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Vierundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Vormittag ging Otmar Kamp auf das Polizeipräsidium. Vor dem Zimmer Leutholds saß auf einer Bank ein junges Mädchen, in Tränen aufgelöst. Neben ihr versuchte ein junger Mann vergeblich, sie zu trösten.

Er klopfte Und trat zu dem Kommissar ins Zimmer. Der telephonierte und winkte ihm zu. Leuthold machte sich Notizen auf den Block, den Kamp wiedererkannte. Er wartete mehrere Minuten, bis das Gespräch zu Ende war.

»Sie wünschen, Herr Kamp? Ach so, ja, Sie wollen natürlich wissen, was der Bensch ausgesagt hat. Aber die Akten sind schon beim Untersuchungsrichter. Ganz offen gesprochen, ich habe die Sache nicht mehr so im Kopf. Sehen Sie, da ist eine Leiche am Ammersee angeschwemmt. Wahrscheinlich Verbrechen aus Eifersucht. Neuer Fall! Glauben Sie, daß die Karre je stillsteht? In einer Stunde muß ich mit Neumann hinausfahren, und bis dahin sind Protokolle anzufertigen. Adieu, Herr Kamp. Hat mich sehr gefreut«

Als er das lange Gesicht des Studenten sah, fiel ihm ein, daß er Neumann bitten konnte, ihm über die Vernehmung Benschs zu berichten. Er ließ den Wachtmeister kommen.

»Können Sie Herrn Kamp von Bensch berichten? Haben Sie es noch im Kopf? Ich muß einmal in den Aktensaal hinübergehen. Bitte, das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung. Auf Wiedersehen, Herr Kamp.«

In der Tür aber hielt er noch einmal an.

»Wissen Sie, Herr Kamp,« sagte er, »wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer sehr klug. Sie werden sich jetzt im Kopf unsere einzelnen Maßnahmen vornehmen und werden zu dem Ergebnis kommen, daß wir Kriminalisten eine Bande von Schafsköpfen sind. Sie werden uns alle Fehler nachrechnen, die wir in Ihrem Fall gemacht haben, und herausbekommen, daß Sie selbst viel besser gearbeitet hätten. Aber zum Schluß, sehen Sie, kriegen wir ja in den meisten Fällen doch noch immer alles heraus, und unsere Methoden sind vielleicht nicht so schlecht, als sie manchmal scheinen. Also, leben Sie wohl, Herr ... wie heißen Sie doch gleich? Richtig, Herr Kamp!«

»Was hat er?« fragte Kamp den Wachtmeister.

»Was er hat?« sagte dieser in seiner stillen Art. »Er ist bereits von einem neuen Fall in Anspruch genommen, und von dem Fall Bensch ist ihm wohl im Augenblick hauptsächlich unser erstes verunglücktes Rennen im Gedächtnis. Deshalb entschuldigt er sich gewissermaßen.«

»Ich weiß nicht Herr Neumann, ob Sie unseren Fall nicht vielleicht auch schon halb vergessen haben.«

»Nein, Herr Kamp. Ich habe mich mit der Wasserleiche im Ammersee noch nicht beschäftigen dürfen, und dann waren da einige psychologische Momente, die mir den Fall Werneuchen unvergeßlich machen.«

»Glauben Sie, daß er nun restlos aufgeklärt ist?«

»Er ist so aufgeklärt, wie er je aufgeklärt werden wird. Ein Rest bleibt fast immer übrig.«

»So empfinden Sie auch hier einen Rest der zurückgeblieben ist? Ich glaube, die Motive der Tat liegen klar zutage. Der Mörder ist gefaßt und doch wohl geständig.«

»Ja, er hat gestanden.«

»Der Anstifter hat sich bei seiner Verhaftung das Leben genommen und also auch seinen Anteil zugegeben. Was also bleibt da noch übrig?«

»Ich bin mir über die Motive zu dem Selbstmord des Herrn Reuschhagen nicht recht klar«, sagte der Wachtmeister. »Aber ich langweile Sie mit diesen Sachen. Denn wahrscheinlich ist alles sehr schön klar, und es sind nur ganz technische und fachmännische Bedenken, die ich habe.«

»Sie meinen, daß der Selbstmord gewissermaßen aus – aus Ritterlichkeit begangen sein könnte?«

Der Wachtmeister sah den Studenten erstaunt an.

