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Dreizehntes Kapitel

Peter ging auf der Landstraße, die auf dem jenseitigen Flußufer von Bergamo nach Mailand führt.

Es war spät am Nachmittag, und schon begann im Westen die sinkende Sonne ihre glühende Pracht zu entfalten. Im Osten breitete sich, für Peters Gesichtskreis von parallel laufenden Pappelreihen begrenzt, der Horizont wie ein dunkelblauer Samtvorhang aus.

Peter hatte sich im Schatten einer Rosenhecke ins Gras geworfen und sich – natürlicherweise – eine Zigarette angezündet.

Weit drunten auf der weißen Straße hoben sich zwei kleine schwarze Punkte von dem blauen Samthimmel ab – zwei kleine menschliche Gestalten, die sich auf ihn zu bewegten.

Zerstreut folgte er ihnen mit den Augen.

Als sie näher kamen, sah er, daß es ein Knabe und ein Mädchen war, die barfuß und zerlumpt im Staub der Landstraße einherwanderten. Der Knabe trug drei oder vier buntgefärbte Weidenkörbe auf dem Rücken.

Peter sah es für selbstverständlich an, daß es die auf dem Heimweg begriffenen Kinder irgend eines Bauern aus der Nachbarschaft seien.

Als sie dicht an ihn herangekommen waren, zollten sie ihm den landesüblichen Gruß der Bauern. Der Knabe nahm seinen verwitterten Filzhut vom Kopf, das Mädel knickste und alle beide sagten gleichzeitig › Buona sera, Eccellenzy‹, ohne im Gehen auch nur einen Augenblick innezuhalten.

Peter griff mit der Hand in die Tasche.

»Hier, Kleine!« rief er.

Das Mädchen sah ihn fragend an.

»Da komm her,« sagte er.

Ihr ganzes Gesicht eine Frage, trat sie zu ihm heran, und er gab ihr einige Kupfermünzen.

»Kauf dir was Schönes dafür,« sagte er.

»Danke tausendmal, Exzellenz,« sagte sie und knickste wieder.

»Tausend Dank, Exzellenz,« rief der Knabe aus der Entfernung und zog wieder seinen schäbigen Filzhut.

Und sie trotteten weiter.

Aber Peter blickte ihnen nach und das Herz tat ihm weh. Offenbar gehörten sie zu den Ärmsten der Armen. Er mußte an Hänsel und Gretel denken. Warum hatte er ihnen so wenig gegeben? Er rief ihnen nach und hieß sie anhalten.

Das kleine Mädchen kam zurückgelaufen.

Peter stand auf und ging ihr entgegen.

»Du kannst dir auch noch Bänder dazu kaufen,« sagte er und gab ihr einige Lire.

Erstaunt, ja zögernd betrachtete sie das Geld – offenbar war es eine große Summe in ihren Augen.

»Es ist schon gut – nun macht, daß ihr weiterkommt,« sagte Peter.

»Tausend Dank, Exzellenz,« sagte die Kleine mit einem dritten Knicks und gesellte sich wieder zu ihrem Brüderchen.

»Wohin gehen sie?« fragte eine Stimme.

Peter sah sich um.

Neben ihm stand die Herzogin im Radlerkostüm mit ihrem Rad. Der Anzug war aus blauer Serge gefertigt, dazu trug sie einen Matrosenhut mit blauem Band. Trotz des Aufruhres in seinem Herzen fand Peter Zeit zu denken, daß dies das allererste Mal war, wo er sie anders als in Weiß gekleidet sah.

Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die Kinder gerichtet, die er seinerseits nun mehr oder weniger gern ins Pfefferland gewünscht hätte.

»Wohin gehen sie?« wiederholte sie, und Besorgnis sprach aus ihren Augen und klang aus ihrer Stimme.

Peter faßte sich wieder.

»Die Kinder? Ich weiß nicht – ich habe nicht danach gefragt. Heim – vermutlich, oder nicht?«

»Heim? O nein! Sie sind nicht aus der hiesigen Gegend,« widersprach sie. »Ich kenne alle Armen hier herum. – Ihr dort, holla! Ihr Kinder! Kinder!« rief sie.

