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Neuntes Kapitel

Peter gab sich dem lieblichen Zeitvertreib hin, seine Distelfinken mit Brotkrumen zu füttern, aber im kritischen Augenblick stürzten etliche zwanzig Sperlinge mit raubtierartiger Gier aus dem nächsten Busch hervor und schnappten den armen Finken die Bissen sozusagen vom Schnabel weg.

Lächelnd beobachtete die Duchessa dies Schauspiel eine Weile – wunderbarerweise hatte Peter dem Kastell Ventirose den Rücken zugekehrt und – was noch merkwürdiger war – auch sein Daumen juckte nicht, so daß er keine Ahnung von ihrer Anwesenheit hatte.

Endlich schüttelte sie bekümmert, doch wie immer den Schalk im Nacken, den Kopf und seufzte: »Ach, dieses Diebesgesindel, dieses freche Pack!«

Peter drehte sich auf dem Absatz herum und grüßte.

»Diese Räuber!« sagte sie mit einem Blick auf die Vorposten der Spatzen.

»Ja, die armen Dinger,« sagte er.

»Arme Dinger!« rief sie entrüstet. »Diese gewissenlosen kleinen Ungeheuer!«

»Sie können nichts dafür,« entschuldigte er, »das liegt nun einmal in ihrer Natur!«

»Sie verteidigen sie alles Ernstes?« fragte sie verwundert.

»Ach du lieber Gott, nein,« lenkte er ein, »ich verteidige überhaupt nichts – ich nehme nur alles hin wie es ist. Spatzen – Finken. Es ist so der Lauf der Welt. – Die gegebene Weltordnung.«

»Die gegebene Weltordnung? Wieso?« fragte sie verständnislos.

»Brot! Spatzen – Finken: der Räuber und der Beraubte, Hammer und Amboß! Das ist der ewige Kampf ums Dasein – der Gewissenloseste gewinnt. Wir haben hier im kleinen, was sich tagtäglich im großen begibt.«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Sie sehen Himmel und Erde durch eine schwarze Brille an, fürchte ich.«

»Nein, denn es ist ein Ausgleich vorhanden. Im Verlauf ihrer Entwicklung gelangen die Wesen vom Stand des Räubers in den des Beraubten. Dafür aber entschädigt der Gewinn an Talent und Empfindungsfähigkeit. Man lebt nicht vom Brot allein. Diese Distelfinken zum Beispiel können singen und erfreuen sich Ihres Wohlwollens. Die Spatzen dagegen können nichts, als einen entsetzlichen Spektakel vollführen und sind Ihnen ein Greuel. Hierin liegt der Ausgleich. Der Räuber wird niemals die Freude haben, singen zu können und von schönen Damen bemitleidet zu werden.«

»N–ei–n, Sie mögen recht haben,« gab sie zögernd zu. »Aber – aber sie fühlen dafür auch nicht die Verzweiflung, die der Sänger fühlt, wenn ihm ein Lied nicht gelingt.«

»Oder wenn schöne Damen kein Mitleid fühlen. Das ist wahr,« stimmte Peter bei.

»Und mittlerweile kriegen sie die Brotkrumen,« sagte sie.

»Die bekommen sie allerdings,« gab er zu.

»Ich fürchte – ich fürchte, Ihr Ausgleich gleicht doch nicht ganz aus.«

»Der Wahrheit zu Ehren gebe ich das zu.«

»Jedenfalls möchte ich nicht,« fuhr sie fort, »daß mein Garten ein Bild des allgemeinen Kriegsschauplatzes sei – im Gegenteil, ich möchte ihn zu einem Ort des Friedens, einer Zufluchtstätte der Beraubten machen!«

»Aber warum vergebliche Wünsche hegen? Wie könnte dies geschehen?«

»Man könnte sich einen Drachen halten – an Ihrer Stelle würde ich mir einen Spatzen vertilgenden und Finken respektierenden Drachen eintun.«

»Das wäre nur von Übel. An Stelle des einen Räubers würde sofort ein andrer entstehen.«

Ihre Augen blickten lustig, aber sorgenvoll schüttelte sie das Haupt und sagte leise: »Ach, Ihre Brille ist schwarz – ganz schwarz!«

