Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Ehe er in Kryzanovicz die flüchtende Fürstin abholte, drängte es ihn, schnell noch einmal nach Paris zu fahren, um vor dem großen Ereignis seines Lebens mit seiner Mutter und seinen Kindern zu sprechen. Er war gerade mit der Zusammenstellung seines Reiseplanes beschäftigt, als die Zeitungen die Nachricht von der Revolution in Paris brachten. In Kürze erfuhr er auch durch einen Brief Einzelheiten von der Revolution. Der Brief seines Schriftsteller-Freundes Jules Janin war sehr interessant, wahrhaftig, vier Seiten Geschichte. Janin beschrieb ihm die Schießereien auf der Straße, den großen Wirrwarr, die allgemeine Unsicherheit, die schicksalsschweren Stunden Louis Philipps. Doch er hatte seinen Brief noch nicht abgesandt, als der Bürgerkönig abdankte und sein Enkel, der Graf von Paris, zum König ausgerufen wurde. Janin versah also seinen Brief schnell noch mit einem Nachsatz. Er war aber gezwungen, noch einen zweiten Nachsatz anzufügen; denn das Königtum des Grafen von Paris war ebenfalls gestürzt worden, Frankreich wurde Republik. In ein und demselben Briefe drei Staatsformen, Schießereien und Barrikaden …

Mit derselben Post bekam er auch noch einen ganz anders gearteten Brief: ein angehender Komponist namens Smetana schrieb ihm aus Prag. Er widmete ihm eine seiner Kompositionen, die Franzi einst als sehr begabt beurteilt hatte. Im Begleitbrief schrieb der Tscheche:

 

»Bitte seien Sie so liebenswürdig, mein Werk drucken zu lassen. Ihr Name wird den Weg dieses Werkes zum Publikum sichern … Ich wage noch eine Bitte vorzubringen. Meine augenblickliche Lage ist furchtbar. Gott mag jeden jungen Künstler vor Derartigem bewahren. Ich könnte aber meine Existenz sofort sichern, – was mich zum glücklichsten Menschen der Welt machen würde, da ich so meinen einzigen Wunsch verwirklichen könnte, – ich wäre in der Lage, für meine alten armen Eltern bis zu ihrem Lebensende zu sorgen. Dazu müßte ich eine Musikschule gründen … Wenn ich soviel Geld hätte, daß ich eine Wohnung mieten und mindestens zwei Instrumente kaufen könnte, dann wäre ich mit meinen Eltern versorgt. Obwohl ich schaffender und reproduzierender Künstler bin, besitze ich kein Instrument … ein Freund gestattet mir, bei ihm zu üben …«

 

Mit einem Worte, der junge Tscheche wollte ein Darlehen von vierhundert Gulden haben.

Franzi beantwortete beide Briefe sofort. An Smetana schickte er die vierhundert Gulden und Janin antwortete er, daß er nunmehr auf seine Pariser Reise verzichte. Statt nach Paris fuhr er nach Dresden. Er wollte unter allen Umständen mit Wagner sprechen und teilte ihm mit, daß er ihn dann und dann im »Hotel de Saxe« erwarten solle, – in demselben Hotel, in dem er einst mit Lola Montez gewohnt, wo er das Wunderkind Bülow angehört und den eifersüchtigen Tenor hinausgeworfen hatte.

Pünktlich zur vereinbarten Zeit klopfte Richard Wagner, unter dem Arm ein großes Bündel Noten, an die Tür des Zimmers 17. Er war zurückhaltend und erwartungsvoll. Franzi ging ihm mit strahlendem Gesicht entgegen und umarmte ihn.

»Kommen Sie, kommen Sie, damit ich mich Ihrer freuen kann. Man kann mit großen Begabungen wahrhaftig nur selten sprechen. Nehmen Sie bitte Platz!«

Wagner gab langsam seine Zurückhaltung auf. Er bedankte sich für die Anerkennung, die sein berühmter Wohltäter seinem »Tannhäuser« bezeugte. Franzi setzte sich sofort ans Klavier, stellte die Kognakflasche mit hin und spielte die Ouvertüre, seinen Blick in Wagners Blick senkend. Wagners Augen füllten sich langsam mit Tränen.

