Geschlechts …«

In Franzis Gedanken wurde es mit einem Male blitzartig hell. Innerhalb einer einzigen Sekunde wurde ihm alles klar. Die Erinnerung an eine diamantäugige, schwarzhaarige Frau wurde in ihm wach. Schon damals, vor zehn Jahren, hatte er den Verdacht gehabt, daß Leo Festetics irgend etwas ahnte. Es konnte nicht anders sein, als daß Graf Leo nach seiner Abreise etwas erfahren hatte. Wenn dem aber so war, dann konnte man ihm auch nicht übermäßig zürnen, der in seiner verliebten Eitelkeit verletzte Mensch ist nicht zurechnungsfähig. Er nahm sich deshalb auch sofort vor, Leo Festetics, falls er ihm begegnen sollte, für die monatelangen Ränke zur Verantwortung zu ziehen.

»Sie haben morgen Zeit, lange zu ruhen, Meister. Ich rechne damit, daß Sie um die Mittagsstunden in Pest ankommen. Ihre Verehrer wollen Sie mit einer großen Feierlichkeit in der Halle des Hotels zur Königin von England empfangen.«

»Nein, nein, mir ist gar nicht danach zumute. Das möchte ich unter allen Umständen vermeiden. Fährt denn nicht irgendein Dampfer schon am frühen Morgen nach Pest, mit dem ich unbemerkt die Stadt erreichen kann?«

»Es fährt schon einer, dann ist es aber auch nicht mehr der Mühe wert, zu Bett zu gehen. Der sogenannte ›Marktweiberdampfer‹, mit dem die Hökerinnen fahren, legt hier kurz nach Mitternacht an und ist morgens um fünf Uhr in Pest.«

Franzi fuhr mit dem »Marktweiberdampfer« nach Pest und betrat an einem strahlenden Augustmorgen das Pester Ufer. Wie ein feenhafter Traum breitete sich das Panorama vor ihm aus: über den glitzernden Wellen der Donau die fein gezeichneten Linien der mächtigen Bogen der Kettenbrücke, drüben die Berge und am Pester Ufer die langen Reihen nagelneuer Häuser. Am Ofener Brückenkopf der Kettenbrücke erspähte er die Spuren eines neuen Baues. Man erklärte ihm, daß durch den Festungsberg ein Tunnel getrieben werde. Nächstes Frühjahr wäre man, wenn man vom Ofener Ufer auf die Generalswiese gelangen wolle, nicht mehr gezwungen, den ganzen Berg zu umgehen. Franzi ging zu Fuß in sein Hotel, sah sich nur schnell seine Zimmer an, und schon machte er sich auf, die erwachende Stadt zu besichtigen. Die schnelle Entwicklung überraschte ihn. In der Hatvani-Straße ein großes Miethaus neben dem anderen und die Straße überall bepflastert. In der Umgebung des Nationaltheaters war die Veränderung am auffallendsten. Hinter dem Theater lagen einst leere Felder, hier und da ein kleines Haus mit Strohdach, und nicht weit vom Theater entfernt hatte man seinerzeit noch wilde Enten schießen können. Jetzt war alles bebaut, und eine dichte Reihe von Häusern zog sich auch weiter draußen hin. Die Stadtgrenze war längst über das Theater hinausgewachsen.

Als er in das Hotel zurückgekehrt war, um zu frühstücken, fragte er den Wirt, der aufgeregt um ihn herumdienerte, wieviel Einwohner Pest habe.

»Etwa zweimalhunderttausend.«

»Zweimalhunderttausend? Großartig! Eine regelrechte Weltstadt. In meiner Kindheit hätte ich mir das gar nicht vorstellen können.«

Versonnen rührte er seinen Kaffee und war in seine Erinnerungen versunken. Dann fragte er den Hotelbesitzer über das Jahr achtundvierzig aus. Dieser antwortete aber sehr ausweichend und kurz. Da drang er nicht weiter in ihn. Er begriff, daß in einem unterjochten Lande jeder seine Zunge hütete. Das hatte er auch schon am Tage vorher erlebt. Sobald jemand die Zeit der Freiheitskämpfe erwähnte, wurden die Geistlichen an der Tafel des Fürstprimas plötzlich ganz steif und schweigsam. Franzi hatte von den ganzen Ereignissen nur eine sehr verschwommene Vorstellung. Er erinnerte sich noch immer an Széchenyi, der alles das schon lange vorher prophezeit hatte und jetzt in Döbling in einer Irrenanstalt war. Einige sagten, er sei geisteskrank, andere wieder behaupteten, sein Feuergeist wäre reiner denn je und er schriebe nacheinander seine politischen Studien. Sei dem aber, wie es sei. Sechsundvierzig war er noch nicht geisteskrank gewesen und hatte von der einem Selbstmord gleichkommenden Revolution nichts wissen wollen. Sein Volk aber, diese gutgläubige, nur aus heißen Herzen bestehende Nation, lief Hals über Kopf vor die Kanonen und bewies seinen legendären Heldenmut von neuem. Warum? Für nichts. Der Ankömmling aus Weimar bemerkte außer der blühenden Entwicklung keine andere Veränderung. Die Wagen trotteten friedlich die Straßen entlang, der Kellner bewegte sich munter und froh zwischen den frühstückenden Gästen, das Gemisch der deutschen und ungarischen Sprache war auch heute nicht anders als vor zehn Jahren. Über das Dach dieses Hauses waren damals Granaten geflogen. Er hatte dabei ebenso gefehlt wie Széchenyi. Heine hatte ihn ja auch in einem Gedicht verhöhnt. Und wo war jetzt schon dieser unglückselige Heine: er war im Frühjahr an seinem Rückenmarksleiden gestorben …

Sein erster Besuch am Vormittag galt dem Grafen Raday im Nationaltheater. Er wollte mit ihm die Proben des Chores besprechen. Der Graf stand ihm in jeder Sache zuvorkommend zur Verfügung, von den der Messe voraufgegangenen Intrigen fiel kein Wort. Inzwischen war auch Baron Augusz angekommen, die Freunde umarmten sich herzlich. Als sie von Raday weggingen, umarmte Franzi den Baron auf offener Straße nochmals und küßte ihn.

»Das ist mein erstes Dankeswort für alles, was du für meine Messe getan hast. Den letzten Dank werde ich auf meinem Sterbebett aussprechen.«

»Ich bitte dich, dieser verrückte Festetics …«

Franzi hob die Hand, um seine Rede zu unterbrechen.