Aber sie waren schon etliche hundert Meter weit entfernt und hörten den Ruf nicht mehr.

»Wünschen Durchlaucht, daß sie zurückkommen?« fragte er.

»Ja – natürlich,« erwiderte sie mit einer Spur von Ungeduld.

Er legte den Finger an den Mund und ließ einen lauten Pfiff ertönen, und dies hörten die Kinder.

Sie blieben stehen und sahen fragend zurück.

»Kommt zurück – kommt zurück!« rief die Duchessa und winkte zugleich mit der Hand.

Sie kehrten um.

Während sie ihnen entgegensah, flüsterte die Duchessa: »Die rührenden kleinen Bälger.«

Der Junge war ein kräftiger, vierschrötiger Bursche von zwölf oder dreizehn Jahren mit einer Fülle brauner Haare, mit gebräunten Wangen, sonnigen braunen Augen und einem köstlichen altklugen Ausdruck von bewußtem Verantwortlichkeitsgefühl. Er war in einen alten, abgeschossenen und abgetragenen Männerrock gekleidet, der ihm bis auf die Knöchel fiel.

Das Mädel war Zehn oder Elf und sah recht dürftig und zart, ausgehungert und armselig aus, und in ihren Augen lag ein sorgenvoller, bekümmerter Ausdruck. Ihr Haar mochte auch einmal braun gewesen sein, aber jetzt war es wie abgeschossen, aschfahl, ja beinahe grau. Die arme kleine Stirne war von viel zu sehr verfrühten Runzeln, den Runen von Schmerz und Sorge, durchfurcht wie die Stirne eines alten Weibes.

Die Duchessa schob ihr Zweirad vor sich her und ging, von Peter begleitet, den beiden auf der Landstraße entgegen. Noch nie hatte sich Peter so nahe bei ihr befunden – manchmal streifte ihr Arm beinahe seinen Rock. Vermutlich segnete er jetzt in seinem Herzen die Kinder.

»Wohin geht ihr?« fragte die Duchessa sanft und lächelte auf das traurige, schmale Gesicht des Mädchens herab.

Peter gegenüber hatte die Kleine keine Angst gezeigt, aber der großen Dame gegenüber fühlte sie sich offenbar eingeschüchtert. Die Zehen ihrer nackten Füßchen wühlten aufgeregt im Staube; sie hielt den Kopf gesenkt und blickte ängstlich auf den Bruder.

Aber der Bruder zog den Hut nach der Art eines italienischen Bauern, was besagen will mit der Eleganz eines Hofmannes, und antwortete mutig: »Nach Turin, Herrlichkeit.«

Dies wurde in so selbstverständlicher Weise geäußert, als wäre es nur ein Katzensprung – ebenso hätte er sagen können: Nach dem nächsten Bauernhof.

Eine solche Antwort hatte die Duchessa nicht erwartet. Verblüfft, ihren Ohren kaum trauend, wiederholte sie: »Nach – Turin –!«

»Ja, Herrlichkeit,« bestätigte der Knabe.

»Aber – aber Turin – Turin liegt ja Hunderte von Kilometern von hier entfernt,« stieß sie fast keuchend hervor.

»Ja, Exzellenz,« sagte der Junge wieder.

»Ihr geht nach Turin – ihr zwei Kinder – zu Fuß – so ohne weiters!«

»Ja, Exzellenz.«

»Aber – aber, da braucht ihr ja einen ganzen Monat dazu.«

»Verzeihung, Exzellenz,« versetzte der Junge, »aber man hat uns gesagt, wir würden nur fünfzehn Tage brauchen.«

»Woher kommt ihr denn?« forschte sie weiter.

»Von Bergamo, Exzellenz.«

»Wann seid ihr denn von Bergamo aufgebrochen?«

»Gestern früh, Exzellenz.«

»Ist die Kleine hier deine Schwester?«

»Ja, Exzellenz.«

»Habt ihr einen Vater oder eine Mutter?«

»Nur noch einen Vater, Exzellenz – Mutter ist tot.«

Beide Kinder bekreuzten sich, und Peter war etwas überrascht, als er es die Herzogin ebenfalls tun sah. Noch kannte er nicht die schöne Sitte im lombardischen Land, daß man bei Erwähnung von Verstorbenen das heilige Zeichen des Kreuzes macht und die Unterhaltung so lange unterbricht, bis man leise das übliche Gebet für die Abgeschiedenen gesprochen hat: »Herr, gib allen abgestorbenen christgläubigen Seelen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen in Ewigkeit! Amen.«

»Und wo ist euer Vater?« fragte die Duchessa weiter.

