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Fünftes Kapitel

Als Kamp sich dem kleinen Landhaus Werneuchens näherte, hatte er das Gefühl, daß ihn etwas erwartete. Es war aber nichts Bestimmtes vorgefallen. Eine Dame hatte aus der Stadt angerufen, nach Werneuchen gefragt und dann abgehängt. Ein Name war nicht genannt worden, und die Stimme hatte die Köchin nicht erkannt. Sie hatte aber den Eindruck, daß die Stimme verstellt war.

Während das Essen hereingebracht wurde, sah Kamp die Post durch, die auf dem Schreibtisch angehäuft war. Er hatte es bereits einmal getan, ohne etwas Auffälliges zu entdecken. Nun hob er wiederum Stück für Stück in die Höhe, eigentlich mehr in Gedanken und um die Zeit hinzubringen. Es waren hauptsächlich Zeitungen. Werneuchen hatte gebeten, sie ihm sorgfältig aufzubewahren. Er hatte stets Furcht, daß ihm etwas Wichtiges entgehen könnte, sei es eine Nachricht oder eine ausgeschriebene Stellung. Geschäftliche Briefe sollte Kamp in seiner Vertretung ohne weiteres öffnen, damit nichts versäumt würde.

Unter den Briefen war einer von Werneuchens Rechtsanwalt, der ihn bei seinem Scheidungsprozeß vertrat. Während Kamp noch überlegte, ob er ihn öffnen sollte, fiel sein Blick auf eine amtliche Zustellung, die ihm eiliger erschien. Er hatte sie vorher gar nicht beachtet.

Werneuchen wurde darin aufgefordert, sich am Dienstag der nächsten Woche auf dem Münchener Finanzamt einzufinden, um als Zeuge über Steuerhinterziehungen der Firma Berdelow & Hahn auszusagen.

Kamp stutzte. Es lag immerhin zwei Jahre zurück, seit Werneuchen bei der Firma gewesen war. Seltsam, daß man gerade heute von der Angelegenheit gesprochen hatte, während dieses Schreiben schon auf dem Schreibtisch lag. Ein solches Zusammentreffen war aber schließlich nichts Ungewöhnliches. Kamp zerbrach sich den Kopf, was diese Zustellung bedeuten konnte.

In der Tat hatte Werneuchen bei seinem Zusammenstoß Herrn Berdelow vorgeworfen, daß er den Staat und die Arbeiter betrüge. Das gesamte Kontorpersonal hatte die Worte mit angehört. Jetzt, zwei Jahre später, forderte das Finanzamt Werneuchen auf, über Steuerhinterziehungen der Firma auszusagen. Hatte Werneuchen vielleicht eine Anzeige gemacht? Das erschien, wie die Dinge lagen, fast ausgeschlossen, denn er hatte öfters gesprächsweise geäußert, daß seine Vorwürfe unberechtigt waren und sich überhaupt mehr auf allgemein ethische Ansichten bezogen, als ein besonderes Vorkommnis im Auge hatten. Natürlich dachte Kamp auch an Werneuchens Besuch bei Berdelow, von dem er soeben durch Elma erfahren hatte. Vielleicht war dieser Besuch weniger befriedigend ausgefallen, als Ernst Alexander seiner Braut eingestehen wollte? Vielleicht hatte es einen erneuten Zusammenstoß mit dem ehemaligen Chef gegeben, und Werneuchen hatte im Zorn eine Anzeige erstattet?

Es konnte sehr gut sein, daß Werneuchen bei Berdelow mit einem seiner früheren Mitangestellten ins Gespräch gekommen war und allerhand Belastendes über die Firma erfahren hatte. Vielleicht war er aber auch über das Straffällige irgendeiner Maßnahme aufgeklärt worden, die er bisher für unbedenklich gehalten hatte? Jetzt hatte er sie vielleicht zur Anzeige gebracht, weil ihm Herr Berdelow ein gutes Zeugnis verweigerte? Es war durchaus möglich, daß der letzte Besuch bei Berdelow mit dieser Geschichte im Zusammenhang stand. Ebensogut aber konnte es sein, daß sich ein anderer Angestellter mit der Firma verkracht und sie angezeigt hatte und Werneuchen als Zeugen anrief. Dieser Angestellte konnte annehmen, daß Werneuchen als ehemaliger Vertrauensmann des Chefs Kenntnis verbotener Machenschaften hatte, mit der man sich jetzt an der Firma rächen konnte. Schließlich aber war es noch möglich, daß Herr Berdelow Werneuchen als Entlastungszeugen namhaft zu machen versuchte.