»Lassen wir das, sprechen wir nicht von Festetics. Ich möchte das Ganze vergessen und will von der ganzen Angelegenheit nur deine Freundschaft in Erinnerung behalten.«

Arm in Arm gingen sie in den Komlo-Garten zum Mittagessen. Franzi konnte es kaum noch erwarten, etwas recht Gepfeffertes, mit viel Paprika Zubereitetes, so richtig nach Herzenslust bestellen zu können. Und von da ab trennte sich Franzi nicht mehr von Baron Augusz, sie erledigten alles gemeinsam. Vor allem suchten sie den Schneider auf, Adam Kostyal, bei dem Franzi sich eine ungarische Galauniform bestellte, weil die alte von Motten zerfressen war. Nachmittags traf er sich schon mit Franz Erkel, Mosonyi, Abranyi und dem Klavierfabrikanten Beregszaszy. Voll Anteilnahme hörte er von ihnen, daß das musikalische Leben seit zehn Jahren einen großen Aufschwung genommen habe, daß die Opernvorstellungen sehr gut seien, das Publikum der Konzerte immer zahlreicher und verständnisvoller werde, die neue Notenhandlung von Rozsavölgyi sehr gut gehe und daß es sich auch lohne, Klaviere zu bauen.

»Ich werde nicht ruhen«, sagte Franzi, »bis wir die Musik-Akademie zustande gebracht haben. Und wenn sie zunächst mit drei Zimmern anfangen sollte, das schadet nichts. Pest soll eure Musik-Akademie haben! Ich habe das Ganze ja bereits durch eine Stiftung begonnen, irgendwo muß das Geld dazu noch vorhanden sein.«

»Wenn es die Österreicher nicht beschlagnahmt haben«, fiel ihm düster der löwenköpfige Erkel ins Wort.

Alle schwiegen. Franzi, in der Politik vollständig fremd, stellte keine Fragen und schwieg auch. Abends nahm man ihn zum Abendessen mit ins Lloyd-Restaurant. Dort spielte die Zigeunerkapelle Ferko Patikarus. Der Zigeuner wußte sofort, wer dieser Fremde unter den anderen Herren war, stand schon neben Franzi und begann, mit dem lustigen, bewegten Mienenspiel des Zigeunerprimas ihm ein Lied nach dem anderen in die Ohren zu spielen. Franzi hob überrascht den Kopf.

»Das ist doch meine erste Rhapsodie …«

»Natürlich«, meinte Erkel, »der spielt alle, die erschienen sind. Aber nicht nur er, sondern auch alle anderen Zigeuner spielen sie. Und nicht nur die Zigeuner, – das ganze Land spielt sie. Alle heiratsfähigen Töchter wollen den jungen Männern mit einer Liszt-Rhapsodie gefallen.«

Der ganze Abend war mit Zigeunermusik ausgefüllt. Und wie das Publikum an den anderen Tischen der Musik lauschte, fühlte und verstand Franzi plötzlich daraus die ganze ungarische Politik. Hier geschah dasselbe, wie damals in Warschau mit der Musik von Chopin. Einer unterdrückten Nation kann man wohl den Mund verbieten, nicht aber das Herz. Im Lloyd-Garten unter den sommerlichen Lauben sättigte sich die Luft mit einem hartnäckigen, sturen Ungartum. Und dieser Stimmung wohnte eine so überwältigende Kraft inne, daß jede Tyrannei eine vergebliche, kindische Anstrengung schien. Mit einem Male wußte und begriff Franzi alles: dieses Land und dieses Volk wird nie aufhören, sich sein eigenes Blut und seine eigene Art zu bewahren. Was man auch mit ihm anstellte, Ungartum war immer und würde auch immer sein. Er griff in seine Tasche, nahm einen Hundertschein heraus und reichte ihn dem Zigeuner. Der trat jedoch zurück und erwiderte etwas auf ungarisch.

»Was sagt er?«

»Er sagt«, übersetzte Augusz, »daß er reichlich belohnt sei, wenn er dir was vorspielen durfte.«

Vor dem Schlafengehen zeichnete sich Franzi noch einzelne Motive auf. Er war auch der Meinung, daß es nunmehr an der Zeit wäre, sein Buch über die Zigeuner zu schreiben, für das er auf seinen Reisen soviel Interessantes zusammengetragen hatte.

Am anderen Tage konnte man der Stadt schon ansehen, daß sie ihren weltberühmten Sprößling beherbergte. In den Auslagen tauchte hier und da sein Bild auf, mit Lorbeer bekränzt, aber ohne das rotweißgrüne Nationalband. Auf der Straße erkannte man ihn allenthalben und begrüßte ihn mit »Eljen«-Rufen. Am dritten Tage bekam er schon eine Unmenge von Briefen, der größte Teil ungarisch geschrieben. Die Einladungen häuften sich, seine Bekannten von vor zehn Jahren meldeten sich einer nach dem anderen. Auch Leo Festetics begegnete er. Er reichte ihm höflich und liebenswürdig die Hand. Und Festetics reichte ihm die seine mit einem fragenden Blick. Er wollte offensichtlich erkunden, wieviel Franzi wisse. Da sich aber Franzi nicht verriet, schlug Festetics kühn den Ton der alten Freundschaft an. Wer ihnen zuhörte, hätte meinen können, daß sie sehr gute alte Bekannte geblieben waren. Unter vier Augen aber waren sie nie. Das vermied Leo Festetics beharrlich.

Die Proben begannen. Noch nie hatte Franzi die Aufführung einer seiner Tondichtungen mit soviel Sorgfalt einstudiert. Auch die unwichtigeren Takte ließ er etliche Male wiederholen, minutenlang erklärte er die feinsten Klangfarben, und wenn nicht alles so gelang, wie er es wollte, ließ er sich sogar zum Schreien hinreißen. Schon während der dritten Probe erzählte man ihm, welcher Scherz von ihm in Pest in Umlauf wäre: »Liszt hat betend seine Messe geschrieben, aber er studiert sie fluchend ein.«

»Wenn ich nicht wüßte, daß ich in Pest bin«, entgegnete er lachend, »würde ich es daran erkennen. Hier entsteht in fünf Minuten aus allem ein Scherz. Und nicht einmal immer ein schlechter.«

Die Proben fanden im Nationaltheater statt. Im Zuschauerraum saßen ständig neugierige Mitglieder des Theaters, und Franzi lernte sie der Reihe nach kennen, wenn er in den Ruhepausen eine Zigarre rauchte. Unter den Mitgliedern des Theaters war auch eine Dame, die auffallend gut französisch sprach und sowohl durch ihr Benehmen als auch durch ihre Erscheinung seine Aufmerksamkeit erweckte. Es war die Schauspielerin Lilla Bulyovszky Szilagyi. Sie war zwar nicht viel älter als zwanzig Jahre, aber mit um so stärkerem Ehrgeiz beseelt, der infolge der Vorherrschaft der älteren Primadonnen unerfüllt blieb. Sie war eine kluge Frau, sehr belesen und originell, aber ein bißchen überklug und ein wenig zu romantisch. Während der Pausen der ermüdenden Proben unterhielt sich der Schöpfer der Messe mit dieser kleinen Schauspielerin. Von den Klängen des Sanctus kam er heraus zu ihr in die gluterfüllte Augusthitze, unter den Klängen des Kredo verließ er sie wieder. Die romantische Lilla dachte sich zweifellos nachts jene sinnigen Sätze aus, die sie anderntags mit halbgeschlossenen Lidern schwärmerisch in ihre Unterhaltung einflocht. Der erschöpfte Tondichter hörte ihr jedoch nur halb zu. Gleichgültigkeit ließ die kleine Lilla immer koketter werden. Endlich ließ sie sich zu einem offenen Geständnis hinreißen. Franzi sah sie an und lächelte gutmütig.

