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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Gerda sah ihn erstaunt an.

»Wen mein Mann am Freitag früh in Regensburg erwartete? Was tut das hier zur Sache?«

»Nun immerhin, gnädige Frau! Das müßten Sie eigentlich einsehen. Es ist doch interessant, zu erfahren, wer außer Herrn Goldschmidt, Fräulein Diepenbroich und Herrn Kamp noch etwas von der Reise des Herrn Werneuchen nach Regensburg wußte?«

»Und weshalb fragen Sie mich gerade danach? Wie kommen Sie darauf?«

Ihr Hin- und Herreden wurde nachgerade peinlich. Herr Leuthold bekam sein eisernstes Gesicht. Kamp wagte vor Spannung kaum zu atmen. Hatte Neumann die Briefe gefunden? Wußte er etwas von Gerda?

»Gnädige Frau,« erhob Neumann auf einmal seine Stimme. »Ich glaube, es ist besser, Sie selbst sagen hier aus, wen Herr Werneuchen Freitag früh aus Berlin erwartete, als daß ich selbst es sagen müßte.«

»Wen mein Mann Freitag früh in Regensburg erwartete?« wiederholte sie noch einmal. »Er erwartete mich. Sonst wüßte ich nichts!«

»Sie waren also an jenem Tag in Regensburg, gnädige Frau?« nahm der Kommissar die Leitung der Verhandlung wieder in die Hand. Aber man sah es ihm an, wie fassungslos er dieser neuen Tatsache gegenüberstand.

»Ich traf Freitag früh dort ein, wie ich es mit – mit meinem Mann verabredet hatte.«

»Sie hatten also ein Zusammentreffen mit Herrn Werneuchen in Regensburg verabredet? Wußten Sie etwas von dieser Verabredung, Herr Kamp?«

Kamp wurde flammendrot. Das nächste Wort konnte ihn verraten.

»Herr Werneuchen hat mir von einer solchen Verabredung nichts gesagt!« stammelte er.

»Herr Werneuchen besprach aber doch sonst alles mit Ihnen?«

»Es konnte vorkommen, daß er mir auch einmal nichts sagte. So hatte er mir auch von seinem Besuch bei Herrn Berdelow nichts gesagt.«

»Vielleicht hat er von dieser Verabredung zu Fräulein Diepenbroich gesprochen?«

»Ich glaube es nicht, daß er davon gerade zu Fräulein Diepenbroich gesprochen hat. Ich hätte es jedenfalls an seiner Stelle vermieden.«

»Weshalb hatten Sie sich mit Herrn Werneuchen gerade in Regensburg verabredet, gnädige Frau?«

»Ich mußte ihn notwendig sprechen und bat ihn um eine Unterredung. An dem Tage, an dem ich von Berlin kommen konnte, mußte er gerade in Regensburg sein, und deshalb verabredeten wir uns dort. Herr Werneuchen wollte nämlich eventuell von Regensburg noch eine kleine Reise durch Franken machen. Ich konnte ihn also nirgends anders treffen als in Regensburg.«

»Das mit der Reise nach Franken ist richtig!« warf Kamp ein.

»Was hatten Sie mit Ihrem – mit Herrn Werneuchen in Regensburg zu besprechen?«

»Das kann ich nicht sagen!«

»Das ist sehr schade, gnädige Frau!«

»Ich kann es nicht sagen, weil es mich zu sehr aufregen würde.«

Kamp erriet, was sie meinte: Nach dem Bruch mit Reuschhagen wollte sie Ernst Alexander die volle Wahrheit sagen und irgendeine Verständigung mit ihm herbeizuführen suchen.

»Betrifft es die Angelegenheit mit Herrn Reuschhagen, die Sie mir vorhin im Pensionat erzählten, gnädige Frau?« mischte er sich wieder ein.

»Ja ... diese Angelegenheit!«

»Darf ich den Herren das Nötige mitteilen?«

Gerda blickte sich unruhig im Zimmer um. Man sah, wie unangenehm es ihr sein mußte, über diese Dinge zu sprechen oder sie anzuhören.

»Wenn es nicht anders geht –« sagte sie endlich.

»Es geht nicht anders, gnädige Frau. Wir müssen jetzt Klarheit schaffen.«

»So sagen Sie den Herren das Nötige!« forderte sie Kamp auf.

Kamp setzte dem Kommissar kurz auseinander, was er wußte. Gerda weinte dazu leise vor sich hin. Man konnte es verstehen, daß diese Dinge sie ungeheuer erregten.

