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Dreizehntes Kapitel

Der Thronwechsel war auch mit einem musikalischen Ereignis verbunden: der Hofkapellmeister von Weimar mußte für die Feierlichkeiten der Thronbesteigung einen Festmarsch komponieren. Bevor er also zur Fürstin Carolyne nach Karlsbad fahren konnte, mußte er doch noch einmal nach Weimar, um mit dem neuen Herrscher an Ort und Stelle den Festmarsch zu besprechen. Er befand sich also in unmittelbarer Nähe der Gefahr: die vornehme und schweigsame Schönheit Agnes' ging ihm nicht aus dem Sinn. Am Tage seiner Ankunft sah er sie noch nicht. Er mußte der verwitweten Maria Pawlowna und dem neuen Großherzog Besuche abstatten. Beide waren schon über die ersten schweren Tage hinaus. Dem jungen Großherzog blieb nicht viel Zeit, sich mit seiner Trauer zu befassen, er ging mit großem Eifer an die Regierungsgeschäfte heran.

»Auf Sie rechne ich unter allen Umständen«, sagte er zu Franzi, »meine kulturellen Pläne kann ich mir ohne Sie gar nicht vorstellen. Wenn ich die wichtigsten politischen Fragen geklärt und Zeit gefunden habe, mich den künstlerischen Angelegenheiten zu widmen, will ich schon einen Weg finden, wie ich Sie zur Arbeit am Theater zurückführe. Seien Sie also darauf gefaßt, daß ich Sie mit dieser Aufforderung hartnäckig verfolgen werde.«

»Das liegt nicht an mir, königliche Hoheit. In einem guten Theater werde ich gerne arbeiten. Und Weimar könnte jetzt seinen Namen mit einer großen Tat in die Musikgeschichte der Welt einschreiben. Ich habe Eurer königlichen Hoheit ja schon viel von der genialen Tetralogie Wagners erzählt. Die müßte von hier aus in die Welt gehen. Wagner ist noch nirgends verpflichtet. Er denkt vorerst an das Straßburger Theater, denn das würde ihm auch die französische Bühne sichern. Wenn ich aber das nötige Geld bekäme, könnte ich diesen Weltruhm für Weimar sichern.«

»Geld, natürlich«, entgegnete mit sorgenvoller Miene der neue Herrscher, »mit wem ich auch spreche, – das erste Wort ist immer Geld. Ich aber kann nur seufzen. Wo soll ich denn nur soviel Geld hernehmen? Also warten wir erst ab. Was menschenmöglich ist, das werden wir tun.«

Der junge Großherzog war voller Schaffenskraft. Allerlei Pläne lagen auf seinem Schreibtisch, die er schon als Erbprinz ausgearbeitet hatte, um zu zeigen, was er leisten könnte, wenn er an die Macht käme. Seinen Vater erwähnte er kaum, mit dem Tatendrang der Menschen, die sich Großes vorgenommen haben, sah er nur in die Zukunft. Maria Pawlowna dagegen erschütterte den Beileidsbesuchen tief, weil sie in diesen Tagen so sehr gealtert war. Sie konnte nur in die Vergangenheit sehen, ihre Zeit war abgelaufen. Nach dem Tode ihres Mannes war sie eine zur Seite geschobene alte Frau, den linken Sitz des Thrones nahm nun ihre Schwiegertochter ein.

»Besuchen Sie mich ab und zu, lieber Freund, wenn Sie Lust haben, mit einer zurückgezogen lebenden alten Frau über Musik zu sprechen. Darunter verstehe ich nicht die Weimarer musikalischen Angelegenheiten, denn daran will ich nicht mehr teilnehmen. Wenn mein Sohn als Herrscher von mir Rat einholen will, werde ich ihm gerne sagen, was ich denke. Ich habe ihn aber so erzogen, daß er stets nur nach seinem eigenen Gutdünken handeln soll. Ich werde Ihnen nun nicht mehr besonders nützlich sein können. Wenn Sie mit der Fürstin Carolyne sprechen, sagen Sie ihr, daß meine Zuneigung zu ihr unverändert ist. Wie sich aber ihre Stellung am Hofe gestalten wird, das werde künftig nicht mehr ich bestimmen, sondern meine Schwiegertochter.«