»Vor Ihnen muß man sich verbeugen. Was Sie am Klavier können, ist ungeheuerlich und wunderbar zugleich. Während Sie spielten, empfand ich fast ein wenig Eifersucht, denn es kam mir vor, als ob Sie meine Ouvertüre komponiert hätten, eben in diesem Augenblick, aber hundertmal besser als ich.«

»Davon kann doch gar keine Rede sein. Ihre Ouvertüre ist ein Meisterwerk, das kann ich nur hundert- und tausendmal wiederholen. Sie werden schon sehen, was ich daraus in Weimar mache! Sie müssen nämlich wissen, daß ich das Weimarer Theater unter die Hände bekommen habe und daß ich dort große Pläne habe. Und da sollen Sie zu allererst berücksichtigt werden.«

Wagner wurde ganz verlegen in seinem großen Glück. Er konnte kaum fassen, was er gehört hatte. Wie eine Offenbarung überstrahlte mit einem Male die Weltautorität des großen Liszt seine kühnsten Hoffnungen. Sie besprachen nun ganz ausführlich die Zukunft in Weimar. Franzi war sich der Schwierigkeiten durchaus bewußt. Er wußte ganz genau, daß selbst die über eine gründliche musikalische Kultur verfügenden Kritiker Wagners Musik leidenschaftlich zurückweisen würden; um wieviel schwerer mußte es also sein, das musikalisch vernachlässigte Publikum der Kleinstadt zu gewinnen. Er nahm aber die Schwierigkeiten ruhig auf sich. Das Vorhaben mußte unter allen Umständen gelingen!

»Ich kann noch immer nicht ganz zu mir kommen«, frohlockte Wagner, »Sie sind also tatsächlich ein Freund meiner Musik?«

»Ich glaube begeistert an sie, ich identifiziere mich damit, ich unterschreibe jeden Takt. Ich halte Sie ganz einfach für ein Genie, mein lieber Freund. Sie werden in meiner Hand die Fahne sein, der ich folge. Woran arbeiten Sie jetzt?«

Wagner holte sein Notenbündel hervor. Auf der Titelseite stand »Lohengrin« geschrieben.

»Ein eigenartiges Wort. Was ist das?«

»Es ist der Name eines Gralsritters. Haben Sie schon von der Gralsage gehört, Herr Hofrat?«

»Jawohl. Aber nennen Sie mich bitte nicht ›Hofrat‹. Also die Gralsage. Ich erinnere mich ganz dunkel, davon gelesen zu haben. König Artus und irgendein runder Tisch, nicht wahr?«

»Ganz recht. Aus diesem Sagenstoff habe ich eine Episode ausgewählt. Wichtiger ist aber die Tendenz dieses Werkes. Es ist schon fast fertig. Der Grundgedanke meines Werkes ist nämlich der, daß den Mann nur eine Liebe glücklich machen kann, die ihm die Frau ganz ohne Vorbehalt in unerschütterlichem, reinem, blindem Glauben gibt.«

»Mit einem Wort«, unterbrach ihn Franzi und lächelte besinnlich, »die Liebe einer Frau soll so sein, wie der Glaube.«

»Genau so. In meinem Musikdrama steigt der Gralsritter vom Berge Montsalvat herab und vermählt sich mit einer Prinzessin, aber unter der Bedingung, daß sie ihn niemals nach Name und Herkunft fragt. Die Frau ist aber nur eine Frau. Das Werk endet mit dem geheimnisvollen Verschwinden des Ritters.«

»Muß es denn so enden?« fragte Franzi, neuen Kognak eingießend.

»Aber selbstverständlich. Gibt es denn eine Frau, die mit vollkommenem Glauben und blinder Hingabe lieben kann?«

»Ich kenne eine. Ob es noch eine zweite gibt, weiß ich nicht.«

Wagner sah seinen Gönner an. Er sah ihn lange an, dann seufzte er tief.