»Das will ich nicht hoffen! Aber ich sehe die Zustände auf unserm Planeten so, wie sie nun einmal sind. Der Räuber und Ausbeuter ist so unvermeidlich und allgegenwärtig als das Gesetz der Schwerkraft. Außerdem vermag er auch mit proteusartiger Geschwindigkeit die Gestalt zu wechseln. Manchmal zeigt er sich als kreischender Spatz, dann trägt er plötzlich die Schürze eines dienstwilligen Grünkramhändlers, aber ein andermal ist er ein erfolgreicher Geldverleiher oder der vertraute, zuverlässige Freund des Hauses. Aber da ist er immer – immer liegt er irgendwo auf der Lauer.«

»Wenn die Dinge wirklich so schlimm liegen, wie Sie sagen, so muß ich meinen Vorschlag wiederholen: Sie sollten sich einen Drachen halten! Schließlich wollen Sie nur Ihren Garten schützen, und der ist ja nicht so groß. Wenn Sie einen gut beanlagten, bildungsfähigen Drachen bekommen, so können Sie ihn lehren, Grünkramhändler, zuverlässige Freunde und sogar Geldverleiher nebst den Spatzen zu verschlingen.«

»Ihr Vorschlag kommt einer Zustimmung zu meiner Behauptung gleich. Sie würden nur einen andern Räuber an die Stelle der vorigen setzen – er ist nun einmal vorhanden und nicht auszurotten.«

Die Duchessa ließ ihre Blicke sinnend über die vor ihr ausgebreitete Landschaft schweifen: dann wandte sie sich mit einer schönen Mischung von Ernst und Heiterkeit wieder Peter zu.

»Und Sie behaupten wirklich, keine schwarze Brille zu tragen? Dann müssen Ihre Augen selbst ein Paar schlimmer Pessimisten sein!«

»Im Gegenteil,« versicherte Peter siegesgewiß, »weil sie Optimisten sind, blicken sie vorwärts nach helleren, fortgeschritteneren Regionen als die unsres Sonnensystems.«

Die Duchessa lachte und Peter sagte sich, sie habe den schönsten Mund, die schönsten Zähne, die verheißungsvollsten Augen und das lieblichste Lachen und sei überhaupt die vollkommenste Frau außerhalb des Paradieses.

»Ich bin Ihrer Dialektik nicht gewachsen,« sagte sie. »Aber,« fuhr sie fort, »würden Sie mich auch für einen der bösen Ausbeuter halten, wenn ich Sie bäte, mir ein Stückchen Brot zu überlassen?«

»O bitte, nehmen Sie alles was ich noch habe,« rief er eifrig, »aber – aber – wie?«

»Werfen Sie's!« befahl sie rasch entschlossen.

So warf er denn, was ihm noch an Brot übrig geblieben war, über den Fluß, und leicht und behend fing es die Herzogin im Fluge auf.

»Danke vielmals,« rief sie lachend und machte ihm eine leichte Verbeugung.

Dann begann sie das Brot zu zerkrümeln und auf die Erde zu streuen, und im Nu war sie von einem Schwarm zwitschernder Vögel umringt. Nun konnte Peter mit Muße ihre anmutigen Bewegungen, die geschmeidige Kraft, die sie entfaltete, beobachten und sich an dem schönen Anblick weiden, den sie, mit dem seidig erglänzenden Rasen und den hohen, von der Sonne durchflirrten Bäumen als Hintergrund, bot. Wie immer war sie weiß gekleidet, in einen feinen, dünnen Stoff, der in vielen Falten an ihrer schlanken Gestalt herabfiel. Auf dem Kopf trug sie einen weißen Gartenhut mit einem großen roten Rosenzweig, unter dem ihr goldbraunes Haar hervorschimmerte. Auch im Gürtel nickten zwei große rote Rosen.

»Welche Kraft, welches Feuer, welche Frische, welche Gesundheit!« dachte Peter, als er sie betrachtete – nicht ohne tiefinnerliche Bewegung.

Sie streute ihre Brosamen unter die Vögel aus, aber sie brachte es fertig, die Distelfinken zu bevorzugen. Manchmal machte sie mit der rechten Hand eine trügerische Bewegung, durch die sich die allzu gierigen Sperlinge irreführen ließen, und schüttelte dann mit der linken eine Menge Krumen ins Gras, wo die Distelfinken versammelt waren. Wagte sich trotzdem ein gar zu frecher Spatz heran, so verstand sie es, ihn zu verscheuchen, ohne dadurch die Finken zu erschrecken.

Und dabei lachten ihre Augen, glühten ihre Wangen und war jede Bewegung ihres Körpers anmutig und schön. Als der Brotvorrat zu Ende war, schlug sie sachte die Hände zusammen, um auch das letzte Krümchen zu entfernen, und lächelte Peter bedeutungsvoll zu.