Mit Sorgen um die Zukunft beladen, kehrte Franzi in den »Erbprinzen« heim. Er fühlte sich unsagbar einsam und dachte immer nur an Agnes. Er schloß sich ein und vergrub sich in seine Noten. Er hätte gerne gearbeitet, aber die Arbeit ging ihm nicht mehr recht von der Hand, und doch hätte er gerade genug zu erledigen gehabt. Endlich warf er die Feder hin und ging an diesem schönen, warmen Sommerabend im Park spazieren. Er suchte einsame Pfade, weil er allein sein wollte. Er wanderte gemächlich in die Gegend jenes kleinen Gartenhauses, in dessen Einsamkeit Goethe sich zurückgezogen hatte, um zu arbeiten. In unmittelbarer Nähe dieses Hauses legte er sich ius Gras. Sinnend betrachtete er die hunderttausend funkelnden Sterne am klaren Himmel. Als wollte er sie um Rat bitten: sollte er seine Hand nun doch nach der Liebe der schönen Agnes ausstrecken, oder sollte er mit großer Selbstbeherrschung der Fürstin treu bleiben? Die Dunkelheit war voller Versuchungen. Die von süßer Sinnlichkeit erfüllte Stimmung des warmen Abends und der Duft des Grases nisteten sich nicht nur in seine Kleider, sondern auch in seine Gedanken ein. Lange lag er so einsam da, und der Betrachtung des Diamantenstromes der Sterne müde, schloß er die Augen. Im selben Augenblick stand vor seinen Sinnen das feine, tieftraurige, schweigsame Gesicht Agnes'. Warum sollte er sich die Wonne dieser Lippen versagen? Es war unritterlich, sich hinter dem Rücken der Fürstin in Abenteuer einzulassen. Aber er wollte lieber unritterlich sein als grausam, Carolyne brauchte von der ganzen Sache nichts zu erfahren. In einem Klatschnest wie Weimar war es zwar sehr schwer, unbeobachtet zu bleiben, aber er vertraute auf sein Geschick. Und mit heißer Sehnsucht arbeitete seine Phantasie an der Zeichnung eines Bildes: wie er während eines Ausfluges in die Umgebung von Weimar den Kopf Gretchens zu sich reißt, um ihren Mund zu suchen. Diese Vorstellung erweckte in ihm ein Gefühl lähmender Beklommenheit, sein Herz schlug wie das eines Diebes auf Schleichwegen. Jetzt wollte er aber seinem Verlangen nicht mehr gebieten. Langsam schlenderte er im Dunkeln nach Hause.

Am anderen Tage wußte er es so einzurichten, daß er mit der jungen Fran in der Altenburg zu zweit blieb. Ohne zu zögern, faßte er ihre Hand.

»Agnes, Sie lieben mich.«

»Ja«, erwiderte sie ruhig ohne jede Überraschung. »Auch ich bin Ihnen nicht gleichgültig. Das wissen wir ja schon seit langem.«

»So ist es. Und was steht uns im Wege?«

»Daß Sie einer anderen Frau gehören.«

»Das will ich aber jetzt vergessen. Und vergessen auch Sie es.«

»Das geht nicht. Und wenn Sie mich wirklich lieben, so sprechen Sie nicht mehr davon. Ist denn unsere Freundschaft nicht schöner und nicht viel mehr als ein Abenteuer? Warum wollen Sie sie nicht schön und rein erhalten?«

Franzi ließ nicht locker. Er bestürmte sie weiter mit dem sinnlichen Ton seiner tiefen Stimme, dessen Wirkung auf die Frauen er nur zu gut kannte. Agnes, das liebe Gretchen seiner Sehnsucht, hörte ihm regungslos, blaß, mit geschlossenen Augen zu, und er raunte ihr in die Ohren, Worte ohne Sinn und Zusammenhang, nur in dem Tone, wie er dem in der Liebe sehr bewanderten Manne eigen ist. Wenn Agnes Gretchen war, so sprach aus ihm nicht Faust, sondern der teuflische Zauber des Mephisto.