»In Turin, Exzellenz,« antwortete der Junge. »Er ist Glasbläser. Wegen des Streiks in Bergamo ist er nach Turin gegangen, um dort Arbeit zu suchen. Jetzt hat er welche gefunden und uns sagen lassen, wir sollten zu ihm kommen.«

»Und ihr zwei Kinder wollt allein, zu Fuß – nach Turin!« Sie konnte sich von ihrem Erstaunen über diese traurige Tatsache noch immer nicht erholen.

»Ja, Exzellenz.«

»Die armen kleinen Waisen machen einem Herzweh,« sagte sie auf Englisch zu Peter. Dann fuhr sie auf Italienisch zu fragen fort: »Aber – aber von was lebt ihr denn unterwegs?«

Der Junge deutete auf die Körbe, die er trug.

»Wir verkaufen diese Körbe, Exzellenz.«

»Was kosten sie?« erkundigte sich die Herzogin.

»Dreißig Saldi, Exzellenz.«

»Habt ihr seit gestern viele verkauft?«

Der Junge blickte zur Seite, und nun war die Reihe an ihm, den Kopf hängen zu lassen und mit seinen nackten Zehen im Staub zu wühlen.

»Habt ihr überhaupt keinen verkauft?« rief sie aus.

»Nein, Exzellenz. Die Leute wollten keine kaufen,« gestand er mit niedergeschlagenen Augen in traurigem Ton.

» Poverino,« flüsterte sie. »Wo wollt ihr heute nacht schlafen?«

»In einem Haus, Exzellenz,« sagte er.

Aber diese Auskunft wollte der Duchessa etwas allzu unbestimmt erscheinen.

»In welchem Haus?« erkundigte sie sich weiter.

»Das weiß ich noch nicht, Exzellenz,« bekannte er. »Wir werden schon ein Haus finden.«

»Wollt ihr mit mir zurückgehen und in meinem Hause schlafen?«

Brüderchen und Schwesterchen sahen einander fragend an und berieten sich schweigend.

Dann sagte das Brüderchen: »Um Vergebung, hohe Dame – aber mit Euer Exzellenz Erlaubnis – ist es weit?«

»Leider ist es nicht sehr nahe – drei oder vier Kilometer.«

Wieder tauschten die Kinder beratende Blicke, dann schüttelte der Junge den Kopf.

»Tausend Dank, Exzellenz. Mit Eurer gnädigen Erlaubnis möchten wir lieber nicht zurück. Wir müssen noch weitergehen. Wenn die Nacht kommt, werden wir sicher ein Haus finden.«

Wieder sagte sie auf Englisch zu Peter: »Sie sind zu stolz, um zu gestehen, daß ihr Haus eine Hecke sein wird.«

»Habt ihr keinen Hunger?« fragte sie die Kinder weiter.

»Nein, Exzellenz; im Dorf da drunten haben wir Brot bekommen.«

»Und ihr wollt nicht mit mir heimgehen und gut essen und gut schlafen?«

»Verzeihung, Exzellenz! Mit Ihrer gnädigen Erlaubnis – Vater würde es gewiß nicht gerne sehen, daß wir wieder rückwärts gingen.«

Die Duchessa betrachtete das kleine Mädel.

Das Kind trug um den Hals ein Band mit einer Medaille der unbefleckten Empfängnis. Das blaue Band war schmutzig und abgetragen.

»O, du hast eine heilige Medaille,« bemerkte die Duchessa.

»Ja, gnädige Dame,« erwiderte das Mädchen knicksend, indem es zum ersten Male sein kleines, runzliges, verwelktes Gesichtchen erhob.

»Den ganzen Weg entlang hat sie ihre Gebete gesprochen,« wagte der Junge ungefragt zu sagen.