»Wenn Sie wüßten, wie ich Sie beneide. Aber daß ich wieder zur Sache komme … nein, ich mache es lieber am Klavier.«

Er begann zu spielen und erklärte dabei die Instrumentation. Dann sang er sämtliche Rollen. Er hatte sich so tief in das Werk hineingelebt, daß er seinen Vortrag wahrhaftig schauspielerisch zu gestalten vermochte. Als Elsa war er hingebungsvoll und züchtig, bei den Worten der Ortrud machte er ein dunkles, schicksalhaftes Gesicht. Er spielte Klavier und erklärte gleichzeitig die Einzelheiten der Instrumentation. Auf seine Stirn traten Schweißtropfen. Eigentlich hätte er außerordentlich komisch wirken müssen, Franzi konnte aber nicht über ihn lachen. Die Macht des Genies zog ihn unwiderstehlich in seinen Bann, und er wollte sich ja auch gar nicht gegen die elementare Wirkung des Werkes wehren. Eine einzige Bemerkung erlaubte er sich:

»Ihr König spricht immer von ungarischen ›Horden‹ und das mit einer unermeßlichen Verachtung. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß auch ich dort geboren bin. Sehe ich denn aus wie von einer wilden Horde gekommen? Sagen Sie es einmal ernsthaft.«

Er zwinkerte listig mit den Augen.

Wagner wurde plötzlich blaß, wie einer, der seinem Vorgesetzten aus Versehen eine Ohrfeige verabreicht hat. Franzi tröstete ihn aber sogleich wieder und lachte herzlich. Dann wurde das Gespräch wieder ernst. Wagner begann ihm sein Leid zu klagen. Er erzählte von den traurigen Jahren seiner mühseligen Laufbahn. Seinen Vater, der Polizeibeamter in Leipzig gewesen und sechs Monate nach seiner Geburt gestorben war, hatte er nie gekannt. Sein Stiefvater, der ihn erzog, war ein Schauspieler namens Geyer; nach dessen Tode kam er zu Verwandten. Er hatte früh geheiratet, seine Frau war eine gutmütige Person, die sich aber dauernd über ihre Armut beklagte. Und das nicht einmal zu Unrecht. Ohne Sorgen war er noch nie morgens aufgewacht. Zu seiner Armut kam dann noch ein anderer großer Schmerz: vor einigen Tagen erst hatte er seine Mutter zu Grabe getragen.

»Von Opern zu leben ist schwerer«, seufzte er und etwas wie Neid klang aus seiner Stimme heraus, »als von Konzertreisen. Besonders wenn man eine Musik schafft, die in Wahrheit nur zwei Menschen auf der ganzen Welt verstehen …«

»Nur keine Augst, es wird noch alles gut. Glauben Sie nur an sich, das ist die Hauptsache.«

Bei diesem Satze wurde Wagner plötzlich ein ganz anderer. Seine Augen funkelten, seine Lippen bebten, er wuchs über sich selbst hinaus.

»Ich? Ich glaube mehr an mich als an Gott selbst.«

Das gefiel Franzi nicht. Mit dem Namen Gottes ließ er nicht scherzen. Er schwieg jedoch, um die freundschaftliche Stimmung nicht zu trüben, sah auf die Uhr und sprang entsetzt auf.

»Unerhört! Schumanns erwarten mich, ich komme bereits um zwei Stunden zu spät. Ich hatte gar keine Ahnung, daß es schon so spät ist. Kommen Sie auch mit?«

Mit Windeseile liefen sie nach der Wohnung der Familie Schumann. Franzi war über diese Verspätung sehr verärgert. Außerdem fühlte er, daß er wieder zuviel Kognak getrunken hatte. Seine Zunge war etwas schwer, desgleichen seine Füße. Er wußte, daß wiederum ein Unheil im Anzuge war, er konnte es aber jetzt nicht mehr ändern.

Clara empfing sie auffallend kühl. Schumann war still wie immer, aber hinter seiner Schweigsamkeit verbarg sich der Zorn des Beleidigten.

