Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Als ihre Eltern das Mittagessen einnahmen, war Elma zu dem Entschluß gekommen, daß sie fort mußte. Es war ganz selbstverständlich. Was aus ihr wurde, Interessierte sie nicht. Sie würde untergehen, oder es würde sich etwas finden. Aber es war ihr klar, daß ihr Schicksal keine Diskussion mit ihren Eltern vertrug. Es tat ihr leid, ihnen weh zu tun. Aber schließlich hatte sie selbst so sehr gelitten, daß sie das Recht hatte, alles allein zu Ende zu führen.

Sie konnte nicht viel mitnehmen. Nur die kleine Handtasche stopfte sie voll mit den notwendigsten Utensilien und den Bildern Ernst Alexanders. Als sie damit fertig war, überlegte sie sich, ob sie einen Abschiedsbrief schreiben sollte. Aber sie tat es nicht. Sie hätte darin doch versucht, den Eltern ihren Schritt zu erklären, und sie wußte doch, daß sie nicht verstanden werden würde. So schlich sie sich, als sich die anderen zum Mittagschlaf hingelegt hatten, durch das Eßzimmer, das mit unzähligen Erinnerungen auf sie eindrang, durch den Korridor und die Treppe hinunter. In der Tengstraße benutzte sie die Elektrische. Hier erst war sie frei. Sie fuhr bis zum Stachus, dachte daran, wie sie gestern an dieser Stelle Bensch gesehen hatte und was dann alles über sie hereingestürzt war. Heute war sie ganz ruhig.

Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie am Vormittag zu Kamp hatte hinausfahren sollen. Aber die Tätigkeit der Polizisten berührte sie nicht mehr. Vielleicht würde dieser Bensch gefaßt werden, vielleicht würde er entschlüpfen. Mochte er! Bensch ging sie nichts mehr an. Sie hatte keine Angst vor ihm. Weshalb hatte sie überhaupt jemals irgendeine Angst vor diesem Menschen gehabt? War das nicht Werneuchens Angst gewesen? Das lag alles soweit zurück. Und Gerda? Sie wußte nicht einmal mehr, ob Gerda wirklich die Schuldige war. Vielleicht hatte sie ihren Mann ermorden lassen. Vielleicht hatte Bensch ihn aus eigenem Entschluß erschlagen. Sie wollte das alles nicht mehr wissen.

Aber vielleicht mußte sie Gerda doch sprechen? Ich bin wohl nur erschöpft, dachte sie. Es ist doch nicht möglich, daß mich das alles nichts mehr angeht. Vielleicht kam es vom Hunger. Sie hatte keinen Hunger, aber sie überlegte sich, daß sie seit gestern mittag kaum etwas zu sich genommen hatte. Sie begann, sich vor ihrer Gleichgültigkeit zu grauen. Sie zog sich am Automaten zwei Brötchen und würgte sie hinunter. Aber die Gleichgültigkeit blieb. Ich könnte ebensogut hier mitten auf der Straße stehenbleiben, dachte sie, und zusehen, was dann mit mir geschieht. Wenn ich überfahren würde, würde ich zusehen, wie mich das schmerzt. Ich würde vielleicht auch schreien, aber es wäre mir trotzdem gleichgültig. Allenfalls war sie noch ein wenig neugierig, was mit ihr werden würde.

Aber es »wurde« nichts. Sie mußte alles selber tun. Sie sah es mit Erstaunen. Sie mußte sich zu jedem Schritt entschließen und das nötige Quantum Willen aufbringen. Blieb sie stehen, so blieb sie stehen. Ging sie vorwärts, so ging sie vorwärts. Aber von selbst wurde nichts. Woher sollte sie noch lange die Kraft zu solchen fortgesetzten Entschlüssen hernehmen, dachte sie. Ich halte das einfach nicht mehr lange aus. Ich muß etwas Größeres beschließen.

Zwei Herren gingen hinter ihr her. Wie wäre es, wenn ich mich von ihnen fortführen ließe? Es wäre doch etwas Neues wenigstens. Ich würde keine sehr amüsante Unterhaltung sein. Sie blieb an einem Schaufenster stehen. Aber das war alles nichts. Sie beschloß nun doch, Gerda aufzusuchen. Vielleicht ist das die richtige Stimmung, mit ihr zu sprechen, dachte sie.