»Ich könnte ja Ihr Vater sein, mein Engel, vergessen Sie das nicht.«

»Warum? Wie alt sind Sie?«

»Ich werde demnächst fünfundvierzig Jahre alt.«

»Ach, das ist doch kein Alter, und ich kann die jungen Männer nicht ausstehen. Ich weiß nie, worüber ich mich mit ihnen unterhalten soll. Bei Ihnen weiß ich das.«

Franzi betrachtete sich die Frau zum ersten Male genauer. Sieh' mal an, dachte er, diese kleine Frau ist ja außerordentlich hübsch. Und in ihrem großen Eifer, wie sie ihre französische Belesenheit und musikalische Bildung hervorkehren will, wie sie ihre Pläne als Schriftstellerin schildert, ist wirklich etwas Rührendes. Er sah sie an. So, wie nur er jemand ansehen konnte, mit einem tiefen, brennenden Blick. Lilla schloß halb ohnmächtig die Augen. Franzi sah mit einem gewissen Mitleid auf die Frau herab, diesen Rausch kannte er. Unzählige Augenpaare hatte er schon unter der Macht seines Blickes sich so selig schließen sehen.

»Erwähnten Sie nicht, daß Sie nach Paris reisen wollten? Dann besuchen Sie mich, ich werde Ihnen einige Empfehlungsschreiben mitgeben.«

Lilla antwortete nicht, man sah ihr aber an, daß sie heftiger atmete. Er ging wieder hinein zur Probe, und eine Minute später klopfte er bereits streng mit seinem Dirigentenstab die Melodie ab, er konnte nicht begreifen, warum die Sänger den Schlußton des Kredo so kurz abgeschnitten sangen. Er wußte zwar aus den Erklärungen seiner ungarischen Freunde, daß es ein auf o endendes ungarisches Wort nicht gab und daß dieses o am Ende eines Wortes den ungarischen Ohren fremd klang. Wenn es also fremd klang, mußten sie es eben lernen. Er ließ sie zwanzigmal wiederholen und vergaß Lilla vollkommen. Sie fiel ihm erst wieder ein, als er nach Hause ging. Dieses Abenteuer hielt er für hoffnungslos. Es war ganz unmöglich, daß ihn in der Königin von England eine Dame besuchen sollte. Am selben Abend hörte er aber von dem Zimmerkellner, daß Lilla für einen Tag hierher übergesiedelt sei, weil sie ihre Wohnung tapezieren ließ …

Die ungarische Schauspielerin fiel ihm in den Schoß, ohne daß er auch nur die Hand hätte nach ihr auszustrecken brauchen. Als Franzi, von den unersättlichen Küssen müde, in der Stille der Nacht wieder allein war, blieb nur ein leichter Moschusgeruch von der weggehuschten Frau zurück und Franzi suchte überrascht sein Gewissen. Daß er Carolyne betrogen hatte, bereitete ihm nicht allzuviel Sorgen. Carolyne war vielmehr seine Lebensgefährtin als seine Geliebte. In seiner Seele tauchte aber das feine, schweigsame Gesicht Agnes' auf, und den vorwurfsvollen Blick dieses Antlitzes konnte er nur mit Scham ertragen. Agnes schrieb ihm sehr traurige Briefe in dieser Zeit. Sie war lungenkrank geworden und hustete oft Blut. Arme, arme Agnes, dahinsiechendes kleines Gretchen … Es war nicht schön, sie zu betrügen. Nicht die Fürstin, sondern Agnes, die ihm nie gehört hatte … Das große Festmahl, dem er auch diesmal nicht fernbleiben konnte, hielt man im großen Peterschen Klaviersaal ab. Dem fabelhaften Menü ging ein Konzert voraus, ein Sängerquartett trug ein Begrüßungslied vor. Als das Lied verklungen war, brachte man ihm den Komponisten und den Textdichter. Den Komponisten brauchte man ihm nicht vorzustellen, es war der bescheidene ruhige Doppler, mit dem er schon viele Briefe gewechselt hatte. Den Textschreiber aber, den man ihn als Johann Vajda vorstellte, kannte er noch nicht.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte er zu dem verstörten und düster blickenden jungen Mann. »Das Gedicht ist wirklich sehr schön. Ich werde es nicht nur in meiner Schublade, sondern auch in meinem Herzen aufbewahren. Unsere Dichter sind alle so begabt, nur mir wollen sie keinen anständigen Operntext schreiben.«

»Wie meinen?« stotterte Johann Vajda.

»Wie ich es sage: ich möchte einen ungarischen Operntext haben. Irgendein schönes, begeisterndes Heldenthema aus der ungarischen Geschichte. Denken Sie doch einmal darüber nach. Ich würde einen schönen ungarischen Text sehr gerne vertonen.«

Johann Vajda murmelte irgend etwas Unverständliches und verschwand wieder im Strudel des Abends. Dann wurde aufgetragen, und es kam der unendliche Schwall der Begrüßungsreden. Alles waren Reden mit gewissen Anspielungen auf das ungarische Leid, an denen die österreichische Zensur nichts aussetzen konnte, begleitet von einer wilden, wehmütigen, trotzig fröhlichen Zigeunermusik, gegen die der ganze österreichische Staat noch weniger unternehmen konnte. An der Festtafel nahm auch ein verdienstvoller Pester Tondichter namens Michael Brand teil. Auch er hatte eine Messe geschrieben, die Leo Festetics gegen Franzis Messe hatte ausspielen wollen. Weil es nicht gelungen war, mußte Brands Messe unterbleiben. Franzi tat dieser Musiker aufrichtig leid, den er ungewollt von einer so wichtigen Etappe des Ruhmes zurückgedrängt hatte. Er zerbrach sich andauernd den Kopf, wie er diesen Brand trösten könnte. Endlich beschloß er, die Sache vor den hohen geistlichen Würdenträgern, bei denen er jetzt besonderen Einfluß gewonnen hatte, zur Sprache zu bringen und brachte es wirklich zuwege, daß Brands Messe in der Innerstädter Kirche aufgeführt werden sollte, dirigiert von Franz Liszt. Damit hatte er wiederum die Last schwerer Proben auf sich genommen, aber er kümmerte sich nicht darum: Braud weinte fast vor Freude.