»Vielleicht!« sagte er. »Aber ich glaube, wir lassen diese Kombinationen. Sie wollen wissen, was Bensch ausgesagt hat. Bensch ist genau so, wie ich es mir gedacht habe!«

Bensch hatte bereits mehrfach wegen Diebstahls und Gewalttätigkeiten im Gefängnis gesessen. Er war durchaus ein »schwerer Junge«, und dennoch war er nicht so schlimm, wie man ihn sich vielleicht vorstellen konnte. Übrigens hieß er nicht Bensch, sondern irgendwie anders. Den Namen hatte Neumann aber vergessen, und die Akten waren bereits im Justizpalast. Er war sogar in gewissem Sinne naiv und gutmütig. Wer ihn zu nehmen verstand, konnte alles mit ihm machen. Es war das schlimme, daß Werneuchen diese Kunst nicht heraus hatte, während Reuschhagen sie in hohem Grade besaß.

Bereits bei dem Umzug nach München hatte Reuschhagen sich an Bensch herangemacht. Schon damals hatte er mit dem Gedanken gespielt, Werneuchen durch Bensch zu beseitigen. Dieser kleine, fixe Musiker, der so kalt und gefühllos schien, mußte eine rasende Leidenschaft zu Gerda gefaßt haben.

»Ob Frau Werneuchen hier nicht vielleicht selbst ein Feuer angeblasen hat, dessen Flamme sie nachher erschreckte, lasse ich dahingestellt. Bensch jedenfalls behauptete, daß die Frau den Musiker ›verrückt gemacht‹ habe.«

Reuschhagen hatte übrigens vor Bensch nicht die mindeste Angst, sondern unterhielt sich gern und in seiner Weise gemütlich bei einem Glase Schnaps mit ihm. »Wir waren schon damals Freunde«, hatte Bensch gesagt. Reuschhagen hatte dem Packer eine namhafte Summe ausgesetzt, falls dieser Werneuchen aus dem Wege räumte. »Versteht sich, wir sprachen nur so durch die Blume miteinander. Erst allmählich wurden wir deutlicher.«

»Wie es gerade so kommt!« wollte Bensch auf das Ansuchen Reuschhagens geantwortet haben, ohne etwas zu versprechen.

In den nächsten Jahren hatte der Packer Reuschhagen von Zeit zu Zeit in München aufgesucht und sich Geld geben lassen. Reuschhagen hätte über die Wiederkehr des Burschen genau so entsetzt sein können wie Werneuchen. Er nahm den Packer nur weniger ernst als Werneuchen dies tat. Als Bensch später zum zweitenmal in der Villa auftauchte, um Gerdas Möbel abzuholen, war er in der Tat von Reuschhagen geschickt worden. Der Musiker hatte ihm halb scherzend den Gedanken als guten Tip eingegeben, aber kaum anders, als man einen lästigen Bettler einem Bekannten zuschickt, den man nicht sehr gern hat.

»Soll ich ihn – killen?« wollte Bensch damals gefragt haben. Der Musiker ging auf den anscheinenden Scherz ein, betonte aber, daß er Bensch im Augenblick dafür kein Geld geben könnte. Reuschhagen hätte es damals gern gesehen, wenn Werneuchen erledigt worden wäre. Offenbar hatte er sich über ihn geärgert. »Wenn es gerade so kommt«, wollte Bensch Werneuchen auch diesmal aus dem Wege räumen. Im entscheidenden Augenblick zog er es dann aber vor, einen kostbaren Koffer zu stehlen. Die Beute war über Erwarten groß. Bensch wollte das Geld sogar mit dem Musiker teilen, der sich damals mühsam durch Spielen in einem Kino über Wasser hielt. Im übrigen hatte Bensch es damals mehr auf das Silberzeug als auf Werneuchens Leben abgesehen. Reuschhagen selbst fühlte sich von Bensch an der Nase herumgeführt.