»Das ist brav,« lobte die Duchessa. »Du bist aber noch nicht zum ersten Male bei der heiligen Kommunion gewesen – oder doch?«

»Nein, Exzellenz,« sagte das Mädchen, »aber im nächsten Jahr komme ich dazu.«

»Und du?« fragte die Dame den Buben.

»Ich war an Fronleichnam dabei,« erwiderte er etwas stolz.

Die Duchessa wendete sich auf Englisch an Peter: »Denken Sie sich, ich habe nicht einen Centesimo in der Tasche – ich bin ohne Börse ausgegangen!«

»Wieviel soll man ihnen geben?« fragte Peter.

»Natürlich muß man daran denken, daß sie beraubt werden könnten,« überlegte sie. »Würde man ihnen einen Schein von größerem Betrag geben, so müßten sie wechseln lassen und würden nach aller Wahrscheinlichkeit betrogen. Was ist da zu tun?«

»Ich will einmal mit dem Jungen sprechen,« sagte Peter und fragte diesen dann auf Italienisch: »Möchtet ihr nicht gerne mit der Eisenbahn nach Turin fahren?«

»O ja, Exzellenz,« sagte der Junge, nachdem er sich wieder stumm mit seinem Schwesterchen beraten hatte.

»Wenn ich euch nun das Geld für den Fahrpreis gäbe, könntest du auch damit umgehen und aufpassen, daß euch die Leute nicht betrügen und bestehlen?«

»O ja, Exzellenz.«

»Ihr könntet noch heute abend in Venzona, zwei Kilometer von hier, den Zug erreichen. Nach etwa zwei Stunden würdet ihr in Mailand ankommen, wo ihr in einen andern Zug, den Zug nach Turin umsteigen müßtet. Morgen früh wäret ihr dann in Turin.«

»Ja, Exzellenz.«

»Aber wirst du dich auch von niemand bestehlen lassen, wenn ich dir das Geld dazu – wenn ich dir hundert Lire gebe?«

Erstaunt, beinahe erschrocken fuhr der Junge zurück: »Hundert Lire?« stammelte er.

»Ja,« sagte Peter.

Brüderchen sah Schwesterchen an.

»Verzeihen Euer Gnaden,« sagte es dann, »kostet es hundert Lire, mit der Eisenbahn nach Turin zu fahren?«

»Nein, wie ich glaube, wird es nur acht bis zehn Lire kosten.«

Wieder wurden Blicke getauscht zwischen Brüderchen und Schwesterchen.

»Bitte um Vergebung, Euer Gnaden. Mit Euer Exzellenz gnädiger Erlaubnis möchten wir dann keine hundert Lire haben.«

Wenn Peter und die Duchessa bei diesen Worten des kleinen Buben ein verstecktes Lächeln austauschten, wird man ihnen hoffentlich keinen Vorwurf daraus machen.

»Wie wär's, wenn ich euch fünfzig Lire gäbe?« fragte

»Fünfzig Lire, Exzellenz?«

Peter nickte bejahend.

Wieder suchten die Augen Brüderchens bei Schwesterchen um Rat.

»Ja, Exzellenz,« genehmigte Brüderchen dann.

»Bist du überzeugt, daß du gut damit umgehen und es so aufheben kannst, daß man euch das Geld nicht stiehlt?« warf die Duchessa ängstlich ein. »Man wird euch bestehlen wollen. Wenn du im Zug einschläfst, wird man versuchen, dir die Tasche zu leeren.«

»Ich werde das Geld verstecken, hohe Dame. Niemand soll mich bestehlen. Wenn ich im Zug einschlafe, setze ich mich darauf und meine Schwester wacht. Wenn meine Schwester schläft, so wache ich,« versprach der Kleine zuversichtlich.

»Sie müssen es ihm in möglichst kleiner Münze geben,« riet die Duchessa, »Sie müssen es zusammenscharren, so gut es geht.«

Und mit Ein-, Zwei-, Drei- und Zehnlirenoten und mit etlichen Silber- und Kupfermünzen stellte Peter den Betrag zusammen.

»Tausend Dank, Exzellenz,« sagte der Junge und verbeugte sich mit edlem Anstand; dann verteilte er das Geld in alle möglichen verborgenen Taschen.