Die Hauptprobe der Liszt-Messe wurde fünf Tage vor der Graner Festlichkeit im Nationalmuseum abgehalten. Es war viel darüber gestritten worden, wofür die Einnahmen dieser Aufführung verwendet werden sollten. Der Direktor des Nationalmuseums, Kubinyi, trug sich mit dem gewaltigen Plan, auf dem um das Museum herumliegenden kahlen Gelände eine Parkanlage zu schaffen, und wollte die Einnahme unter allen Umständen dafür verwenden. Franzi vertrat jedoch die Meinung, daß die Einnahme aus dieser Hauptprobe nur kirchlichen Zwecken dienen könne, und widmete deshalb den Betrag für die Basilika, die in der Leopoldstadt erbaut werden sollte.

Trotz der hohen Eintrittspreise war der Andrang zur Hauptprobe so gewaltig, daß viele im Saal keinen Platz mehr bekommen konnten. Die Sache verlief ganz gut. Franzi war zufrieden. Der Fürstprimas war auch anwesend, trat nach der Hauptprobe auf ihn zu und umarmte ihn:

»Ich beglückwünsche Sie aus ganzem Herzen. Jetzt kann ich es Ihnen ja gestehen, daß ich bis zum heutigen Nachmittag große Angst gehabt habe. Man hatte mir den Kopf so heiß gemacht. Die Messe ist aber, Gott sei gelobt, herrlich. Kommen Sie hierher, Baron Augusz, Ihnen muß ich auch noch besonders danken, daß Sie mir keine Ruhe gelassen haben.«

Franzi schwamm in Freude. In dem großen Gedränge fühlte er, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Er drehte sich um, Lilla Bulyovsky stand hinter ihm.

»Wann sehe ich Sie?« raunte sie mit tiefem Blick.

»Ich bin wirklich in Verlegenheit«, antwortete Franzi, »Sie wissen vielleicht, daß ich nach Ofen ins Karacsonyi-Palais übergesiedelt bin? Graf Guido ist ein alter Freund von mir. Vielleicht, wenn bei ihm eine Soiree stattfindet …«

Der Tumult trennte sie wieder. Auch andere kamen, ihre Glückwünsche auszusprechen, – sie schwärmten, sie waren hingerissen. Sogar Leo Festetics kam zu ihm, als der Fürstprimas schon weggegangen war. Auch er beglückwünschte ihn und brach längere musikalische Ausführungen vom Zaun. Der Wirrwarr riß aber auch ihn mit sich fort. Der Erfolg schien vollkommen. Am anderen Tage bestätigte die Presse den Erfolg. Augusz übersetzte ihm die Kritiken, wenn man überhaupt diese überschwenglichen Gedichte in Prosa als Kritiken bezeichnen konnte. »Die Macht des Augenblickes beherrscht mich, fragt nicht woher ich komme, wo ich war. Seht mir ins Gesicht, und es ist unmöglich, daß Ihr darauf die edelsten Spuren des Erlebnisses nicht erblicken solltet. Seht in meine Augen, und es ist unmöglich, daß Ihr darin dieses geheiligte Feuer nicht sehen solltet, wie es glüht. Ja, ich komme vom erhabensten Siegesfest der Musik und bin glücklich, daß ich diesen Sieg durch den Beifall meiner Wenigkeit mit den anderen vielen Tausenden gleichfalls verherrlichen kann …«

»Du, Anton, es heißt doch, daß keiner in seinem eigenen Vaterlande Prophet sein könne. Ich glaube, sowohl ich als auch mein Vaterland sind eine Ausnahme. Ich könnte hier erst ein richtiger Prophet werden. Wer weiß, vielleicht wird doch noch einmal etwas aus mir.«

»Ich habe keinen größeren Wunsch«, erwiderte Augusz, »als daß du wenigstens nicht selbst gegen eine Rückkehr hierher arbeitetest. Erst heute habe ich eine ganz sonderbare Sache gehört, daß man dir am Wiener Hof zürnt, weil du irgendeine Einladung ausgeschlagen hast.«

Franzi war überrascht. Sollte man ihm das wirklich nachtragen? Er erzählte die Geschichte der Wiener Absage.

»So hört sich das natürlich schon ganz anders an«, Augusz atmete erleichtert auf. »Ich werde die ganze Angelegenheit gelegentlich in Wien klären, wenn ich hinauffahre. Es ist nämlich wichtig, daß ich das kläre, denn es wird höchste Zeit, daß wir unseren alten Plan verwirklichen.«

»Welchen Plan?«

»Du wirst geadelt. Alles ist auf dem besten Wege. Überlass' das Ganze nur mir.«

Der Schöpfer der Messe errötete. Er konnte es vor sich selbst nicht leugnen, daß ihm das Adelsdiplom große Freude bereiten würde. Wenn er daran dachte, malte er sich immer aus, daß er sich mit seinem wappengeschmückten Briefpapier vor den Grafen Saint-Cricq stellen und ihm sagen würde, daß … er nichts sagen könne. Der Graf Saint-Cricq war schon lange gestorben. Die Wunde aber, die er ihm einstmals geschlagen, tat ab und zu heute noch weh, und für diesen Schmerz war der Adelsbrief ein Balsam.

Zwei Tage vor der Einweihung der Basilika bestieg er mit den Mitwirkenden den kleinen Dampfer »Marianne«. Unter ihnen war auch der erste Posaunenbläser des Weimarer Theaters, den er telegraphisch auf seine Kosten hatte kommen lassen, weil er mit den hiesigen Posaunen nicht zufrieden war. Abends kamen sie in einem kopflosen Durcheinander in Gran an. Die vorher bestimmten Quartiere waren untereinander verwechselt worden, niemand wußte, wo er schlafen würde. Franzi ließ die Streitenden und ratlos Hinundherlaufenden im Stich, ging zurück auf den Dampfer und machte sich aus Stühlen und Mänteln eine Ruhestätte zurecht. Am frühen Morgen ging er in die Basilika, um zu proben. Er probte den ganzen Tag in der Kirche. In den Pausen während der Musik klang dumpfes Dröhnen zu ihnen herein. Es wurden die hundertundein Kanonenschüsse abgefeuert, die die Ankunft des den Wiener Hof bringenden Dampfers ankündigten. Großer Pomp. Aufmärsche. Von all dem sah er nichts. Die Nacht verbrachte er wieder auf dem Dampfer. An dem großen Tage kleidete er sich in irgendeiner Kabine an. Er zog seinen Frack an und legte alle seine Orden an. Dann ging er mit den Mitwirkenden gemeinsam in die Basilika. Unzählige Schaulustige säumten den Weg. Ab und zu »Eljen«-Rufe.