Dann aber war es Bensch schlechter und schlechter gegangen, und so besann er sich, als er auf seinen zahlreichen Fahrten wieder einmal in München war, auf die Gelegenheit, eine größere Summe zu verdienen. Er suchte Reuschhagen auf und wurde von diesem eine ganze Weile in dessen Mansardenwohnung versteckt. In jener Zeit hatte Gerda sich von dem Musiker ein für allemal getrennt. Zuerst wollte Reuschhagen sich nur rächen und verweigerte vor dem Gericht die Aussage über seine Beziehungen zu Gerda. Als er aber sah, daß es ihr ernst damit war, sich mit Werneuchen auszusöhnen, trat er dem Gedanken, den verhaßten Nebenbuhler nun endlich zu beseitigen, näher. Er hatte durch Gerdas Brief Kenntnis von Werneuchens Reise nach Regensburg erhalten. Sie lauerten Werneuchen am Bahnhof auf. Bensch mußte mit nach Regensburg fahren und seinem Opfer dort auf Schritt und Tritt folgen. Noch immer glaubte Reuschhagen nicht recht daran, daß Bensch diesmal ernst machen würde, und Bensch nahm die ganze Geschichte ebenfalls nicht sehr ernst.

»Sie kommen ja auch diesmal bloß mit einem Koffer zurück!« hatte Reuschhagen ihn gehänselt.

Bensch aber verfolgte Werneuchen in Regensburg auf allen seinen Wegen. Er sah ihn über die Brücke auf das jenseitige Ufer gehen. Er sah ihn lange Zeit an der Stelle stehen, wo die Flüsse zusammenfließen, und dachte, daß man hier einen Menschen sang- und klanglos umbringen könnte. Im Parkhotel wäre er fast mit ihm zusammengestoßen, als Werneuchen unvermutet wieder heraustrat. Er sah ihn in den »Grünen Baum« gehen, und hier wäre es ihm beinahe zu langweilig geworden, und er wollte das Aufpassen schon aufgeben, als, nach Stunden, Werneuchen endlich doch noch herauskam, und das Unglück wollte, daß er wieder den Weg zur Brücke und zu jener stillen Stelle des Zusammenflusses einschlug.

»Wenn er sich nicht gerade dorthin gestellt hätte, weiß ich nicht, ob alles so gekommen wäre«, hatte Bensch ausgesagt. Er sah ihn lange am Ufer stehen. Dann schlich er sich näher. Als Werneuchen zurückging, stand er auf einmal vor ihm. Werneuchen erkannte ihn sofort und stürzte sich auf ihn. »Wenn er das nicht getan hätte, würde man ja noch mit ihm verhandelt haben können. Aber er hatte zu große Angst vor mir. Er starrte mich so entsetzt an, daß ich ihn dann schon aus Mitleid umbrachte.« Es war sehr rasch gegangen. Mit einer Hand hatte er ihn an der Kehle gepackt, mit der anderen Hand stieß er ihm das Messer in das Herz.

Das war der Augenblick, vor dem sich Werneuchen sein Leben lang gefürchtet hatte!

Dann hatte Bensch den Toten unter die Laterne an der Ecke gezerrt und ihm die Taschen durchsucht. Alles andere ließ er ihm, bis auf das Geld und den Brief an Kamp. »Das Geld wäre zu schade gewesen, und mit dem Brief, da war ich zu neugierig, was darin stand. Ich schleppte ihn dann an das Wasser zurück und stieß ihn hinein. Ich hätte ihn eigentlich noch mit Steinen beschweren sollen, aber ich dachte: Ach was! Und da lag er auch schon drin.«

Noch in derselben Nacht war Bensch nach München zurückgefahren. Reuschhagen hatte er von dem Brief nichts erzählt. »Erstens wegen der fünftausend Mark, und dann wollte ich mir doch ein bißchen ansehen, was da als trauernde Hinterbliebene zurückbleibt.«

Reuschhagen wäre gar nicht sehr erfreut gewesen, daß Werneuchen nun tot war. »Jetzt wird Gerda erst recht nicht zu mir kommen!« soll er gesagt haben. »Es war eine große Dummheit!« Er versteckte Bensch wieder in seiner Wohnung, wie er es schon öfters gemacht hatte. Bensch sollte die Wohnung auf keinen Fall verlassen, aber er ging doch mehrmals aus. Wer kann mir etwas beweisen? dachte er. Am vorhergehenden Tag war er gerade über den Lenbachplatz gegangen, als er Gerda sah. Er hatte sie sofort erkannt, zumal da Reuschhagen ein Bild von ihr auf seinem Schreibtisch stehen hatte. Wirst doch mal sehen, ob der Herr Reuschhagen jetzt zu seinem Ziel kommt! dachte er und schlich sich vorsichtig hinter Gerda her. Von einer Verfolgung hatte er nichts bemerkt. Er ging hinter Gerda in das Cafe. Auf einmal sah er sie mit Reuschhagen sitzen. Reuschhagen machte ihm sofort ein Zeichen, zu verschwinden. Statt zurückzugehen, war er im Augenblick so verwirrt, daß er sich hinter Gerdas Rücken in das Kabinett begab. Durch das Fenster gelangte er ins Freie. Zu Hause erzählte ihm Reuschhagen dann, daß die Polizei hinter ihm her gewesen war. Von da ab ging er nicht mehr aus und ließ auch keinen Menschen in die Wohnung.