»Tausend Dank,« sagte auch das kleine Mädchen mit tiefem Knicks.

» Addio, e buon viaggio,« sagte Peter.

» Addio, Eccellenze,« sagte der Junge.

» Addio, Eccellenze,« sagte das Mädchen.

Unwillkürlich beugte sich die Duchessa nieder und drückte dem armen kleinen Ding einen Kuß auf die runzlige, schmale Stirne. Als sie sich aufrichtete, sah Peter, daß ihre Augen feucht waren.

Die Geschwister machten sich wieder auf den Weg. Sie sprachen miteinander und begleiteten nach der Art ihrer Nation ihre Reden mit lebhaften Gebärden. Plötzlich blieben sie stehen und Brüderchen rannte zurück, während Schwesterchen auf es wartete.

Der Junge nahm den Hut ab und sagte: »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Exzellenz, aber ...«

»Nun, was ist denn los?« fragte Peter.

»Euer Exzellenz halten zu Gnaden, aber sind wir verpflichtet, mit der Eisenbahn zu fahren?«

»Verpflichtet?« fragte Peter erstaunt. »Wieso? Wie meinst du das?«

»Nämlich wenn wir nicht dazu verpflichtet wären, würden wir mit Euer Exzellenz Erlaubnis das Geld lieber sparen.«

»Aber – aber, dann müßtet ihr ja zu Fuß gehen,« rief Peter.

»Aber wenn wir nicht verpflichtet sind, mit der Eisenbahn zu fahren, würden wir Euer Exzellenz bitten, das Geld lieber sparen zu dürfen. Wir möchten das Geld sparen, um es Vater zu geben, denn der Vater ist sehr arm. Fünfzig Lire ist so arg viel Geld!«

Diesmal blickte Peter die Duchessa Rat suchend an.

Ihre noch immer in Tränen schwimmenden Augen erwiderten: »Lassen wir sie tun, wie sie wollen.«

»Nein, ihr braucht nicht zu fahren – es wird euch nur sehr dringend geraten,« sagte er zu dem Buben mit einem Lächeln, das er nicht ganz unterdrücken konnte. »Tut, was ihr wollt, aber ich an eurer Stelle würde meine armen kleinen Füße schonen.«

» Mille grazie, Eccellenze,« sagte der Kleine, indem er ein letztes Mal seinen schäbigen Hut zog. Dann rannte er zu seiner Schwester zurück, und einen Augenblick später schritten die beiden entschlossen aus und verschwanden den beiden Nachschauenden bald bei der nächsten Wegbiegung aus den Augen.

*

Einen Augenblick sahen ihnen die Duchessa und Peter schweigend nach.

Dann sagte die Duchessa wie zu sich selbst: »Hier, Herr Romanschriftsteller Felix Wildmay, hätten Sie einen Stoff, der für Sie wie gemacht wäre!«

Peter war starr vor Staunen. War es möglich, daß sie ihn durchschaut hatte? Die verwirrte Antwort blieb ihm in der Kehle stecken und nur ein unverständlicher Laut wurde hörbar.

Aber die Duchessa schien dies nicht zu bemerken.

»Glauben Sie nicht, daß dies für Ihren Freund ein ergreifender Stoff zu einem Roman oder einer Novelle wäre?« fragte sie.

Es läßt sich denken, wie erleichtert Peter aufatmete.

»O – o ja,« stimmte er eifrigst zu.

»Haben Sie jemals so etwas von Mut gesehen,« fuhr sie fort. »Diese wundervollen, prächtigen Kinder! Man denke: fünfzehn Tage und fünfzehn Nächte allein und unbeschützt auf der Landstraße! Diese armen kleinen Dinger! Und diese Angst, von der sie in Wahrheit, im innersten Herzen erfüllt sind! Wem würde auch mit einer solchen Reise vor sich nicht das Herz schwer werden? Aber wie sie sich zu beherrschen, wie sie ihre Angst zu verbergen verstanden! Ach, ich hoffe nur, daß sie nicht bestohlen, nicht ausgeraubt werden! Gott schütze sie – Gott schütze sie!«

»Ja, Gott schütze sie,« sagte auch Peter.