»In diesem Hause will ich Sie nicht küssen. Heute abend werde ich es aber so einzurichten wissen, daß die Knaben fortgehen und ich Sie nach Hause begleiten kann. Alles andere überlassen Sie mir. Und jetzt gehen Sie bitte.«

Die Frau ging, mehr tot als lebendig. Franzi wußte, daß ihm der Sieg sicher war. Ein zorniges, trotziges Siegesgefühl übermannte ihn, und er wies sein bedrücktes Gewissen roh und böse zurecht. Allerlei Pläne erwägend, ging er von der Altenburg nach dem »Erbprinzen« und verfluchte die Kleinstadt, in der man ohne Aufsicht nicht einen einzigen Schritt tun konnte. Die Schwierigkeiten stachelten sein Verlangen aber nur noch mehr auf.

Im »Erbprinzen« nahm er die im Laufe des Tages eingegangene Post in Empfang und sah sich zerstreut die Umschläge an. Bei dem einen blieb ihm fast das Herz stehen: an den Buchstaben erkannte er die Schrift Lilines.

Erst oben in seinem Zimmer öffnete er den Brief. Die Gräfin D'Artigaux schrieb ihm ohne jeden besonderen Anlaß. Tief ergriffen, in wonnigem Schmerz, las er den Brief.

»Wenn mir die göttliche Barmherzigkeit wenigstens erlaubte, Ihre Hand zu drücken, dann könnte sich mein Herz vielleicht für einige Tage öffnen. Ich liebe Sie noch immer mit der ganzen Kraft meiner Seele und wünsche Ihnen all das Glück, das ich nicht mehr kennenlernen kann. Ich sehne mich nach Nachrichten von Ihnen, wage aber nicht, Sie zu bitten, daß Sie mir schreiben sollen. Doch gleichviel, ich sehe bis zu meinem Tode allein in Ihnen den einzigen leuchtenden Stern meines Lebens und bete jeden Tag für Sie: beschenke ihn, lieber Gott, oh, beschenke ihn reich, weil er sich Deinem Willen fügt.«

Franzis Kehle zog sich zusammen, seine Augen wurden heiß, als er den Brief hinlegte. Welch ein Wunder gab dieser Frau, der einzigen, ihm für ewig verlorenen, die Feder in die Hand, um seine Gedanken den Tempel der reinen Hingabe zu führen, gerade am heutigen Tage, wo er niederträchtig und leichtsinnig etwas in seiner Seele niederreißen wollte? Eine Zeitlang lief er planlos in seinem Zimmer umher, las den Brief noch einmal, dann entschloß er sich plötzlich und schrieb Agnes einen Brief:

»Mein Liebling«, schrieb er mit hastigen, nervösen Buchstaben, »ich habe eingesehen, daß Sie recht haben. Unsere Freundschaft ist den Verzicht wert. Ich werde Sie heute nicht sehen, und es wird im allgemeinen gut sein, wenn ich Sie vorläufig nicht sehe, bis ich mich beruhigt habe. Üben Sie fleißig, bis ich im Herbst wiederkomme, und denken Sie auch bis dahin in Liebe meiner.«

Den Brief sandte er ihr sofort in die Wohnung.

Seine Jünger wunderten sich zwar immer wieder, daß Agnes ihnen fernblieb, es fiel aber insofern nicht sehr auf, als Franzi die Musiknachmittage in der Altenburg vorübergehend absagte und sich dabei auf seine unendliche Arbeit berief. Nach einem Aufenthalt von nur wenigen Tagen in Weimar reiste er mit der Glückseligkeit eines sauberen Gewissens zur Fürstin nach Karlsbad. Und wie es meistens ist, glaubte er für seine eigene Treue der Geliebten dankbar sein zu müssen, und die Dankbarkeit gab seiner Liebe neue Frische. Erst hier in Karlsbad begriff er, was die Überwindung der Versuchung für seine Seele bedeutete; ein Gefühl der Reinheit, Treue und Güte erfüllte ihn so ganz, daß in ihm der unwiderstehliche Wunsch reifte, seine Kinder wiederzusehen. Die Fürstin Carolyne ging mit großer Freude auf den Plan einer Pariser Reise ein, denn sie hatte schon lange gewünscht, die Kinder kennenzulernen. Sie beschlossen also, nach dem Musikfest in Karlsruhe gemeinsam nach Paris zu fahren und auch die kleine Manja mitzunehmen, damit sie sich mit ihren künftigen Geschwistern langsam anfreunde.