Weshalb beschäftigte sich Kamp derart ausführlich mit dieser vielleicht ganz harmlosen Angelegenheit? Auf einmal wurde er sich klar darüber, daß er die Vorladung mit Werneuchens jetzigem Zustand in Zusammenhang brachte. Es war, als ob er dunkel fühlte, daß hier ein Geheimnis obwaltete, das zu enträtseln war, und er packte das Rätsel an, wo es ihm einen Anhalt bot. Hatte diese Vorladung mit dem unheimlichen Besucher irgend etwas zu tun? Er wußte es noch nicht, aber er rechnete bereits mit einer solchen Möglichkeit, als er die vielen Vielleichts dieses Falles durchdachte, und ein leises Grauen beschlich ihn. Lag wirklich schon etwas vor, das zu enträtseln war? Ein Fall? Ein Kriminalfall? Er ging, überlegend, mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

Auf alle Fälle war es zweifelhaft, ob Ernst Alexander zu dem angesetzten Termin zurück sein konnte, und so schrieb er über Werneuchens plötzliche Abreise nach Hamburg einige Zeilen an das Finanzamt. Inzwischen wurde das Essen aufgetragen. Kamp, der oft allein aß, hatte es sich längst abgewöhnt, daraus eine wichtige Angelegenheit zu machen. Seine Mahlzeit bestand darin, daß er das Notwendigste hinunterschlang, eine brennende Zigarre auf dem Tisch liegen hatte, zwischen den Bissen einige Züge nahm und dazu las. Auch jetzt blätterte er in einer Zeitschrift, fand aber nichts Interessantes und griff schließlich wieder zu dem Schreiben des Rechtsanwalts.

Auch hier wurden ihm Rätsel aufgegeben. Das Schreiben war weit wichtiger, als er angenommen hatte. Der Scheidungsprozeß, der nun bereits über ein Jahr lief, schien sich seinem Ende zuzuneigen. Jener Musiker Reuschhagen, den Werneuchen des Ehebruchs mit seiner Frau beschuldigte, ohne dem Gericht bisher einen bündigen Beweis liefern zu können, hatte seine Aussage verweigert und somit indirekt seine Verfehlung zugestanden. Der Rechtsanwalt teilte nun mit, daß die Scheidung im nächsten Termin wahrscheinlich ausgesprochen werden würde, falls nicht etwas Unvorhergesehenes dazwischenkäme.

Das war eine Tatsache von großer Bedeutung. Kamp war aufgesprungen und dachte nicht mehr an Essen und Trinken. Er wußte so genau mit allen Phasen dieses Prozesses Bescheid, als ob er selber ihn führte. Reuschhagens Verweigerung der Aussage, um die sich seit Anfang alles drehte, kam völlig überraschend. Irgend etwas mußte bei der Gegenpartei vorgefallen sein. Dieses Verhalten Reuschhagens war kaum anders zu erklären, als daß er sich mit Frau Gerda überworfen hatte. Es konnte Werneuchen im letzten Augenblick noch retten. In wenigen Wochen war er vielleicht, oder vielmehr jetzt wahrscheinlich, schuldlos geschieden und frei und ohne pekuniäre Verpflichtungen gegenüber seiner früheren Frau. Wenn er dann wirklich noch die Anstellung erhielt, konnte er Elma heiraten, und alles wendete sich zum Guten.

Und doch lag in dieser Entscheidung etwas, was Kamp im höchsten Grade beunruhigte. Was wurde aus Gerda? Wie würde sich ihr Vater mit einem solchen Ausgang des Prozesses abfinden? Mußte sie durch das Verhalten ihres alten Freundes Reuschhagen nicht in die allerschwierigste Lage kommen?