»Aber Sie haben den Bensch dann doch gefunden!« sagte er zum Schluß.

Gerade an jenem Tage hatten sich Reuschhagen und er vollkommen sicher gefühlt. Aus der Zeitung hatten sie gesehen, daß die Polizei auf einer falschen Fährte war. Dennoch wollte Reuschhagen nicht mehr recht froh werden. Er hatte eingesehen, daß die Ermordung Werneuchens ihn seinem Ziele um keinen Schritt näher gebracht hatte. »Deswegen hat er sich wohl auch gleich erschossen, als man ihn verhaftete. Sonst war er ein dreister Kerl, den man so rasch nicht ins Bockshorn jagen konnte!«

Als man Bensch sagte, daß man ihn in der Wohnung gar nicht vermutet hatte, sondern gegen ihn am nächsten Tag einen Steckbrief erlassen wollte, hatte er traurig den Kopf geschüttelt und schließlich gesagt: »Das Leben mit einem Steckbrief ist auch nicht schön. Dann schon besser so!«

Gedankenvoll ging Kamp aus dem Zimmer heraus, in dem er so schicksalsschwere Stunden verlebt hatte. Draußen saß immer noch das weinende Mädchen und der junge Mann versuchte immer noch, sie zu trösten.

Was ist das alles! dachte er. Fall auf Fall geht hier vorüber, geistert einige Tage in der Luft und wird durch einen neuen Fall verdrängt. Schon wußte Leuthold nicht mehr meinen Namen, und morgen, nach dem Lokaltermin am Ammersee, wird auch Neumann ihn vergessen haben. Wir aber tun so, als ob sich die ganze Welt um uns drehen müßte. Und dabei ist doch nur ein einzelner Mensch ermordet worden, und im Grunde ist alles besser geworden, als es vorher war. Selbst Bensch hat sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Er nahm ein Auto, um in Gerdas Pension zu fahren. Er ließ es unten warten, denn vielleicht konnte er Elma zu einer Spazierfahrt bewegen. Seine Eltern mußten ihm für diesen Monat doch den Wechsel erhöhen. Der Vater würde schimpfen, aber man war nun einmal in ein tragisches Schicksal verwickelt worden.

Er fand Elma allein. Gerda war zu dem Untersuchungsrichter gegangen, der sie um ihren Besuch gebeten hatte. Reuschhagens Leiche war in der Frühe abgeholt worden.

»Kommen Sie, Elma, wir wollen ein wenig durch den Englischen Garten fahren.«

Sie zog sich an und kam hinunter.

Draußen sang der Frühling von allen Zweigen. Schon gestern war es so, als er zum Bahnhof gegangen war, um die Kriminalbeamten abzuholen. Welch herrliches Wetter würde Werneuchen für seine Tour durch Franken gehabt haben! Sie fuhren langsam die gleichen Wege, auf denen am Tage vorher Herr Direktor Goldschmidt von der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft Fräulein Margot Liedtke spazierengefahren hatte. Die Blätter hatten sich ganz weit hervorgestreckt, die Wiesen leuchteten im neuen Grün, und mit dem Geläut der Glocken zog eine Kuhherde über den Rasen vor dem Monopteros. Unter den Büschen blühten die Krokusse auf, die Düfte stiegen in Schwaden himmelwärts, Vögel zwitscherten von allen Zweigen. Kleine Bäche rieselten über die Wege, auf denen sie fuhren, und der See leuchtete in frischem Blau durch die Bäume.

»Daß ich das noch alles so genießen kann, macht mich froh und traurig zugleich«, sagte Elma. »Sie können ja noch nicht verstehen, wie mir zumute ist, Otmar.«

Oh, wenn einer, dann er! rief er, da er doch alles Schwere mit ihr zusammen durchgemacht hätte.