Das Musikfest in Karlsruhe schien anfänglich nur eine kleine lokale Veranstaltung werden zu wollen, die dem Großherzog Friedrich von Baden viel mehr am Herzen lag, als den musikalischen Teilnehmern. Da aber der Großherzog Franzi mit der Leitung dieses Festes betraute, wurde es zu einer Schlacht zwischen den Anhängern der neuen Musik und ihren Feinden. Die Gestaltung des Programmes war Franzi überlassen, und nach langer und sorgfältiger Überlegung wählte er die Tondichter für das zweitägige Fest so aus, daß von den Klassikern Beethoven, Bach und Mozart zu Worte kamen, während die neue Richtung von ihm selbst, Wagner, Berlioz, Schumann und Joachim vertreten wurde; zwischen diesen beiden Gruppen standen noch die Namen Meyerbeer und Mendelssohn. Er selbst brachte zwei Kompositionen. Die eine war ein Männerchor mit Orchesterbegleitung »An die Künstler«, nach dem Gedicht Schillers, das in den Worten gipfelt: »Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie!« Er komponierte den Chor in aller Eile und überließ Raff die Instrumentation. Dann schrieb er in Erinnerung an Beethovens »Ruinen von Athen« ein Klavierkonzert mit Orchester, hauptsächlich, um das großartige, überragende Können Bülows dem Publikum in voller Pracht vor Augen führen zu können.

Schon bei den Vorarbeiten war es kein Geheimnis mehr, daß bei diesem Fest die Leidenschaften aufeinanderprallen würden, da an dieser Veranstaltung, die der Regent als musikalischen Kongreß der süddeutschen Städte plante, eine ganze Reihe Chöre und Orchester kleinerer Orte teilnehmen mußten. Aus diesen Städten liefen nacheinander Nachrichten ein, daß die lokalen Blätter überall heftig gegen die Teilnahme schürten. Auf die Angriffe antwortete hier und da eine Stimme der Liszt-Partei, der Lärm, den die Gegenpartei erhob, wurde daraufhin noch größer. Hier und da erschienen schmähende Artikel oder sarkastische Humoresken, und eines Tages brachte Hans, der mit Franzi zusammen nach Karlsruhe gekommen war, ein Flugblatt mit, das in seinem zornigen Haß und den skandallüsternen persönlichen Angriffen den bisherigen Ton des Pressekrieges weit übertraf. Verblüfft las Franzi diesen anonymen Artikel, der in seiner Vergangenheit herumschnüffelte und mit deutlichen Anspielungen weder die Gräfin D'Agoult noch die Fürstin Wittgenstein verschonte. Wer ließ sich so weit hinreißen und warum? Er fand den ganzen Angriff eher unverständlich als tragisch.

»Ich kann mir schon denken, wo der Wind herweht«, sagte Hans, »das Ganze da hat Hiller gemacht.«

»Wer? Hiller? Laß dich nicht auslachen, mein Sohn. Hiller, mein Jugendfreund? Weißt du denn überhaupt, in welch vertrauter Eintracht wir zusammen gelebt haben, ich, Chopin und er? Wir waren keine Freunde, sondern Geschwister. Von jedem anderen könnte ich das glauben, von meinem lieben, guten Bruder Hiller aber nicht. Gott, wieviel Spaß haben wir zum Beispiel daran gehabt, daß er der Jüngere von uns beiden war. Er ist nämlich zwei Tage später geboren als ich. Er hat den Spaß immer verstanden, er war ein guter Kerl. Nein, mein Sohn, das ist ganz unmöglich! Hiller macht so etwas nicht!«

»Meister, ich behaupte trotzdem, daß Hiller das geschrieben hat. Seit er in Köln Konservatoriumsdirektor geworden ist, ist ihm die Macht zu Kopf gestiegen. Dieses Musikfest hätte er nämlich gerne geleitet, deswegen ist er zornig.«