Die Entschuldigung wegen der Verspätung, Claras Vorwürfe, Franzis bittende Erwiderung, Claras harte und sarkastische Entgegnung, alles das hatte eine gute Viertelstunde in Anspruch genommen. Die Stimmung konnte nur durch die Musik gerettet werden. Sie begannen zu musizieren. Franzi wollte gerne das Trio Schumanns hören. Die Musik erklang, und er hätte viel dafür gegeben, wenn er jetzt hätte spurlos verschwinden können. Das ging aber nicht. Dazu kam noch, daß die Musik, die er hörte, ihm ganz und gar nicht gefiel. Sie war schwerfällig und matt. Obwohl er Grund genug hatte, höflich zu den Gastgebern zu sein, war er nicht imstande zu lügen.

»Nun, wie gefällt es Ihnen?« erkundigte sich Clara.

»Meinem Gefühl nach ein wenig schwerfällig.«

Clara schrak zurück, ihre Augen verdunkelten sich. Schumann erwiderte nichts, er wurde weiß bis in die Lippen und seine Hand begann zu zittern. Da setzte sich Franzi ans Klavier, um zu retten, was noch zu retten war. War er denn nicht der Orpheus der Welt, der mit seinen Zaubertönen sogar das brodelnde Meer beruhigen konnte? Aber dem Orpheus zitterten jetzt die Finger. Dreimal nacheinander griff er daneben, was ihm, solange er sich erinnern konnte, noch nie widerfahren war. Die Zuhörer zischten laut auf. Er beendigte das Stück und stand vom Klavier auf. Er fühlte, daß alles umsonst war, nur ein einziger Funke und der aufgespeicherte Sprengstoff explodierte. Davor wollte er flüchten. Er war eben im Begriff, sich zu verabschieden, als Wagner mit Clara ein Gespräch anknüpfte. Er erwähnte Mendelssohn, der voriges Jahr gestorben war. Sie lobten den Verewigten.

»Es ist schade um ihn. Er besaß eine musikalische Sprache wie kein anderer!«

»Mit Ausnahme von Meyerbeer«, warf Franzi dazwischen.

Das war der Funke. Schumann, der Meyerbeer nicht ausstehen konnte, fuhr auf.

» Was sagen Sie da? Sie wollen doch wohl Meyerbeer nicht mit Mendelssohn vergleichen?«

»Selbstverständlich nicht«, rief Franzi und konnte sich schon selbst nicht mehr beherrschen, »man kann sie auch gar nicht miteinander vergleichen. Meyerbeer war in dem Meister, worin Mendelssohn nur Anfänger war.«

»Hören Sie«, zischte Schumann mit bebender Stimme, »wenn Sie nichts weiter als solch einen Unsinn zu sagen wissen, dann schweigen Sie lieber.«

»Werden Sie nicht grob, mein Lieber, ich verstehe doch wohl genau soviel von Musik wie Sie.«

Er sagte das leichthin, eher heiter, um der Angelegenheit die Spitze zu nehmen, und wandte sich an Clara, um sich zu verabschieden. Mit einem Male war Schumann vor ihm und packte ihn an der Brust.

»Hören Sie«, schrie er, »wer sind Sie denn, daß Sie es wagen, so von einem Mendelssohn zu sprechen?«

Franzi blickte erschüttert auf das vor Wut verzerrte Gesicht, aus dem ihm heißer und keuchender Atem entgegenschlug. Er war darauf vorbereitet, daß er den wütenden Mann festhalten mußte. Wagner sprang erschrocken dazwischen, Clara schrie auf. Schumann holte tief Atem, ließ den Rock Franzis los, drehte sich um, verließ das Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Clara blickte Franzi ins Gesicht. In diesem Gesicht sah er alles. Diese Frau haßte ihn tödlich. Diese Frau hetzte im geheimen ihren beeinflußbaren und leicht reizbaren Mann mit seinen gemarterten Nerven gegen ihn auf. Diese Frau konnte ihm, dem Manne mit der unerhörten Anziehungskraft, nicht verzeihen, daß er ihre geheimsten Gedanken durchschaut hatte. Sie blickten sich eine ganze Weile lang unverwandt an.