»Ach nein«, sagte sie. »Ich meine nicht das. Ich meine, daß ich nun so schön spazierenfahre, wo ich doch bald nur noch wenig werde gehen können. Und daß ich mich freuen muß, froh zu sein, weil ich nicht immer traurig sein darf, um das Kind nicht zu beschweren. Das meine ich.«

Sie sprachen lange nichts von den letzten Tagen. Dann aber stieg doch ein Schuldgefühl in ihnen hoch, daß sie wieder leben wollten, als wenn nichts gewesen wäre, und er erzählte ihr von der Aussage des Packers Bensch.

»Vielleicht ist es sehr schlimm,« sagte sie, »daß ich nicht mehr ganz parteiisch sein kann. Aber es ist wohl die gesunde Natur, die wieder zum Leben drängt. Ich sehe jetzt auch Bensch ganz anders. Vielleicht ist er gar kein Ungetüm. Man hätte es ihm bloß ordentlich sagen müssen, daß man keine Menschen totschlagen darf. Und wenn Ernst Alexander es ihm noch im letzten Augenblick gesagt hätte, so würde er ihm wahrscheinlich geglaubt haben. Er nahm das Ganze nur nicht so furchtbar ernst und dachte nicht, daß es auf einen Menschen mehr oder weniger so sehr ankommt. War er nun eigentlich eine furchtbare, feindliche Macht, die Werneuchens Leben seit Jahren umlauerte? Er war es, und er war es auch wieder nicht. Gewiß hat er ihn seit Jahren umlauert und ist immer wiedergekommen. Aber im Grunde wollte er gar nichts so Schlechtes. Er wäre zu besänftigen gewesen. Aber daß Ernst Alexander diese große Angst vor ihm hatte, das war das Schlimme. Er ist ermordet worden, weil er zu große Angst hatte, ermordet zu werden. Und das heißt eigentlich, daß er im Grunde ermordet werden wollte.«

»Aber Reuschhagen?« warf Kamp ein.

»Reuschhagen wollte ihn ja eigentlich auch nicht ermorden. Er spielte nur mit dem Gedanken, und glauben Sie mir, als er sah, daß es ernst geworden ist, ist er entsetzt gewesen. Auch er hatte das nur so hingesprochen. Aber das ist ja gerade das Fürchterliche, daß Menschen mit solchen Gedanken spielen. Dann steigt das Furchtbare auf einmal auf und wird Wirklichkeit. Wenn wir Menschen alle das Leben ganz ernst nähmen, würde niemand ermordet werden. Aber woher sollen die Menschen diesen Glauben haben, wenn immer wieder Kriege kommen und Millionen zum Töten und zum Sterben gezwungen werden?«

»Ach, Elma,« sagte er, »wir haben nun etwas ganz Entsetzliches aus nächster Nähe mit angesehen, und jetzt sprechen wir so, als ob es etwas Entsetzliches gar nicht gäbe. Doch es gibt es! Es steigt immer wieder hoch und wird immer wieder da sein und sich auswirken. Denken Sie an den Augenblick, der Werneuchen sein ganzes Leben lang vor Augen stand: daß die feindliche Macht ihn einmal in einer stillen, finsteren Straßenecke überfallen wird. Ist das nicht genau so eingetroffen? Sie können ja nun sagen, daß es eingetroffen ist, weil er Angst davor hatte. Aber so einfach ist das nun doch nicht. Ist denn seine Angst nichts Wirkliches gewesen? Es gibt Menschen, die fühlen alles Schlimme, was eintreffen kann. Sie wittern den Fluch, der über der Schöpfung steht. Wir alle haben es manchmal, wenn wir nachts mit einem großen Schrecken aufwachen und uns die Haare zu Berge stehen. Das sind die Augenblicke, in denen auch wir fühlen, welche Untiere in den Höhlen des Lebens hausen, welche Schrecken wie unsichtbare elektrische Schlangen in der Luft liegen. Nein, wir wollen es nicht vorreden: es gibt unermeßliches Unglück in der Welt. Es lauert auf allen Wegen, es ist immer bereit, hereinzustürzen. In unser aller Seelengrund schläft diese Angst. Jeden Tag in jeder Stadt brennt es, und immer sind es Menschen, die davon betroffen werden. Jeden Tag, in jeder Stadt, stürzen Unglückliche, ertrinken, werden vergiftet, holen sich Krankheiten, sterben unter Qualen, und wir wissen nicht, welche Schatten diesen Begebenheiten vorausfliegen. Wir wissen nichts von den Kämpfen, die vielleicht alle Menschen gegen ihre Ahnungen und die schlimmen Anzeichen und Vorboten zu führen haben. Ich glaube, Elma, das Leben ist furchtbar!«

Sie zeigte um sich auf den blühenden Frühling, der von allen Ästen jubelte.