»Und das kleine Mädel mit ihrer Medaille der unbefleckten Empfängnis! Offenbar ist der Vater kein so roher Kerl, als man meinen sollte, wenn er ihnen eine solche religiöse Erziehung hat angedeihen lassen. Ach, ich bin fest überzeugt, ganz fest überzeugt, daß die heilige Jungfrau die Gebete der armen Kleinen erhört und uns den Kindern in den Weg geführt hat.«

»Gewiß,« bestätigte Peter vielleicht etwas doppelsinnig, aber es freute ihn, daß sie sich selbst und ihn in dem persönlichen Fürwort vereinigte.

»Was in Ihren Augen natürlich als der Höhepunkt der Albernheit erscheint,« setzte sie, ihm mit ernstem Lächeln in die Augen schauend, hinzu.

»Warum sollte dieser Glaube mir als der Höhepunkt der Albernheit erscheinen?«

»Sie sind doch Protestant, wie ich vermute?«

»Das vermute ich auch. Aber was hat dies damit zu tun? Jedenfalls bin auch ich davon überzeugt, daß es mehr Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, als unsre Schulweisheit sich träumen läßt. Ich sehe keinen Grund ein, weshalb ich nicht glauben sollte, daß die heilige Jungfrau selbst uns diesen Kindern in den Weg geführt hat.«

»Was würden aber Ihre protestantischen Geistlichen sagen, wenn sie hörten, daß Sie so sprechen? Nennen sie dies nicht ›papistischen Aberglauben‹?«

»Mag sein. Aber ich glaube nicht, daß es überhaupt Aberglauben gibt. Aberglauben ist im Grund genommen doch nur das Zugeständnis, daß es in einem so mit Geheimnissen und Widersprüchen erfüllten Universum wie dem unsrigen überhaupt nichts Unmögliches gibt.«

»O nein, nein,« wandte sie lebhaft ein. »Aberglauben ist der Glaube an etwas Häßliches und Schlechtes und Sinnloses. Das ist der Unterschied zwischen Aberglauben und Religion. Religion ist der Glaube an etwas Schönes und Gutes und Bedeutungsvolles – an etwas, das die dunklen Pfade des Lebens erhellt – an etwas, das uns zu leben und zu sehen hilft.«

»Ja,« sagte Peter, »ich pflichte dieser Unterscheidung bei.« Und nach kurzem Zögern fragte er: »Ich glaubte, alle Katholiken seien verpflichtet, am Sonntag eine Messe zu hören?«

»Natürlich sind sie dies!«

»Aber – aber, Durchlaucht –« begann er.

»Ich höre die Messe nicht nur Sonntags, sondern tagtäglich.«

»Oh? Wirklich? Ich bitte um Verzeihung,« stammelte er, »nur – ich – ich meine – ich – man – man sieht Durchlaucht doch nie in der Dorfkirche.«

»Nein, denn wir haben Kapelle und Kaplan im Schloß.«

Damit schwang sie sich auf ihr Rad.

»Leben Sie wohl!« sagte sie und fuhr von dannen.

»So, so! Also ist ihre Frömmigkeit doch nicht so ganz quantité négligeable,« folgerte Peter.

»Aber was kommt es auf ein Hindernis mehr oder weniger an,« fragte er später Marietta, die ihn beim Essen bediente, auf Englisch; »wenn sich ohnehin eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns dehnt? Seht Ihr diesen Fluß?« Dabei deutete er durchs offene Fenster auf den Aco. »Das ist ein Symbol! Sie steht drüben, ich hüben, und wir tauschen kleine Scherze hinüber und herüber! Aber der Fluß ist da – zwischen uns – und trennt uns. Sie ist die Tochter eines Grafen, die Witwe eines Herzogs, die Schönste ihres Geschlechtes, Millionärin und obendrein Katholikin. Und was bin ich? O ja, ich bin ein ganz gescheiter Kerl – das bestreite ich gar nicht. Aber sonst? ... Meine liebe Marietta, mit einem Wort gesagt: ich bin das Opfer einer übel angebrachten Liebe!«

» Non capisco francese,« erwiderte Marietta.


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