»Sagen Sie Ihrem Mann, daß er der einzige auf dieser Welt ist, von dem ich mir das gefallen lasse. Kommen Sie, Wagner.«

Sie gingen. Auf der Straße versuchte Wagner eine Unterhaltung in Fluß zu bringen, Franzi aber antwortete nicht. Er schämte sich unbeschreiblich vor sich selbst wegen des Kognaks. Als er sich endlich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, dachte er mit großer Sehnsucht an die Frau, die ihn einst zähmen würde. Aber wann würde das sein? Und würde es überhaupt gelingen?

Am nächsten Tag fuhr er weiter. Die Eisenbahn konnte er nicht benutzen, er mußte die Postkutsche in Anspruch nehmen. Wagner begleitete ihn. Von dem gestrigen Vorfall sprachen sie kein Wort. Wagner war voll von politischen Problemen. Bis zur Abfahrt der Postkutsche erklärte er lang und breit, daß der Sturz Louis Philippes keine Ausnahmeerscheinung sei. Ganz Europa gäre. Die Bewegung habe in Sizilien angefangen, das heißt, dort sei sie zum ersten Male zum Ausbruch gekommen. Nach Paris sei Berlin an der Reihe und dann Wien. Es wäre möglich, daß binnen kurzem ganz Europa in Flammen aufginge. Franzi hörte all dem teilnahmslos zu. Alles das kümmerte ihn nicht im geringsten, er dachte an nichts anderes als an Weimar und seine Heiratspläne, was so eng miteinander zusammenhing. In politisierenden Gesellschaften verkehrte er nicht, er las auch keine Zeitungen. Als die Postkutsche mit ihm davonrollte, fiel ihm plötzlich ein, was Graf Alexander Teleki ihm von der Prophezeiung Széchenyis: »Blut, Feuer und Verwesung in den Spuren Kossuths« erzählt hatte. Was sollte mit Ungarn werden, was mit Österreich, was aus der ganzen Welt?

Als er im Schloß des Fürsten Lichnowsky ankam, empfing ihn der gute Freund mit trauriger Miene. Er hatte schlechte Nachrichten zu melden. In ganz Europa tobte die Revolution. Berlin, Wien, Mailand und Pest seien verrückt geworden. Man sage, daß die Regierung des Zaren Rußland vor Europa hermetisch abschließen wolle. Für Auslandsreisen bekäme niemand eine Genehmigung. In diesem Falle würde aber wohl die Fürstin Sayn-Wittgenstein zu Hause bleiben müssen und der ganze Plan, den sie sich so schön ausgedacht, nicht ausführbar sein. Von der Fürstin keine Nachricht, wann sie reise, deshalb könne man ihr auch nicht entgegenfahren …