Aber wo sollte sie Gerda finden? Wer wußte ihre Adresse? Ihr Rechtsanwalt! Auf einmal merkte sie, daß sie auf das Namensschild des Rechtsanwalts gestiert hatte. Deshalb war sie auf den Gedanken gekommen. Hier wohnte er, zwei Treppen hoch. Sie ging hinein.

Übrigens war es einer der bekanntesten Anwälte Münchens. Das fiel ihr ebenfalls jetzt ein. Ein großer Mann, berühmt aus den letzten politischen Prozessen. Es war eigentlich interessant, einen solchen Mann zu sehen und zu sprechen. Während sie die Treppen in die Höhe ging, zerbrach sie sich den Kopf, wie sie sich melden lassen sollte. Als Werneuchens zweite Frau? Jedenfalls in der Angelegenheit Werneuchen. Komisch, hier, bei dem Rechtsanwalt, gab es einen Akt Werneuchen, und zwei Straßen weiter, auf dem Polizeipräsidium, gab es ebenfalls einen Akt Werneuchen. Zwei ganz verschiedene Aktenstücke! Sie war oben und klingelte.

Ein Schreiber machte ihr auf. Sie fragte nach dem Herrn Doktor persönlich.

»In welcher Angelegenheit?«

»In der Sache Werneuchen! Ich muß den Herrn Doktor dringend sprechen.«

Sie wurde in ein Wartezimmer geführt. Als sie in dem roten Plüschsessel saß, fiel ihr ein, daß der Rechtsanwalt sicher noch nichts von Werneuchens Verschwinden wußte. Auf alle Fälle konnte sie dem Manne etwas Wichtiges mitteilen. Es war ihr fast angenehm.

Sie hatte nur wenige Minuten gewartet, als sich die Tür öffnete und ein großer Herr mittleren Alters vor ihr stand. Er hatte ein Schauspielergesicht, lange hagere Backen und angegrautes Haar. Sie merkte, daß er sie erstaunt, wie in plötzlichem Schreck, betrachtete. Gleichzeitig fühlte sie, wie ihr die Kräfte schwanden. Sie taumelte zurück.

»Um Gottes willen!« hörte sie ihn sagen, dann wurde es dunkel vor ihren Augen. Sie hatte fast kein Bewußtsein mehr. Dennoch merkte sie, wie sie in ein Zimmer geführt und auf ein Sofa gelegt wurde. Sie bekam Wasser zu trinken. Eigentlich war sie gar nicht ohnmächtig. Sie saß schon wieder aufrecht.

»Danke!« sagte sie. »Mir geht es ganz gut«

»Ausgezeichnet!« antwortete der Herr. Er wollte, daß sie sich erst ausruhte, aber sie begann gleich zu reden.

»Sie wundern sich, daß ich Sie aufsuche. Aber die Sache ist wichtig. Ich wollte Sie um die Adresse von Frau Werneuchen bitten.«

»Ja, mein gnädiges Fräulein, wer sind Sie denn? Ich kann Ihnen doch nicht so ohne weiteres die Adresse einer Klientin verraten?«

Sie nannte ihren Namen. Er zuckte die Achseln, als wollte er zu erkennen geben, daß ihm das nichts sagte.

»Sie kennen auch nicht meinen Vater?« fragte sie.

»Diepenbroich? Ganz recht. Ein Maler, nicht wahr? Etwas alte Schule, nicht wahr?«

Sie nickte und sagte nun gerade heraus, daß sie die Freundin von Ernst Alexander Werneuchen wäre – sie sagte nicht etwa: Verlobte, sondern gebrauchte mit Absicht den vulgären Ausdruck – und daß sie ein Kind von ihm erwarte.

»Das ist ja für den Ausgang des Prozesses sehr interessant«, sagte er. »Und Sie, gnädiges Fräulein, wären bereit, das auch vor Gericht auszusagen? Zu beschwören?«

»Wieso?« fragte sie erstaunt.

»Weil das den Ausgang des Scheidungsprozesses, den Herr Werneuchen mit seiner Frau führt, sehr beeinflussen würde.«

»Den Prozeß?« sagte sie. »Welchen Prozeß? Herr Werneuchen ist vor vier Tagen in Regensburg ermordet worden!«

Er trat einen Schritt zurück, wurde kreidebleich.