»Ja,« erkannte er an, »Sie haben die Spatzen schlau an der Nase herumgeführt. Sie bedürfen jedenfalls keines Drachens!«

»O, in Ermanglung eines Drachens muß man dessen Arbeit eben selbst verrichten,« antwortete sie leichthin, »oder man macht sich, besser gesagt, zu einem Werkzeug der Gerechtigkeit.«

»Gleichwohl halte ich es für Pech, im Bereich Ihrer Gerichtsbarkeit als Sperling das Licht der Welt erblickt zu haben,« meinte er.

»Dabei handelt es sich nicht um Pech: zur Buße für die in einem früheren Dasein begangenen Sünden kommt man als Sperling im Bereich meiner Gerichtsbarkeit auf die Welt! Nein, Ihr süßen, kleinen Dinger,« fuhr sie, zu einem Pärchen neben ihr auf dem Rasen hockender und mit begehrlichen Augen auf sie blickender Finken gewendet, fort, »nein, es ist wirklich aus, ich habe nichts mehr. Ich habe euch alles gegeben!« Damit streckte sie ihre leeren Hände aus, um sie besser zu überzeugen.

»Die Sperlinge bekamen nichts, und die Finken, denen Sie alles gegeben haben, sind unzufrieden, weil ihnen dies ›Alles‹ zu wenig ist,« sagte Peter traurig. »Das kommt davon, wenn man den Naturgesetzen entgegentritt.« Und als nun die beiden Vögelchen auf und davon flogen, setzte er hinzu: »Da, sehen Sie die trüben, vorwurfsvollen Blicke, die sie Ihnen zuwerfen?«

»Ach so, Sie meinen, sie seien undankbar! – Da – hören Sie!« Und im nämlichen Augenblick begann einer der Distelfinken, gerade über ihrem Kopf auf dem Zweig einer Akazie sitzend, sein Lied zu schmettern.

»Heißen Sie dies undankbar?«

»Das ist das Wenigste, was er tun kann – es klingt wie das ›Danke ergebenst!‹ eines Dienstboten, der mit dem erhaltenen Trinkgeld nicht zufrieden ist. Ich bin nicht einmal überzeugt, daß es nicht heller Hohn ist.«

»Hohn!« rief die Herzogin. »Sehen Sie ihn doch an! Er singt sich ja seine herzige kleine Seele fast aus dem Leib!«

Beide beobachteten nun das Vögelchen.

Sein rostbraunes Brüstchen pochte wie zum Zerspringen. Es begleitete sein Liedchen mit ausdrucksvollen Kopfbewegungen und seine Augen blickten starr, als folgten sie seines Gesanges Faden, den es in die Lüfte hinausspann. Der ganze Gesang machte den Eindruck, als entspringe er einem augenblicklichen Gefühlsüberschwang, einem inneren Bedürfnis. Als er zu Ende war, blickte der Fink auf seine Zuhörer herab, als wolle er fragen: »Nun, wie hat es euch gefallen? Seid ihr zufrieden mit mir?« Und dann flog er davon mit einem Kopfnicken, das unzweifelhaft einen Abschiedsgruß vorstellen sollte.

Wieder lächelte die Duchessa Peter bedeutsam zu.

»Sie müssen sich ganz entschieden Mühe geben, den Dingen ein freundlicheres Gesicht abzugewinnen!«

Im nächsten Augenblick entfernte sich auch sie und schritt über die Wiesen dem Schlosse zu.

»Welch ein Weib!« sagte Peter, indem er ihr nachsah. »Welche Kraft! Welches Feuer! Welch ein Weib, welch ein echtes Weib!«

Und in der Tat lag in der Erscheinung, in dem ganzen Wesen der Duchessa etwas ausgesprochen Weibliches.

»Herrgott, wie sie geht!« flüsterte er vor sich hin. Dann aber wurde er von plötzlicher Niedergeschlagenheit überwältigt. Zuerst konnte er sich über deren Ursache nicht klar werden, nach und nach aber sagte er sich: »Welch oberflächlichen Eindruck mußt du auf sie gemacht haben! Welchen Blödsinn hast du geschwatzt! Welch köstliche Gelegenheit hast du dir ungenützt entgehen lassen!«

»Ihr seid wirklich eine Hexe,« sagte er etwas später zu Marietta. »Das ist jetzt aufs schlagendste bewiesen! Ich habe die betreffende Person heute richtig gesehen, aber der Gegenstand ist hoffnungsloser verloren als je zuvor.«


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