Um zehn Uhr war alles auf den Plätzen. Die Zeremonie begann. Es verging eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, die Messe kam noch immer nicht an die Reihe. Endlich um halb zwei Uhr ging eine Bewegung durch die Menge. Der erste Teil der Festlichkeit war vorüber, nun konnte die Messe folgen. Franzi sah den schon seit dreieinhalb Stunden dastehenden Mitwirkenden ins Gesicht und bekreuzigte sich. Eine fürchterliche Hitze quälte alle, sogar die Mauern der lebensgefährlich überfüllten Kirche schienen schwer zu atmen. Er winkte. Die Messe erklang. Die Orgel ertönte, und unten erfüllte der Glanz eines prächtigen Aufzuges den Vorplatz des Altars. Weiße Spitzenhemden, golden schimmernde Meßgewänder, rote und Silberfarben kamen und gingen.

» Dominus vobiscum«, erklang die alte, weiche Stimme des Fürstprimas.

» Et cum spiritu tuo«, antwortete hier oben der Chor.

Stille, Scharren, abermals die tönende Orgel, starker Weihrauchduft, erdrückende Hitze. Franzi sehnte sich plötzlich grenzenlos danach, von hier zu verschwinden und auf den kühlen Marmorfliesen einer kleinen Kapelle ganz allein in tiefer, hingebender Andacht zu verweilen. Er wischte sich aber die von Schweiß triefende Stirne und paßte auf.

» Kyrie eleison«, ertönte der griechische Satz der alten Christen in der lateinischen Messe.

» Christe eleison.«

Franzi war ganz gespannte Aufmerksamkeit. Und schon hob er den Dirigentenstab. Jetzt. Der mächtige volle D-dur-Akkord brauste hernieder. » In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti!« – dreimal nacheinander. Dann der ewige Schrei der Menschheit, das um Gnade flehende Aufschluchzen der Musik: » Kyrie eleison!« Wenn niemand sonst in der Kirche, so empfand er eine verzauberte Entzückung über das, was jetzt kam. Über das geheimnisvolle Motiv der Dreifaltigkeit, das er so unendlich lange Nächte hindurch verfolgt hatte wie eine himmlische Taube, bis er es zum Gefangenen seiner Stimmen machte. Dann flocht er dieses Motiv in die ganze Messe ein, um das geheimnisvolle Drama der heiligen Kommunion in eine einzige musikalische Einheit zusammenzufassen, wie der zu Musik gewordene Katholizismus selbst. Abermals Pause und die Variationen der Orgel; Hitze und Weihrauchduft. In der hohen Würde des Pontifikats schritt der Fürstprimas von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links, die pünktlich und genau einstudierten Bewegungen der Geistlichkeit bildeten entzückende kleine Gruppen. Unter einem Baldachin sah man den jungen Kaiser und Elisabeth, eine der prächtigsten Frauen Europas, sitzen, ihr schönes Haupt mit der mächtigen Haarkrone demütig neigend. Jetzt aufpassen! » Gloria in excelsis Deo!« Das H-dur-Tremolo der Violinen soll das lobsingende Weltall erzittern machen. Die begeisterten Gloria-Rufe der Oboe lösen sich, und der Chor der Engel übernimmt das glückselig innige Gebet der Instrumente. Die Musik greift von der Messe auf die biblische Erzählung zurück. Das verkündeten die Engel in Bethlehem den Hirten, und die Messe verkündete hier die Worte der Engelsbotschaft; auch ihr, die ihr hier unten betet, sollt es wissen: » et in terra pax hominibus bonae voluntatis«. Dann folgt das Kredo, dieses in jedem seiner Buchstaben ausgefeilte majestätische Gedicht, das Glaubensbekenntnis, bei dem der große Gläubige die Kraft des Glaubens und die unerschütterliche Überzeugung seiner eigenen Seele auf die Instrumente übertragen hatte. Welche Freude war es, die Worte des Kredo selbst zu dirigieren und sich mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele in die naturwahre und eben deshalb mystischeste Tonart, C-dur, zu vertiefen bis zum jüngsten Tag, an dem Gott kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. » Vivos et mortuos.« Die Fanfaren ertönten mit unbändiger Kraft, der Weimarer Musiker führte sie, erschreckende Tubaschreie mengen sich dazwischen, und beim Worte mortuos öffnen sich förmlich die Gräber unter dem erschauernden Sturm der Violinen.

» Dominus vobiscum.«

» Et cum spiritu tuo.«

Unten wird die Festmesse zelebriert, hier oben kann man sich der Messe nicht hingeben, sondern man muß die feierliche Zeremonie unten beachten. Als die Minute mahnt, kommt das Sanctus. »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!« Das Gesicht des Dirigenten glänzt von Stolz. Niemand in dieser Kirche ahnt, daß dieser Satz, das Sanctus, als ewiger Wert der Kirchenmusikgeschichte bestehen bleiben wird. Unten im Kirchenschiff könnte das nur einer begreifen, der das Wesen der Kirchenmusik so tief erfaßt hat wie Franz Liszt. So einer ist aber nicht vorhanden. In die von den 9/4 Takten erregten Herzen setzt das G-dur-Hosianna ein, die Führung der Hauptmelodie an sich reißend, wie die einzelnen Vorbeter einer in religiösen Taumel verfallenen Menge am Palmsonntag. Und der Herrgott da oben muß es hören, wie wunderschön ihn dieser eitle Weibernarr grüßt, dieser ruhelose Wanderer mit seiner bewegten Vergangenheit, dessen Seele trotz allem aufrichtig und innig rein ist. Zum Schluß endlich das Agnus Dei. Das große Flehen zu dem Lamm Gottes, das durch seine qualvoll blutigen Leiden die Menschen von den Sünden der Welt erlöste, um ihnen den Frieden zu geben. Dieses Flehen ist der Glaube selbst. Die ganze Messe ist wie ein Gebäude von Meisterhand, bei dem jeder Stein unentbehrlich ist, bei dem auch die am weitesten auseinanderstehenden zueinander gehören, und doch jeder seine eigene, besondere Aufgabe hat. Mit der ganzen, Berge versetzenden Kraft des unerschütterlichen Glaubens rufen die Stimmen aller Instrumente endlich das Bekenntnis: » Credo!«

»Ich glaube!«

Die Messe war beendet. Unten stellte sich ein hellstimmiger junger Tenor vor den Altar und sang es, für den Bauern und den Kaiser gleich, lang hingezogen:

» Ite, missa est.«

»Geht, wir entlassen euch jetzt.« Franzi lehnte sich todmüde an die Orgel. Nach dreieinhalbstündigem Warten hatte er, erschöpft durch die drückende Hitze, die Messe begonnen. Mit der ganzen Kraft seiner Seele hatte er sich in die übermenschliche Größe seiner Musik hineingelebt. Er erlebte das sich im Staube wälzende Flehen des Kyrie um die göttliche Gnade, das beseelte Jauchzen des Gloria, die erschütternde Kraft des Kredo, des Sanctus, die Demut und Hingabe des Benedictus und endlich das erschauernde Erlebnis des Agnus Dei, das Niedersinken vor der Gestalt des Gekreuzigten, aus dessen Wundmalen an Händen und Füßen, den Dornenwunden der Stirn, dem Lanzenstich in der Seite, das Blut für ihn, den Menschen Franz Liszt, geflossen war, den Menschen, dessen irdische Sünden nur deswegen vergeben werden konnten, weil Gottes Sohn selbst für ihn unter fürchterlichen Qualen gestorben war. Alles das hatte seine völlig durchgeistigte, in tiefen Fieberträumen langer Monate entstandene musikalische Schöpfung erzählt, und das alles hatte er jetzt noch einmal in seiner Musik durchlebt. Wie einer, der von einer schweren Krankheit genesen ist, taumelte er zurück in die Wirklichkeit, er vermochte kaum die Hand zu erheben, um den Tenor Jekelfalussy, Frau Kaiser, die den Sopran sang, den Weimarer Posaunenbläser und alle anderen zu beglückwünschen. Und er verabschiedete sich von ihnen mit den Worten: »Auf Wiedersehen!« Für die Mitwirkenden war die Mittagstafel auf dem Dampfer angerichtet, er war zum Festessen des Fürstprimas eingeladen. Das war ihm vor seinen treuen Mitarbeitern sehr unangenehm.

Unten am Ausgang der Basilika drückte ihm ein junger Pfarrer einen Zettel in die Hand. Auf diesem Zettel war sein genauer Platz an der Tafel des Festmahls eingezeichnet.

»Es sind zwei Tafeln gedeckt«, erklärte der Pfarrer, »an der ersten Tafel nehmen Seine Eminenz, der Hof und die Nobilitäten Platz. Für Euer Hochwohlgeboren ist am zweiten Tisch ein Platz freigehalten. Haben Sie vielleicht den Grafen Raday gesehen?«

Bis über die Ohren rot, drehte Franzi den Zettel in seiner Hand. Ihn hatte man an den zweiten Tisch gesetzt? Er war für den ersten Tisch nicht gut genug? Er, der die Messe komponiert hatte? Er, der für sein Heimatland in seinem Beruf den ersten Platz unter der Sonne errungen hatte? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, er war vor Empörung ganz benommen und hörte den Schlag seines Herzens in seinen Ohren hämmern. Unschlüssig und unbeweglich blieb er stehen. Da bemerkte er drei Herren in seiner Nähe: den Grafen Raday, den Grafen Karacsonyi und den Grafen Festetics. Auch die erblickten ihn erst jetzt, nachdem das Gedränge etwas nachgelassen hatte.

»Gehen Sie zum Festessen, Franzi?« fragte ihn Festetics.

»Ich weiß nicht, ich bekam einen Platz am Katzentisch angewiesen.«

»Das ist nicht übel«, stieß Raday mit einem bitteren Lachen hervor, »auch uns drei hat man dorthin verwiesen. Anscheinend sind wir diesen elenden Wienern nicht gut genug. Die Ungarn schiebt man immer zurück. Aber Tschechen, Kroaten, Slowaken marschieren vornean. Also geht nur zum Mittagessen. Ich bin für mich allein ein größerer Herr, als die dort alle zusammen.«

»Ich meinerseits werde auf dem Dampfer speisen«, sagte Franzi, »mit meinen Mitarbeitern. Dorthin gehöre ich. Ich bin den Veranstaltern dankbar, daß sie mich daran erinnert haben. Auf Wiedersehen.«

»Langsam, langsam«, hielt ihn da Graf Guido Karacsonyi zurück, »auch wir speisen auf dem Dampfer.«

Alle vier gingen den Hügel hinunter zum Dampfer. Dort empfing sie eine begeisterte Menge. Man machte ihnen geschäftig vier Plätze frei. Franzi stürzte sofort ein volles Glas Wein hinunter, er war schon fast verdurstet. Der Wein stieg ihm gleich in den Kopf.

Ein Herr namens Urabély stellte sich ihm vor; neben ihm saß seine Tochter, ein schüchternes Mädchen mit munteren Augen, aus denen Anbetung und Schwärmerei für den berühmten Mann strahlte. Ihr Vater erklärte Franzi stolz, daß seine Tochter eine große Klavierbegabung sei und daß sie schon von frühester Kindheit an eine große Vorliebe für Liszt-Werke gezeigt habe.

»Ach, würden Sie mir noch einmal den Namen Ihrer Tochter sagen?«

»Serafine …«

»Serafine Urabély«, ergänzte der Vater für seine lampenfiebrige Tochter.

Franzi hob sein Glas und rief fröhlich unter Anwendung seiner ganzen ungarischen Sprachkenntnisse:

»Eljen Urabély Szerafin!«

Er stieß sein Glas an das des Mädchens – mit zitternder Hand erhob sie es – und leerte es bis auf den letzten Tropfen. Von da an verschwamm der ganze Tag in einem bunten Nebelschleier. Sie zechten auf dem Dampfer bis sechs Uhr morgens. Dann gingen sie alle zum Volksfest am Donauufer, wo ein Ochse am Spieß gebraten wurde. Dort rollten soeben acht Fässer Wein an, den die Kellerei des Fürstprimas für das Volk gestiftet hatte. Die Zigeuner spielten. Franzi geriet in eine trotzige, ausgelassene Laune. Das eine Faß wurde gerade angezapft, er ging hin und hielt seinen Hut unter den Hahn. Er trank den Wein aus dem Hut. »Eljen«-Rufe, wo er nur stand und ging. Etwas weiter entfernt tanzten die Bauern schon Csardas. Er stellte sich in ihre Mitte und versuchte auch mit zu tanzen. Es ging. Eine junge Maid in einem bunten Rock trat vor ihn hin und bot sich lachend zum Tanz an. Er ergriff sie bei den Hüften. Glücklich schrie er aus Leibeskräften:

» Ihajla, tyuhajla!«

Diesen Jauchzer hatte er in seiner Kindheit von den tanzenden Marktbesuchern immer gehört. Er war selbst am meisten verwundert, wie gut er das noch sagen konnte. Allgemeines Gelächter, »Eljen«-Rufe, erregender Rhythmus, Rausch, Taumel. Und der Wirbelwind des Trotzes übermannte ihn, er überließ seinen Körper den Takten der Musik, der Träumer der Messe versank in die uralten heidnischen Vergnügungen, in verbissen wilde Laune. Das ganze Weltall um ihn herum versank, und es blieb nichts anderes übrig für ihn als die Zigeuner. Wenn ihm der Atem ausging, ließ er sich auf irgendeiner Bank nieder, trank weiter, stand wieder auf, tanzte und tanzte mit dem Glas in der Hand. Dunkel und verschwommen merkte er, daß es tiefe Nacht war und daß er wohl irgendwo beglückt herumschlenderte, auf irgendeinem Wege, daß er singend dirigierte und hinter ihm jauchzend, weinend, gurgelnd die Zigeunermusik erklang.