Franzi fiel erschöpft in einen Lehnstuhl im großen Saal. Er wurde weiß wie die Wand. Fürst Felix bemühte sich, ihn zu trösten, aber umsonst. Der Gast zog sich in sein Zimmer zurück und schloß sich ein. Stundenlang ging er ruhelos auf und ab, dann warf er sich auf das Sofa, aber seine quälenden Gedanken brachten ihn sofort wieder auf die Beine. Am zweiten Tage hatte er sich einigermaßen wieder in der Gewalt. Er bekam gute Nachrichten aus Ungarn, die ihn ein wenig ablenkten. Die allgemeine Unruhe machte sich auch dort bemerkbar. In Preßburg tagte der Reichstag, die Führung hatte zwar Kossuth an sich gerissen, alles verlief jedoch unblutig. Die Universitätsjugend in Pest, unter ihnen einige Schriftsteller, auch Petöfi, von dem Graf Teleki öfters erzählt hatte, hatten ohne Erlaubnis und ohne Genehmigung der Zensur politische Aufrufe und Freiheitsgedichte veröffentlicht. Die Negierungsgewalt war zunächst zurückgewichen, die Dynastie half sich jedoch durch einen prächtigen Einfall: in der Thronfolge übersprang sie eine Linie, und der außerordentlich volkstümliche achtzehnjährige Franz Josef bestieg den Thron. Es bildete sich eine verfassungsmäßige ungarische Regierung. Ministerpräsident wurde Graf Ludwig Batthyany, sein alter Bekannter aus Preßburg, bei dem er so schöne Stunden verbracht hatte. Das Außenministerium wurde dem Fürsten Esterhazy anvertraut, dem jetzigen Herrn von Raiding. Im übrigen kamen in ganz Europa seine Bekannten in führende Stellungen. Außenminister der französischen Regierung wurde Lamartine, der fast sein Onkel geworden wäre. Eine Hauptgestalt der Revolution in Mailand war die Herzogin Belgiojoso, und sein jetziger Hausherr wurde Mitglied des Frankfurter Parlaments. In Anbetracht dessen wartete Lichnowsky in großer Ungeduld auf eine Nachricht von der Fürstin, um dem Freunde den Liebesdienst zu erweisen und dann nach Frankfurt eilen zu können.

Die Nachrichten aus Ungarn erfüllten Franzi mit Freude. Sein alter Freund, Baron Schober, der Diplomat, sandte ihm ein deutsches Gedicht, das die Tapferkeit der Ungarn pries. Anscheinend hatte sich in Ungarn das nationale Selbstbewußtsein mit urwüchsiger Kraft erhoben. Um seine Gedanken abzulenken und um von ferne auch an dieser Freiheitsbewegung teilzunehmen, entschloß er sich, dieses Gedicht zu vertonen und nahm sich vor, eine Kantate daraus zu machen für Gesangsstimmen, Chor und Orchester.

»Aus Osten, aus der Sonne Tor,
Wälzt sich ein dunkler Strom hervor,
Stolz blickende Scharen,
In der Hand den sausenden Busogan,
Die Erde zittert, wo sie nah'n:
Die Hunnen sind's, die Magyaren.«

Es war ein einfaches, kleines Gedicht, gefiel ihm aber sehr gut. Mächtig und pulsierend sollte es werden, mit dem Motiv des Rakoczi-Marsches. Er nannte es »Hungaria-Kantate« und arbeitete mit viel Liebe daran. Aus seinen herzzerreißenden Zweifeln flüchtete er zu dieser Arbeit. Die Nachrichten über die Revolution wurden immer häufiger, die russische Grenzsperre schien unwiderruflich bevorzustehen. Und von der Fürstin keine Nachricht. Nach dem Abendessen unterhielten sich die beiden Freunde stundenlang, quälten sich stets mit den gleichen Zweifeln und zwangen sich stets zu den gleichen Hoffnungen.

»Heute nacht fiel mir ein«, sagte Franzi eines Abends, »was mir Graf Teleki erzählt hat.«

»Das kann nur etwas sehr Originelles gewesen sein. Als wir zusammen in Spanien an der Seite Don Carlos' kämpften, belustigte sich das ganze Lager an seinen Geschichten. Was hat er Ihnen erzählt?«

»Er hat erzählt, daß Petöfi, ein hervorragender ungarischer Dichter, seine Herzallerliebste erst nach langen Schwierigkeiten von dem allzugestrengen Vater erhielt. Eine Mitgift bekam er nicht und hatte nicht einmal eine anständige Wohnung. Er, Graf Teleki, stellte ihnen daraufhin sein ländliches Schloß für die Flitterwochen zur Verfügung. Der Dichter nahm es an, stellte aber die Bedingung, daß der Graf für diese Zeit das Schloß verlassen müsse. Ungefähr dasselbe geschieht jetzt mit uns, mein lieber Fürst. Wenn die Fürstin Carolyne ankommt, verlassen Sie uns sofort.«