Ha! dachte sie. Er kann sich auch gleich denken, wer der Mörder oder der Anstifter ist.

»Sind Sie bei Sinnen?« fragte er.

»Gewiß! Ich wußte, daß Sie noch nichts von der Geschichte wissen. Eigentlich wollte ich Ihnen das gar nicht erzählen, sondern Sie bloß um die Adresse von Frau Werneuchen bitten. Aber Sie wollen sie mir ja nicht geben. Da muß ich Ihnen beweisen, daß ich im Bilde bin.«

»Aber ich gebe Ihnen die Adresse von Frau Werneuchen nun erst recht nicht! Bitte, warten Sie einen Augenblick. Wollen Sie sich nicht lieber hinlegen?«

Sie legte sich gehorsam hin, denn sie fühlte sich zum Umsinken matt. Er ging hinaus.

Es dauerte eine halbe Stunde, ehe er zurückkam. Er hatte sich mit dem Polizeipräsidium verbinden lassen und alles erfahren. Elma war eingeschlafen. Er rief Gerda an und bat sie, zu ihm zu kommen. Darüber wachte Elma auf.

»Frau Werneuchen wird gleich selbst hierherkommen«, sagte er. »Aber ich bitte Sie, sie zu schonen. Natürlich werde ich ihr erst selbst das Notwendige mitteilen. Ja, wollen Sie überhaupt hierbleiben? Es geht doch nicht, daß Sie Frau Werneuchen hier begegnen!«

»Nein!« sagte sie und erhob sich. »Es geht nicht. Ich werde gehen.« Sie schleppte sich zur Tür.

»Wo wollen Sie denn hin?« rief er. Er sah, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte. »Soll ich Ihnen ein Auto kommen lassen? Darf ich Sie durch einen Boten zu Ihren Eltern bringen lassen?«

»Um Gottes willen, nein!« schrie sie. »Ich gehe nicht mehr dorthin!«

»Sie sind von Hause fort?«

Sie nickte.

»Armes Geschöpf!« sagte er und hob die Hand feierlich auf. »Wann wird unsere Gesellschaftsordnung endlich lernen, die Schwachen zu behüten, statt sie fallen zu lassen. Bleiben Sie bitte hier!«

Schauspieler! dachte sie und fühlte sich von dem berufsmäßigen Timbre in seiner Stimme angeekelt. Aber sie legte sich auf das Sofa zurück.

»Nicht hier!« bat er und führte sie in ein Nebenzimmer, wo eine Chaiselongue stand. »Hier können Sie bleiben. Und regen Sie sich nicht auf. Es wird alles gut werden.« Er nickte ihr väterlich zu und ging hinaus.

Sie wollte warten, bis Gerda kam. Konnte man hier hören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde? Sie stand leise auf und schlich sich an die Tür. Wenn sie das Ohr an die Türfüllung legte, konnte sie etwas hören. Der Rechtsanwalt telephonierte mit jemandem. »Sie vertreten also den Fabrikanten Berdelow, Herr Kollege?« hörte sie ihn sagen. »Was meinen Sie zu der Geschichte? Völlig unschuldig? Unerhörter Übergriff der Polizei? Ja, ich habe vom Polizeipräsidium Nachricht bekommen, und mir scheint doch – –« Sie hörte noch einige Male das Wort Kollege. Dann wurde sie erneut von einem Schwächeanfall ergriffen und schleppte sich auf das Lager. Sie wollte wach bleiben, versuchte zu zählen und fiel doch gleich in Schlaf. Einige Male hörte sie, wie jemand vorsichtig durch das Zimmer schlich.

Eigentlich wachte sie nicht auf. Sie lag mit geschlossenen Augen, konnte aber nicht den Entschluß finden, sie zu öffnen. Sie lag wohl eine halbe Stunde so. Alle Nerven schmerzten sie. Ihr wäre besser geworden, wenn sie sich aufgerichtet hätte, aber sie tat es nicht. Wozu soll ich aufstehen? dachte sie Dann hörte sie im Nebenzimmer erregt sprechen. Zuerst wußte sie nicht, wo sie sich befand. Auf einmal fiel ihr alles ein. Nebenan schrie jemand auf. Gerdal dachte sie. Jetzt hat sie es gehört! Sie sprang auf, ging an die Tür. Drinnen war alles still. Sie riß die Tür auf, sah Gerda auf dem Sofa sitzen, den Rechtsanwalt an seinem Schreibtisch stehen, und stürzte hinein, zu der Frau auf dem Sofa, sank vor ihr nieder, umfaßte ihre Knie, »Gerda!« stammelnd. Die rührte sich nicht. Der Rechtsanwalt ging leise hinaus.