Am anderen Tage weckte man ihn mit der Mahnung, sich mit dem Ankleiden zu beeilen. Unter kaltem Wasser kam er langsam zur Besinnung. Er rief sich den ganzen gestrigen Tag nochmals in Erinnerung. Das große Erlebnis der Messe, der Ärger über die Tischordnung und nachmittags dieses großartige, tobende, verrückte Vergnügen. Sein Kopf tat ihm reißend weh, trotzdem hatte er das Gefühl einer großen Seligkeit.

Er mußte beim Fürstprimas zu Mittag speisen. Die Gesellschaft war ganz auserlesen: außer einem oder zwei hohen Geistlichen von der Hofhaltung des Fürstprimas waren der Erzbischof von Agram, der griechisch-katholische Erzbischof aus Großwardein, der Erzbischof von Brünn, der Erzbischof von Udine, der Bischof von Siebenbürgen, Baron Augusz und Graf Stephan Karolyi anwesend. Den Schöpfer der Messe empfingen laute und herzliche Glückwünsche. Jeder sprach von den großen Eindrücken des gestrigen Tages, von den der Veranstaltung vorausgegangenen Widerwärtigkeiten, von den wunderbaren Einzelheiten der Messe, von der Schönheit der Basilika, hauptsächlich aber von den hohen Wiener Gästen.

»Wie hat Sr. Majestät die Messe gefallen?« fragte Franzi den Fürstprimas, »hat er sich Eurer Eminenz gegenüber geäußert?«

»Doch, ja«, erwiderte der Kirchenfürst, »er hat sich geäußert. Er sagte, daß … also mit einem Worte, daß …«

»Daß es ihm nicht gefallen habe.«

»Ehrlich gesagt, ja. Seine Majestät haben jedoch eigens hinzugefügt, daß seine Meinung nicht maßgebend sei, da ihn die Musik nicht besonders interessiere. Seiner Majestät hat insbesondere der Teil des Kredo vom Jüngsten Gericht nicht gefallen. Mir hingegen, so weit ich überhaupt in Abwesenheit Seiner Majestät widersprechen darf, gefiel dieser Teil sehr gut.«

»Hat es denn dem Kaiser überhaupt nicht gefallen?«

»Nehmen Sie sich das doch nicht so sehr zu Herzen, lieber Meister. Ich wollte Ihnen eigentlich eine Überraschung aufheben. Wenn die Sache aber so steht, dann will ich es Ihnen lieber schon jetzt sagen. Da ich Gelegenheit hatte, mit Seiner Majestät schon während der Messe zu sprechen, schlug ich vor, daß es schön wäre, die Messe auf Staatskosten drucken zu lassen. Darauf hat Seine Majestät gnädigst genickt.«

Franzi fand in seiner Freude gar nicht gleich Zeit, sich zu bedanken, denn schon ergriff der Bischof von Siebenbürgen das Wort, Bischof Haynald, der dadurch berühmt war, daß er sich 1849 geweigert hatte, die Absetzung der Habsburger anzuerkennen und daher seiner Stellung verlustig ging.

»Auch das beweist am besten, was für ein weiser Herrscher Seine Majestät ist. Von der Musik versteht er allergnädigst gar nichts. Für die Belohnung der Verdienste hat er aber das notwendige Gefühl.«

Dieser Haynald gefiel Franzi außerordentlich. Er war ein gemütlicher Kirchenfürst mit rosigem Gesicht, hinter seiner goldumränderten Brille funkelten zwei blaue kindliche Augen, er interessierte sich insbesondere für Altertumsforschung, aber auch für bildende Künste und Botanik. Ein jeder hörte ihm gerne zu, und er führte auch meistens das Wort. Mit Franzi wurde er sofort warm. Der Fürstprimas, der die Wiener Taktlosigkeiten der gestrigen Tischordnung durchaus nicht billigte, erhob sich nach dem Braten und hielt eine sehr schöne Rede auf das Musterbild eines gläubigen Künstlers. Auch der Erzbischof von Udine, der ein leidenschaftlicher Musikliebhaber war, begrüßte den großen Tondichter in italienischer Sprache. Er sprach ihn als » La gloria dell' Ungheria« an.

»Wie ich höre«, fiel Haynald mit schelmischem Lächeln ein, »hat Ungarns erhabene Gloria den Wein gestern aus dem Hute getrunken und nach Herzenslust Csardas getanzt.«

»So war es«, gestand Franzi fröhlich, »wenn ich bloß alle zwölf Jahre einmal hierher komme, muß ich mich für weitere zehn Jahre mit den Zigeunern austoben. Diese Zigeunermusik ist etwas Wunderbares. Ich will ein großes Buch schreiben über die Rasse, von der niemand weiß, woher sie stammt, die …«

»Verzeihung, wir wissen ganz genau, woher sie stammen. Die Zigeuner sind indischer Herkunft. Der Stamm der Paria ist langsam nach Europa eingewandert.«

Diese Feststellung überraschte Franzi über alle Maßen. Er hatte noch nie gehört, daß der Ursprung der Zigeuner bekannt wäre. Sofort begann er den Bischof auszufragen, er wollte alles wissen, was der Bischof wußte. Das Mittagessen war aber inzwischen beendet, und so verschoben sie die Besprechung auf den Abenddampfer und verabredeten, gemeinsam nach Pest zurückzukehren.

Bis dahin erlebte Franzi noch eine sehr interessante Begegnung. Auf einem Gang des Schlosses wartete jemand auf ihn: ein junger Pfarrer, blond, schlank, mit einem Asketengesicht.

»Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« erkundigte sich Franzi höflich.