»Ich verlasse Sie, ja, aber die englische Miß und die kleine Tochter kommen doch mit. Sie sind also nicht allein. Wissen Sie was, gehen Sie beide auf mein Schloß nach Grätz, das Kind und die Miß können hierbleiben. Grätz ist ein sehr schönes Fleckchen Erde, der liebe Gott hat es richtig für Verliebte geschaffen.«

»Das ist aber sehr nett von Ihnen, ich danke Ihnen vielmals. Vorausgesetzt selbstverständlich, daß Carolyne geneigt ist, mit mir allein zu bleiben. Wenn Sie wüßten, wie sehr ich mich nach ihr sehne. Ich bin so verliebt, daß ich mir beinahe schon selbst lächerlich vorkomme.«

»Nicht nur Sie, mein lieber Franzi. Auch ich. Ich lache über den Scharfrichter, der sie zur Hinrichtung führt. Wenn man Sie nur erst einmal hinführen würde, nicht wahr?«

Auch am zweiten und dritten Tag kam keine Nachricht. Nach zwei Wochen aufreibenden Wartens aber kam plötzlich, statt jeder Nachricht, die Fürstin selbst, – frisch, gesund, nur durch die ausgestandenen Aufregungen noch etwas magerer geworden. Sie brachte auch die kleine Prinzessin Maria mit und Miß Anderson, wie es geplant war. Sie konnten nicht müde werden zu erzählen, welche Aufregungen sie erlebt hatten. Sie hatten die Grenze gerade zu dem Zeitpunkt erreicht, als der Zar die Ausreise untersagte. Sie waren die letzten, die noch hinüber durften. Die Grenzaufseher wiesen die nach ihnen kommenden Reisenden vor ihren Augen zurück.

Als die beiden Liebenden endlich allein waren, breitete Franzi seine Arme aus.

»Jetzt auch noch nicht?«

»Doch, jetzt schon!«

Sie küßten sich andachtsvoll. Franzi hatte noch nie soviel Seligkeit in einem Kuß gefunden. Die unerforschbaren Triebe seines Herzens weckten in ihm für einen kurzen Augenblick das Gefühl, daß diese Carolyne, die er jetzt in seinen Armen hielt, mit Caroline Unger und Caroline Saint-Cricq identisch sei. Dieses Traumbild verschwand aber sofort wieder. Es war die Fürstin Sayn-Wittgenstein, die er geküßt hatte, und niemand anderes, und wenn ihm der liebe Gott helfen wollte, würde sie eines schönen Tages Frau Liszt …

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«

Sie ging zum Schrank ihres Zimmer, nahm einen Koffer heraus und öffnete ihn. Er war bis obenhin voll mit dicken Bündeln von Tausendrubelscheinen.

»Was ist das?« fragte Franzi

»Ihrem Wunsche gemäß, Marias Geld. Eine Million Rubel in Bargeld. Tausend Stück Tausendrubelscheine. Für soviel habe ich einen Teil meines Gutes verkauft.«

Franzi schob den kleinen Koffer beiseite und wollte die Frau abermals in seine Arme nehmen. Sie sträubte sich.

»Nein, nein. Maria könnte kommen, oder die Miß oder der Kammerdiener.«

»Gut, ich will Sie nicht nötigen. Aber ich habe einen Plan. Fürst Felix will uns für einige Tage sein Schloß in Grätz zur Verfügung stellen. Kommen Sie mit mir dorthin, ohne Ihre Tochter und die Miß. Ich habe mit dem Fürsten vereinbart, daß niemand weiter da sein wird, als ein Kammerdiener für mich und eine Zofe für Sie, die zugleich auch kochen kann. Kommen Sie mit? Oder haben Sie kein Verlangen dorthin zu gehen?«

Die Fürstin wurde ernst.

»Sehen Sie mir in die Augen, Franzi! Ich liebe Sie unendlich. Ich glaube, ich sehne mich viel mehr nach Ihnen als Sie nach mir.«

»Aber?«

»Es gibt kein Aber. Ich komme mit. Wenn es sein muß, gleich morgen. Jetzt aber verlassen Sie mich, denn ich will mich umkleiden.«


 << zurück weiter >>