Gerda hatte sich gegen eine rasche Beendigung des Prozesses mit allen Mitteln gesträubt. Immer wieder hatte sie bestritten und Gegenbeweise in Aussicht gestellt und durch beschuldigende Behauptungen neue Termine erzwungen. Bis die Scheidung ausgesprochen war, mußte Werneuchen sie vollkommen unterhalten. Schon aus diesem Grunde hatte sie ein Interesse daran, die Sache möglichst in die Länge zu ziehen. Dadurch kam aber wieder Elma in eine schlimme Lage, ja, wurde, wie Kamp seit heute vermutete, geradezu in eine Katastrophe hineingetrieben. Für alle drei, für Werneuchen, Gerda und Elma, war die Lage furchtbar. Mit Geld wäre die Angelegenheit vielleicht leichter zu ordnen gewesen, aber keine der beteiligten Personen verfügte auch nur über das Notwendige. So waren Werneuchen wie Gerda gezwungen, alle Vorteile, die sie gegeneinander hatten, rücksichtslos auszunutzen, und Elma wurde in diesem Kampf zwischen ihnen zerrieben. Mindestens einer von ihnen mußte als Opfer auf der Strecke bleiben.

Immer wieder mußte Kamp an Elmas Andeutungen über die Wichtigkeit dieser Regensburger Reise denken. Wenn es wirklich so war, wie er jetzt vermutete, dann stand es weit schlimmer mit ihr, als er je geahnt hatte. Aber dennoch, vielleicht konnte sich für sie jetzt noch alles zum besten wenden. Aber Gerda?

Zum hundertsten Male bereute Kamp sein vorschnelles Wort, durch das er Werneuchen über Gerdas Verfehlungen die Augen geöffnet hatte. Hätte er damals nicht gesprochen, wären Ernst Alexander und Gerda gewiß längst wieder zusammen. Jetzt, da der Musiker zurückgetreten schien, war Werneuchen bereits an Elma gebunden. Und wie gebunden! Es war eine verhängnisvolle Verkettung von Umständen.

Die Eheleute hatten sicherlich schlecht zueinander gepaßt. Man konnte sich schon vorstellen, daß Werneuchens unbestimmte und übergeistige Art einer temperamentvollen Frau auf die Nerven fallen konnte. Gerade diese leise ironische Haltung liebte Kamp an ihm. Kamp hielt Werneuchen auch für weit klüger als seine Frau, aber er glaubte schon früher bemerkt zu haben, daß Gerda sich ihrem Manne überlegen gefühlt und ihn sogar ständig ein wenig verachtet hatte. Einst, als junges Mädchen, hatte sie sich wohl von seiner geistigen Überlegenheit anziehen lassen. Inzwischen glaubte sie, über ihn hinausgewachsen zu sein, was nach Kamps Dafürhalten bestimmt nicht der Fall war. Eine Ehe zwischen zwei solchen Menschen hatte gewiß ihre Schwierigkeiten. Alle Bekannten waren sich darüber klar gewesen. Aber noch viel, viel weniger hatte man verstehen können, was Frau Gerda zu Adalbert Reuschhagen hinzog.

Er mußte sie durch sein wundervolles, vielleicht von seinem großen Vater ererbtes Klavierspiel betört haben. Sonst war er nicht nur weit unscheinbarer als Werneuchen, sondern fast widerwärtig. Ein rosig aussehender, kleiner, schmächtiger Mensch mit der Sonntagseleganz eines Commis voyageur. Er redete viel und immer in der verbindlichsten Art. Aber was er sagte, waren Oberflächlichkeiten. Dabei war er maßlos eingebildet. Er komponierte Lieder und Kammermusik mit einem äußerlichen Schmiß, der zunächst bestechen mochte. Doch auch diese musikalische Begabung machte es kaum erklärlich, daß die schöne und kluge Frau sich gerade mit diesem Menschen einlassen konnte.

Wie sich das Verhältnis der beiden entwickelt hatte, wußte niemand. Man sah Reuschhagen nur noch selten in München, erfuhr aber, daß er hier in einem abgelegenen Winkel wohnte. Als seine Adresse hatte Kamp durch Zufall neulich die Lindwurmstraße erfahren. Da Frau Gerda in Berlin wohnte und nur gelegentlich zu den Gerichtsterminen nach München herüberkam, nahm man an, daß die Beziehungen der beiden sich gelockert hatten. Nach der letzten Entwicklung schien es endlich zu einem Bruch gekommen zu sein. Viel zu spät! mußte Kamp denken. Immerhin setzte ein solcher Bruch voraus, daß es bis dahin noch Beziehungen gegeben hatte.