»Ich bitte dich, Hans, widersprich mir nicht. Ich kenne den guten Ferdinand besser. Diese Verleumdung ist zu häßlich. Laß das sein, sonst werde ich dir noch böse.«

Hans schwieg zwar, man sah es seinem Gesicht aber an, daß er nicht überzeugt war. Und in Franzis Herz schlich ungewollt leises Mißtrauen ein. Unzählige Einzelheiten dieses Flugblattes konnten nur von jemandem stammen, der sein einstiges Leben sehr gut kannte. Vielleicht doch? Wenn er sich aber das lustige, ehrliche Gesicht des alten Kameraden vergegenwärtigte, zürnte er sich selbst wegen dieser Verdächtigung.

Nach drei Tagen legte ihm Hans wortlos etwas vor. Er hatte sich den Briefumschlag verschafft, in dem eine ungenannte Hand diese Schmähschriften an eine Karlsruher Buchhandlung verschickte. Der Briefumschlag wies den Poststempel Köln auf. Und nach drei weiteren Tagen brachte Hans einen Herrn aus Köln mit. Dieser fuhr über Karlsruhe und erzählte, daß er mit Hiller über dieses Fest gesprochen habe. Der Musikdirektor habe die ganze Sache laut beschimpft und sich sowohl über Liszt als auch über Wagner sehr feindselig geäußert.

Diese Entdeckung verdarb Franzi jede Freude an den Karlsruher Konzerten. Umsonst war der Ouvertüre des »Tannhäuser« ein so überwältigender Erfolg beschieden, umsonst die Genugtuung, daß man gezwungen war, sie am zweiten Konzerttage zu wiederholen, umsonst feierten lange nicht mehr gehörte Beifallsstürme das unübertreffliche Spiel seines Lieblings Hans, umsonst der Dank des Regenten und seine vorbehaltlose Anerkennung der neuen Musik, umsonst der unbestreitbare Sieg einzelner Teile des »Lohengrin«, – Franzi ging tagelang mit diesem Dorn im Herzen herum und litt. Daß Hiller sich gegen seine musikalischen Bestrebungen wandte, hätte er sich nicht weiter zu Herzen genommen, daß aber sein bester Jugendfreund in einer so niederträchtigen Weise gegen ihn persönlich vorging, das war ihm eine bittere und schmerzliche Enttäuschung. Die Fürstin und Manja kamen auch nach Karlsruhe, nachdem sie sich eine Zeitlang in München aufgehalten hatten, und Carolyne konnte ihren Geliebten nicht genug trösten. Er nickte nur zu den zärtlichen Worten, Hillers Verrat tat ihm aber so weh, daß er am liebsten bitterlich geweint hätte.

Und gerade jetzt stand er im Begriff, nach Paris zu fahren, wo er seine Jugendjahre mit Hiller verbracht hatte. Die erregende Vorfreude des Wiedersehens mit der alten Stadt war schon von vornherein durch diese schmerzliche Enttäuschung vergiftet. Er mußte immer an den unvergeßlichen Chopin denken. Was würde der arme gute Friedrich zu dieser unglaublichen Überraschung sagen, wenn er noch lebte? Er würde höchstwahrscheinlich dasselbe tun, was er jetzt tat: schweigend um einen trauern, der zwar noch am Leben, für die Liebe und Freundschaft aber gestorben war.

Den Verlust des einstigen Freundes half das Wiedersehen mit dem neuen Freund mildern. Franzi richtete seine Reise so ein, daß er sich wieder mit Wagner treffen konnte. In ihren ausführlichen Briefen vereinbarten sie Basel als Treffpunkt, denn das lag der Badener Grenze am nächsten, die der immer noch verfolgte Revolutionär nicht überschreiten durfte. Wagner wartete bereits in Basel und ahnte nicht einmal, welche Überraschung ihm bevorstand. Franzi hatte noch in Karlsruhe seine Weimarer Schüler überredet, mit ihm zusammen Wagner zu besuchen. Wer kein Geld hatte, eine Karte für die Postkutsche zu lösen, dem schoß er die Reisekosten vor. Die Wagnerianer-Gesellschaft, wie sie sich nannten, besetzte einen ganzen Postwagen: unter Franzis Führung nahmen Hans, der kleine Pruckner, Richard Pohl, Cornelius und Joachim an diesem Ausflug teil; die Fürstin und ihre Tochter folgten ihnen erst am Tage darauf mit ihrem eigenen Wagen.