»Ich wollte mich nur deswegen vorstellen«, antwortete der junge Geistliche verstört, »weil ich der Vetter des Meisters bin. Mein Name ist Alois Hennig. Ich bin der Sohn einer Schwester des Onkel Adam. Ich bin zur Zeit hier in Gran Chorkaplan. Ich habe lange gezögert, ich dachte mir nämlich, daß der Meister es vielleicht für aufdringlich halten würde …«

»Du bist der Sohn der Frau Hennig? Komm' näher, mein Lieber, damit ich dich umarmen kann, das freut mich aber. Ich weiß schon einiges von dir, ich erinnere mich, daß mein armer Vater dich ab und zu erwähnte. Aber so etwas! Das ist ja eine liebe Überraschung! Willst du nicht einen Kognak mit mir trinken?«

»Ich danke, Meister, aber …«

»Was heißt ›Meister‹? Du wirst doch wohl deinen Vetter Franz nicht mit ›Meister‹ anreden! Du trinkst also nicht? Ich aber will trinken, weil ich einen ordentlichen Kater habe. Jetzt komme ich zu dir, lasse Kognak kommen und dann erzählst du mir, wie du lebst, was deine Ziele sind und wie ich dir helfen kann.«

Der junge Pfarrer hatte es aber gar nicht nötig, unterstützt zu werden. Er fühlte sich in Gran geborgen, seine Vorgesetzten waren ihm zugetan, seine ganze freie Zeit widmete er der Musik und war stolz darauf, daß seine Mutter eine geborene Liszt war. Franzi begann mit ihm über kirchliche Musik zu sprechen, und der junge Pfarrer machte ihm eine große Freude mit seiner guten Kenntnis der gregorianischen Musik und der Werke Palestrinas. Sie setzten sich sofort an das Harmonium, das neben dem Gebetschemel des Chorkaplans Alois Hennig stand, und vertieften sich beide derartig in die Zergliederung der Messe – Franzi außerdem auch noch in die Kognakflasche – daß sie die Zeit vollständig vergaßen. Endlich mußte er sich sehr beeilen. Sie umarmten und küßten sich hastig, Franzi rief ihm noch zu, daß er ihn in Weimar gern als Gast auf unbestimmte Zeit sehen und ihn unterrichten wolle, dann lief er zum Dampfer. Er fühlte sich sehr wohl, au diesem Tage hatte er nur Freude erlebt. Vom Dampfer auf die Basilika zurücksehend, dachte er, daß diese schöne Kirche eher ihm gehörte als allen anderen. Der Dampfer legte an, und er vertiefte sich mit dem Bischof Haynald in ein Gespräch über die Zigeuner.

In Pest verbrachte er noch einige Tage im Karacsonyi-Palais, einen Abend bei Nikolaus Barabas, dem berühmten Maler, machte noch eine« Ausflug nach Fot, um sich dort die Fresken des Karolyi-Schlosses anzusehen, und verhandelte mit Heckenast wegen der Herausgabe seines noch zu schreibenden Buches über die Zigeuner. Seine Weimarer Messe wurde auch in Pest aufgeführt, der Fürstprimas hatte die Herminenkapelle erst jetzt eingeweiht. Am letzten Tage ging er zu den Franziskanern. Zum dritten Male besuchte er jetzt diesen freundlichen Orden und, seinen Kindheitserinnerungen nachsinnend, schritt er über die Steinfliesen der weißgetünchten Gänge. Von denen, die ihn vor fünfunddreißig Jahren in diesem Hause noch als kleinen blonden Jungen gesehen hatten, war keiner mehr am Leben, aber auch die jetzigen Insassen waren vor Freude außer sich und verwöhnten ihn, als wenn er heute noch ein kleiner Knabe wäre.

»Was für ein Glück muß es sein, hierher gehören zu können!« sagte er zum Pater Kronperger. »Der Wunsch meiner Jugend, ein Diener Gottes zu werden, ist heute noch nicht ganz in mir gestorben. Und hier, wo einst mein Vater als Novize war, regt sich erst recht mein Herz wieder.«

»Sehnen Sie sich so sehr hierher?«

»Sehr. Meinen Beruf kann ich aber nicht lassen. Ich verfolge große Ziele und muß weiterarbeiten.«

»Das wäre kein Hindernis. Wir haben auch drittgradige Konfratres, die Laien bleiben.«

»Ach, wenn das ginge …«

»Aber selbstverständlich geht das. Das wäre sogar eine große Zierde für unseren Orden. Wir werden das mit dem Präfekten besprechen. Sollen wir die Benachrichtigung nach Weimar schicken?«

Franzi gab seine Weimarer Adresse an: die Altenburg. Die Feder zitterte ein wenig in seiner Hand, als er schrieb. Er lebte ja dort mit einer Frau außerehelich zusammen. Es war doch wohl ein wenig unschicklich, die Mitteilung, daß er ehrenhalber Mönch geworden war, in dieses Haus zu senden. Er gab aber doch diese Adresse an. Er sehnte sich sehr nach dieser großen Freude, daß ein einstiger heißer Wunsch, wenn auch so viel später und unvollkommen, nun doch in Erfüllung gehen sollte. Die Mönche schrieben in klassischem Latein in ihr Jahrbuch: » Liszt a conventu confrater assumi desideravit« – »Liszt äußerte den Wunsch, vom Konvent als Konfrater aufgenommen zu werden.«

Der zukünftige Konfrater trat nunmehr seine Heimreise an. In Wien machte er nochmals Halt wegen Johann Strauß, der seinen »Mazeppa« in seine Spielfolge aufgenommen hatte. Dann folgte Prag, wo man bereits mit den Vorbereitungen für die Graner Messe beschäftigt war. Die tschechische Kirche war reichlich bemüht, ihren Gläubigen diesen musikalischen Genuß zu verschaffen. Hier erreichte ihn ein langer schwärmerischer Brief von Lilla Szilagyis. Die schöne Schauspielerin bedrängte ihn mit ihrem romantischen Wortschwall: Ob der berühmte Mann keine Liebe verspüre, sei es auch noch so wenig, aber richtige Liebe? Denn ihr Traum sei, daß ihre unendliche große Liebe durch eine ebenso große Liebe erwidert würde.

Er antwortete ihr sofort: »Ihr Traum ist der Traum eines Kindes. Ich bin schon viel zu alt, um mich in eine so junge Dame verlieben zu können. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, jemals in meiner Jugend der Sklave einer solchen Liebe gewesen zu sein. Wie soll ich Ihnen erklären, was ich unter dem Wort ›Liebe‹ verstehe? Wenn Sie sich als Romanschriftstellerin für einen solchen Vorgang interessieren, so lesen Sie das dritte Kapitel der ›Nachfolge Christi‹ über die himmlische Liebe. Darin werden Sie die ständige Nahrung meiner Gedanken, das himmlische Manna finden, von dem sich meine Seele während ihrer irdischen Wanderung nährt. Sollten Sie einmal nach Weimar kommen und Ihre schriftstellerische Neugierde wäre bis dahin noch nicht befriedigt, so will ich Ihnen dieses Kapitel in lebendiger Rede erörtern.«

Dann sah er vor sich hin. Was hatte es für einen Zweck, diese junge Frau aufzuwühlen? Er zuckte die Achseln, wie einer, der untätig darauf verzichtet, gegen Stärkere als er selbst anzukämpfen.


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