Den Studenten beschäftigten diese Dinge ungemein. Gegen Abend hatte er noch kein Buch vorgenommen, um zu arbeiten. Das war nun der erste Tag, der ganz mit Werneuchens Schicksal ausgefüllt war. Er hatte das Gefühl, daß es jetzt eine Reihe von Tagen geben würde, an denen ihn lediglich die Angelegenheiten dieser Menschen und dieser Prozeß beschäftigen würden.

Als er endlich auf dem Schreibtisch die Bücher ausbreitete und die Kanne mit dem heißen Wasser in der Ofenröhre stand, rief Elma an und fragte nach neuen Nachrichten. Er las ihr den Brief des Rechtsanwalts vor. Sie war außerordentlich erfreut.

»Endlich scheint es weiterzugehen! Aber jetzt schreiben Sie dem guten Mann sofort, daß er den nächsten Termin möglichst beschleunigt!«

Kamp versprach es. Sie redeten viel darüber, was zwischen Gerda und Reuschhagen vorgegangen sein mochte. Die Regensburger Besorgnisse waren durch den Brief des Rechtsanwalts fast in den Hintergrund getreten. Während des Telefongesprächs dachten weder er noch sie mit einer Silbe an den »Direktor Erkner« oder an die Anstellung. Auch die merkwürdige Zeugenvorladung hatte Kamp vollständig vergessen.

Den nächsten Tag – es war ein Sonntag – wollte er ganz seinen Arbeiten widmen. Er hatte sich fest vorgesetzt, sein Examen nicht einen Tag später als irgend angängig zu machen. Auch darin schien ihn Werneuchens Lebensangst angesteckt zu haben. Was konnte alles dazwischenkommen? Ein neuer Krieg, Krankheit, Inflation, Verarmung des Vaters. Nur fertig werden, fertig werden! mahnte eine Stimme ihn ständig. So hielt er sich tagsüber auf der Universität oder Bibliothek auf und überließ sich erst abends dem Genuß endloser Gespräche mit seinem seltsamen Freunde.

Bis auf einen kleinen Spaziergang war er den Sonntag über wirklich zu Hause bei seinen Büchern. Es war nach dem Abendessen. Die Wasserkanne stand schon im Ofen, die Rumflasche auf einem silbernen Untersatz, – dem einzigen, den Frau Gerda dagelassen hatte. Auguste war zu einer Bekannten ins Dorf gegangen. Plötzlich klingelte das Telefon.

Sosehr Kamp an dieses Zeichen gewöhnt war und obwohl er eigentlich einen Anruf Elmas um diese Zeit erwartete, fuhr er doch erschrocken zusammen. Vielleicht weil er sich eben in die Geheimnisse der Strafprozeßordnung vertiefen wollte. Verwirrt nahm er den Hörer zur Hand.

Es war tatsächlich Elma.

Was sie aber zu sagen hatte, war so seltsam und zugleich so furchtbar, daß Kamp anfing zu zittern und seine Erregung nicht verbergen konnte. Ganz plötzlich war Elma auf die Vermutung gekommen, daß jener unheimliche Mensch, der vorgestern in der Villa auf ihn gewartet und ihnen gestern die fünftausend Mark abgenommen hatte, niemand anders war als – der Packer Bensch.

Kamp versuchte anfangs, Elma den Gedanken auszureden. Allmählich wurde er selber aber immer aufgeregter. Sie merkte es sogleich und fühlte, daß auch er von der Richtigkeit ihrer Annahme felsenfest überzeugt war. Das ganze Auftreten dieses Menschen sprach dafür. Wo aber war Bensch hergekommen? Wie hatte er Werneuchen gefunden? Und was war am Ende geschehen? Wenn es wirklich jener seltsame Packer Bensch war, dann mußte mit dem Allerschlimmsten gerechnet werden.


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