Leuthold und Neumann hörten schweigend und ohne zu unterbrechen zu. Als Kamp geendet hatte, wandte sich der Kommissar an Gerda.

»War es alles so, gnädige Frau, wie es Herr Kamp erzählte?«

»Ja, so war es, so wahr mir Gott helfe!«

Vielleicht hätte sie diese Beschwörungsformel nicht gebrauchen sollen. Die Erzählung ihrer Abhängigkeit von Reuschhagen, die jahrelange Qual, die sie erduldet haben mußte, das alles hatte den Kommissar sichtlich gefesselt. Auch Kamp, da er diese Folgen einer weit zurückliegenden und nur augenblicklichen Verwirrung wieder ausbreitete, fühlte von neuem die tragische Wucht des Verhängnisses, das über Werneuchen und Gerda gewaltet hatte. Als sie nun aber diese Beschwörungsformel aussprach, entstanden neue Zweifel, ob es sich im letzten Grunde wirklich so verhalten haben mochte. Doch vielleicht war es ihr ein Bedürfnis, ihre Qual, da sie nun einmal hier zur Sprache gekommen war, mit dem stärksten Eid zu besiegeln. Vielleicht waren ihre Worte eine Rechenschaft, die sie nicht nur vor diesen Männern, sondern vor Gott selber abgelegt haben wollte.

Kamp fühlte, daß er aus dieser Frau niemals klug werden würde.

»Sie wollten also Herrn Werneuchen alles sagen und gestehen, da Sie Ihre bisherige Stütze Reuschhagen verloren hatten«, faßte Leuthold kurz zusammen. »Finden Sie nicht selbst, gnädige Frau, daß dieses Geständnis ein wenig zu spät erfolgte?«

»Ja,« sagte sie, »aber ich hatte es früher nie gewagt. Ich konnte erst sprechen, als mir nichts anderes mehr übrigblieb. Ich hatte Angst vor Ernst Alexander.«

»War Ihr Mann denn so streng? Hätte er Ihnen nicht alles verzeihen müssen, wenn es sich so verhielt, wie Sie sagen?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube aber, daß Ernst Alexander mich haßte. Er hätte es mir vielleicht doch nicht verziehen, und ich hätte alles verloren.«

Kamp nickte zu diesen Worten. Hier lag das Verhängnisvolle zwischen diesen Menschen, der Ausgangspunkt der Tragödie. Werneuchen hätte nicht verziehen! Er wußte es. Werneuchen hätte sie von sich gestoßen. Und vielleicht hätte er recht gehabt. Vielleicht hätte er gesagt: »So lange Jahre hast du mich gezwungen, diesen verbrecherischen Menschen in meinem Hause zu dulden? Als dein und unser Freund ist er bei uns ein und aus gegangen. Du wußtest von diesem Menschen das Schlimmste, was man überhaupt von einem Manne wissen kann, und doch hast du weiter mit ihm verkehrt, hast ihn in seiner Wohnung aufgesucht, seinem Klavierspiel gelauscht und, was beinahe noch schlimmer ist, hast mich gezwungen, das alles mit dir zu tun! Gehe von mir! Ich will mich von dieser verbrecherischen Gesellschaft freimachen!«

So hätte Werneuchen zu ihr gesprochen. Und sie?

Sie hätte sagen können: »Weshalb hatte ich so große Angst vor dir? Weshalb brachte ich es nicht mehr über mich, es dir zu gestehen? Weil du mich haßtest und vernichten wolltest!«

Und er hätte wiederum sagen können: »Du wolltest mich doch auch vernichten! Meine Angst und mein Abscheu vor dir waren doch nicht ohne Grund! Du hast mich doch in der Tat in die Sphäre des Verbrechens hineingerissen!«

Und vielleicht hätte er noch sagen können: »Du hast doch den Mörder gegen mich bewaffnet!« Und vielleicht hätte sie dann sagen dürfen: »Aber ich mußte es ja tun, weil du mich dazu zwangst!«

Hier war kein Ende! Kamp sah die unselige Verwirrung im Bilde gehässiger Schlangen vor sich, die sich verstrickt hielten und sich nicht loslassen durften, bevor die eine getötet war. Konnte hier noch ein Zweifel an dem Ausgang herrschen? Vielleicht wollte diese merkwürdige Frau noch mit aller Kraft um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen, ehe sie der irdischen Sühne verfiel? Vielleicht gelang es ihr sogar, am Ende schuldlos dazustehen? Oder war sie vielleicht wirklich schuldlos?