Abends trafen sie in Basel ein. Sie ließen die Postkutsche vor dem Hotel »Zu den drei Königen« vorfahren, wo Wagner Franzi erwartete. Vorsichtig lugte Hans durch die Tür: es konnte losgehen, Wagner saß schon in der Vorhalle. Franzi winkte, als ob er ein Konzert leitete, und auf seinen Wink begannen sie alle sechs das den König ankündigende Posaunenmotiv aus »Lohengrin« zu intonieren. Das Personal des Hotels lief zusammen, Wagner sperrte Augen, Mund, Nase und Ohren auf.

»Franzi!« schrie er laut.

Die Wiedersehensfreude nahm kein Ende. Nach Franzi kam Hans an die Reihe, trotz seiner Jugend der älteste Wagnerianer und trotz seiner ernsten Zurückhaltung einer der heftigsten Anhänger. Ihn küßte Wagner ebenso leidenschaftlich wie Franzi. Die anderen begrüßte er mit königlicher Herablassung. Als er erfuhr, daß Pohl unter dem Decknamen »Hoplit« jene begeisterten und geistreichen Artikel über die Musik Wagners in den deutschen Zeitungen schrieb, lobte er ihn wie der allerhöchste Kriegsherr seine Generäle. Dann gingen sie gemeinsam in den Speisesaal.

»Heute trinken wir, Kinder!« rief Franzi fröhlich, »wir müssen die Gelegenheit wahrnehmen, denn morgen ist schon die Fürstin da.«

»Hier gibt es einen ganz vorzüglichen Schnaps«, antwortete Wagner, »man nennt ihn Kirschwasser, ich kann ihn nur empfehlen.«

Schon stand die Flasche vor ihnen. Franzi kostete, es schmeckte ihm ganz ausgezeichnet. Und schon nach einer Stunde erschien ihm die ganze Welt in rostgem Lichte. In seiner guten Laune trank er mit den Jungen Brüderschaft, und befahl auch Hans, daß er ihn von nun an Du und Franzi nennen sollte. Der Junge umging jedoch mit großer Erfindungsgabe alle derartigen Redewendungen. Davon abgesehen, unterhielten sie sich glänzend, und am anderen Tage wußte keiner mehr, wie er ins Bett gekommen war. Wagner redete am anderen Morgen aber auch nur Franzi und Hans mit Du an.

Nun kamen auch die Fürstin Carolyne und das junge Mädchen, vielmehr die junge Dame an. Carolyne hatte Franzi noch in Karlsruhe anvertraut, daß sie nicht umsonst in München gewesen waren. Schon am ersten Tage waren sie in der Gesellschaft mit dem jungen Fürsten Konstantin von Hohenlohe-Schillingsfürst zusammengetroffen, und wenn die Anzeichen nicht trügten, so hatten sich die jungen Leute sehr gut gefallen. Es wäre fast für einen Traum zu schön, wenn die ganze Angelegenheit gelänge, denn der junge Fürst war liebenswürdig, von gutem Aussehen und steinreich. Der kleinen Prinzessin sah man die Spuren dieser Begegnungen an: eine selbstbewußte Fraulichkeit zeigte sich in ihren Gesichtszügen, sie wurde viel öfter rot als früher und erblühte mit einem Male, wie junge Mädchen, die einen glücklichen Frühling der Gefühle erleben, von einem Tag auf den anderen schon werden.