Er blieb draußen an der Tür stehen und dachte darüber nach, wie er den hohen Anforderungen an Zartheit, Verständnis und Energie, die er an sich selbst stellte, in diesem seltsamen Fall am besten gerecht würde. Überlegte sich, daß beider Liebe zu dem einen Mann nun, da er tot war, sich leicht in Zuneigung zu der von gleichem Leid Betroffenen umsetzen konnte, und glaubte, nichts fürchten zu müssen. Dennoch behielt er zunächst das Ohr an der Tür und sah dann vorsichtig durch das Schlüsselloch. Die beiden Frauen bewegten sich lange Zeit nicht und schienen auch kaum zu sprechen. Schließlich hörte er lebhaftes Flüstern. Er sah, wie Frau Werneuchen auf die junge Dame einsprach. Merkwürdig! dachte er. Immerhin lagen Akten in dem Zimmer, die er brauchte. Er trat ein, bewegte sich auf Zehenspitzen zum Schreibtisch.

»Störe ich?« fragte er mit seiner tiefen, wie er wußte, wohltuenden Summe.

Die beiden saßen auf dem Sofa nebeneinander. Bei seinem Eintritt hörten sie zu sprechen auf.

»Darf ich Ihnen mit irgendeiner Auskunft behilflich sein, meine Damen?« fragte er und kramte die Akten auf seinem Schreibtisch zusammen.

»Können Sie uns ein Auto besorgen?« fragte Gerda.

»Gewiß, gern! Was geschieht mit Fräulein Diepenbroich?«

»Ich nehme sie mit in mein Pensionat!«

Das Telephon klingelte. Polizeikommissar Leuthold war am Apparat. Er hatte gehört, daß Frau Werneuchen sich dort aufhielt Ob sie noch dort war?

Ja, sie wäre noch da.

Ob sie die Freundlichkeit haben würde, ins Polizeipräsidium, Zimmer Nr. ... zu kommen? In einer Stunde vielleicht, oder wann es ihr am besten paßte!

»Ich werde in einer Stunde kommen!« ließ Gerda sagen.

Der Rechtsanwalt klingelte nach einem Boten, um das Auto zu bestellen. Als der Bote hinausgegangen war, lehnte er sich mit verschränkten Armen an seinen Schreibtisch und sprach zu den Frauen hinüber.

»Meine Damen!« sagte er. »Das Schicksal hat auf eine katastrophale Art Ihre Bekanntschaft vermittelt Ich weiß nicht, ob Sie sich kennen oder wie Sie zueinander stehen. Ich glaubte, mich hier zurückhalten zu müssen und mich in den seltsamen Vorgang dieses Zusammentreffens nicht eindrängen zu dürfen. Aber wenn ich als erfahrener Mann und als Ihr Rechtsbeistand, gnädige Frau, Ihnen einen Rat geben darf, so ist es dieser: Helfen Sie sich gegenseitig, das schwere Leid zu tragen, das Sie gemeinsam betroffen hat. Seien Sie sich Schwestern in Ihrer Leidgemeinsamkeit – –«

Hier mußte er aufhören, denn von Elmas Seite hörte er ein merkwürdiges Schlucken und Glucksen, und schließlich lachte sie mit lauter Stimme hinaus. Sie versuchte, sich zurückzuhalten, aber es schüttelte sie von innen her. Sie wollte sprechen, sie brachte einzelne Worte zusammen, immer von lautem Prusten unterbrochen.

»Entschuldigen – Sie, – – aber das ist – – alles so – furchtbar komisch!«

»Sie ist mit ihren Nerven –« versuchte Gerda zu erklären. »Entschuldigen Sie!«

»Es sind die Nerven. Ich weiß! Ich weiß!« sagte der Rechtsanwalt milde und zog sich diskret zurück!«

»Das ist nun alles noch viel schrecklicher!« sagte Elma, als er hinaus war. »Ach, hätten Sie mir nie etwas gesagt!«

Gerda preßte die Lippen aufeinander und schwieg.


 << zurück weiter >>