»Auch da, Elma! Wo Sie hinsehen, ist Kampf und Mord und Hungern und Gebären. Ich glaube, es ist immer nur eine ganz kleine und wenigen Lebewesen vergönnte Perspektive, aus der das Leben schön ist.«

»Ein Hoch auf unsere heutige Perspektive!« sagte sie lächelnd.

Er antwortete nicht mehr. Auf einmal sah er ihr fest ins Auge. »Werden Sie nun zu Gerda gehen?«

»Ich wußte, daß Sie mich das fragen würden, Otmar. Ja, ich gehe zu ihr. Ob ich aber lange bleiben werde, das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen.«

»Ich habe ihr vielleicht unrecht getan«, sagte er. »Aber ich kann mich nicht entschließen, sie um Entschuldigung zu bitten. Ich höre immer noch Ernst Alexanders Worte: sie wird ihre Rolle als Witwe herrlich spielen! Sind Sie sicher, daß sie niemals Reuschhagen beschworen hat, ihn umzubringen? Wissen Sie, ob sie nicht nur einmal, sondern ob sie nicht monate- und jahrelang auf seinen Tod gewartet hat, ob sie ihn nicht tausendmal gewünscht hat? Sagen Sie mir, was aus ihr geworden wäre, wenn Werneuchen nicht gestorben wäre? Ja, das sagen Sie mir einmal!«

Er sah sie triumphierend an. Als sie schwieg, fuhr er fort:

»Der Gedanke müßte doch entsetzlich für sie sein, daß sie durch Werneuchens Ermordung gerettet wurde! Stellen Sie sich das vor: Sie sind in einer furchtbaren Lage, aus der Sie nur ein großes Unglück erretten kann. Und nun passiert dieses große Unglück! Es passiert wirklich und wahrhaftig und reißt Sie aus allen Nöten! Was nun, Elma? Was nun? Würden Sie nicht vergehen vor innerem Zwiespalt? Würden Sie es aushalten können, vor den Menschen trauernd am Grabe zu knien, wo doch ein innerer Jubel in Ihnen ist und Sie eher danken und lobpreisen wollen als klagen? Und sagen Sie noch eines: halten Sie es für ganz ausgeschlossen, daß auch Reuschhagen ihr zur rechten Zeit starb?«

Elma hatte den Kopf gesenkt. Kamp fühlte, daß sie sich selbst das alles schon gesagt und keine Antwort gefunden hatte. Auf einmal aber blickte sie ihn mit ihren großen blauen Augen an.

»Ich habe es!« rief sie fast. »Ich habe die Antwort auf Ihre Fragen! Und sie lautet: Es soll jeder so gut sein, wie er kann!« –

Zwei Tage später brachte Kamp die beiden Frauen zur Bahn. Auch der Untersuchungsrichter hatte ihnen unbedenklich die Abreise gestattet.

Elma war noch einmal zu ihren Eltern gegangen, um sich von ihnen für lange Zeit zu verabschieden. Das geschah aber erst, nachdem Kamp ihnen den unweigerlichen Entschluß ihrer Tochter klargemacht hatte, nach Berlin zu der Witwe ihres toten Freundes zu ziehen. Zwischen Eltern und Tochter war über diesen Punkt nicht mehr gesprochen worden. Man trennte sich wie zu einer langen Reise, von der man eines Tages wieder zurück sein würde.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, winkte Kamp ihm noch lange nach. Es war gerade eine Woche her, seit er Werneuchen zur Bahn gebracht hatte.

Dann setzte er sich in die Elektrische, um in der Türkenstraße ein Zimmer zu mieten, denn Herr Müller wollte endlich von seiner Villa in dem südlichen Vorort Besitz ergreifen. Kamp hatte seinen Koffer, das Bücherpaket – Werneuchens beide Tagebücher waren drin – und den gefüllten Rucksack am Bahnhof als Handgepäck abgegeben. Wenn er ein schönes stilles und lichtes Zimmer gefunden hatte, wollte er die Sachen durch einen Dienstmann holen lassen.

 

Ende


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