Mit der Ankunft der hohen Damen nahm die zügellose Ausgelassenheit ein Ende. Carolyne übernahm mit der selbstverständlichen Gewohnheit einer großen Dame die Leitung der Unterhaltung. Auch sie wollte die ihr noch nicht bekannten Teile der Tetralogie kennenlernen. Wagner ließ sich nicht bitten, versammelte die ganze Gesellschaft im Zimmer der Fürstin und las einzelne Teile aus dem Manuskript vor, das er immer bei sich trug. Ursprünglich war es so geplant gewesen, daß von hier aus nur Franzi und die Damen weiterreisen sollten, sie fühlten sich aber alle miteinander in der trauten Stimmung ihres ungetrübten Einvernehmens und musikalischen Glaubens so wohl, daß sie mit Rücksicht auf den Geldmangel der Jungen die Reisekosten für sie bis Straßburg auslegten. Dahin nahm sie bereits die Eisenbahn mit. Auf der Reise mußte Wagner immer weiter vorlesen. Sie waren nicht mehr weit von Straßburg entfernt, als ihn Franzi fragte:

»Hör' mal, Richard, was wäre, wenn du mit uns nach Paris kämest? Dort könntest du wenigstens einige erquickliche Tage vor Beginn deiner großen Arbeit verbringen und würdest auch meine Kinder kennenlernen.«

»Ich komme mit«, erwiderte Wagner nach kurzer Überlegung.

Auf dem Bahnhof in Straßburg mußten sie lange auf den Anschluß warten. Als das Glockenzeichen zum Einsteigen ertönte, verabschiedeten sie sich alle herzlich voneinander, und die beiden Damen, Franzi und Wagner stiegen die steile Treppe des Eisenbahnwagens hinauf. Die kleine Gruppe der fünf jungen Männer entschwand alsbald ihren Augen. Sie machten es sich auf ihren Plätzen bequem.

In Straßburg hatte Franzi noch ziemlich ruhig den Zug bestiegen. Wie aber die Stunden verrannen und der Zug sich Paris immer mehr näherte, wurde er immer unruhiger. Seit reichlich acht Jahren hatte er seine Kinder nicht mehr gesehen. Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück, und da es ihm unangenehm gewesen wäre, wenn man ihn jetzt angeredet hätte, stellte er sich schlafend. Er überschlug in Gedanken das Alter seiner Kinder, denn er wußte das nie genau und mußte immer erst überlegen. Daniel war vierzehn, Cosima sechzehn und Blandine achtzehn Jahre alt.

Blandine war achtzehn Jahre alt! Älter als die Prinzessin Manja, die die Mutter jetzt verheiraten wollte. Verstohlen öffnete er die Augen ein wenig und sah Manja an, die in einem englischen Roman las, während ihre Mutter mit Wagner über Regierungsformen debattierte. Dann schloß er die Augen wieder. Wie ein Schüler, der nichts gelernt hat und vor der Prüfung in eisigem Schreck in seinem Buche blättert, versuchte auch er, sich vorzustellen, wie er seine Kinder wiedersehen würde. Ihre Gesichtszüge entglitten seinem Gedächtnis aber immer mehr. Und seine Aufregung wurde von Minute zu Minute größer. Es wurde ihm zuwider, Schlaf vorzutäuschen, er zündete sich eine Zigarre an, holte ein Buch hervor, versuchte zu lesen, schlug es aber wieder zu; seine Nerven gehorchten ihm nicht mehr. Vor Konzerten, vor dem Dirigieren hatte er nie unter Lampenfieber zu leiden gehabt. Jetzt empfand er ein sonderbar beklemmendes Gefühl.

Als der Zug in Paris einlief und er von den um ihn herum beschäftigten Trägern hin und her gestoßen wurde, vermochten seine suchenden Augen nirgends eine Familie zu entdecken. Plötzlich rief ihn aber Frau Patersi beim Namen. Er lief zu ihr hin und suchte mit unruhigen, neugierigen Augen in dem fürchterlichen Tumult seine Kinder. Eine junge Dame stand hinter der Erzieherin.

»Blandine«, redete er sie mit einem verstörten Lächeln an.

In stark pariserischem Tonfall verbesserte die junge Dame höflich:

»Ich bin Cosima. Blandine steht hier neben mir.«

Ein junger Bursche aber sprang ihm um den Hals und umarmte ihn stürmisch:

»Papa, Papa!«

Heiß und derb erwiderte er die Umarmung. Seme Augen füllten sich sofort mit Tränen.

»Daniel, mein teurer, kleiner Sohn …«, raunte er mit verschämter Glückseligkeit …


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