»Was war aber nun, als Sie Herrn Werneuchen nicht an der Bahn trafen?« hörte Kamp den Kommissar weiter fragen.

Der Zug war eine Viertelstunde vor acht Uhr morgens in Regensburg angekommen. Gerda hatte zunächst an ein Verspäten Werneuchens geglaubt, denn in seinem letzten Brief hatte er ihr die Zusammenkunft mit Bestimmtheit versprochen. Aus Angst, ihn zu verfehlen, wagte sie sich lange Zeit nicht vom Bahnsteig und blieb dann über eine halbe Stunde vor dem Bahnhof stehen, weil sie immer noch mit seinem verspäteten Erscheinen rechnete. Sie war völlig verzweifelt, als er nicht kam. Alle ihre Hoffnungen hatte sie auf diese Zusammenkunft gesetzt. Ja, sie hatte sogar gehofft, daß diese Zusammenkunft eine völlige Aussöhnung herbeiführen würde.

»Ich wußte ja damals noch nichts von Elma Diepenbroich. Ich hatte wirklich gehofft, meinen Mann durch die Schilderung meiner Leiden so zu erschüttern, daß alles wieder gut wurde.«

Schließlich mußte sie annehmen, daß Werneuchen dieser Begegnung im letzten Augenblick doch ausweichen wollte. Sie suchte die großen Hotels der Stadt ab, um ihn vielleicht aufzufinden. Nirgends aber hatte er übernachtet. Sie ging an alle Züge, die aus München kamen. Sie überlegte sich, daß er vielleicht erst am nächsten Vormittag hatte reisen können. Dann lief sie wieder durch die Stadt, um ihm vielleicht irgendwo unvermutet zu begegnen. Sie nahm sich vor, wo sie ihn auch sähe, ihm zu Füßen zu fallen und ihn zu zwingen, sie anzuhören. Schließlich –

»Erzählen Sie genau und alles, gnädige Frau!« warnte aus dem Hintergrund die Stimme des Wachtmeisters. »Erkundigten Sie sich nicht auch vielleicht im Hotel ›Münchner Hof‹ nach Herrn Werneuchen?«

Leuthold und Kamp sahen den Wachtmeister erstaunt an. Er schien mehr zu wissen, als sie bisher vermutet hatten.

»Das weiß ich nicht«, fuhr Gerda fort »Ich fragte in vielen Hotels. Ich weiß aber nicht mehr, wie sie alle hießen. Schließlich aß ich im Wartesaal zu Mittag, da ich ihn auf dem Bahnhof noch immer am ehesten zu treffen hoffte. Dann ging ich, weil ich todmüde war, in ein Hotel in der Stadt. Ich glaube, das war der ›Münchner Hof‹. Dort nahm ich mir ein Zimmer und schlief einige Stunden. Am Abend fuhr ich dann nach München weiter.«

»Daß Sie am Freitagnachmittag im ›Münchner Hof‹ waren, habe ich gewußt«, sagte Neumann. »Und ich weiß noch Verschiedenes!«

»Woher?« fragte Leuthold erstaunt »Ich dachte, Sie laufen hinter einer ganz anderen Spur her?«

»Ich bin hinter zwei Spuren hergelaufen. Die eine, Margot Liedtke, verfolgte ich nur pflichtgemäß, soweit es mir möglich war. Von der anderen wußte ich bald, daß sie zum Ziele führen würde.«

»Zum Ziele?« fragte Leuthold erregt

»Ja, zum Ziele!«

Der bescheidene stille Mensch hatte etwas Unheimliches, als er diese Worte sagte. Kamp war es, als ob er selbst zusammengefahren wäre.

»Sind Sie denn am Ziel?« fragte Leuthold zweifelnd.

»Sofort!« nickte Neumann. Die Spannung im Zimmer wurde fast unerträglich. »Aber wenn Sie wissen wollen, woher ich meine erste Weisheit habe, so ist das sehr bald gesagt. Ich hatte einen mir befreundeten Kollegen in Regensburg telephonisch um private Ermittlungen gebeten, und dieser Kollege, der in allen Hotels nach einem Herrn Werneuchen geforscht hatte, erfuhr zu seiner und meiner Überraschung, daß sich am Freitagnachmittag im ›Münchner Hof‹ eine Frau Werneuchen für einige Stunden ein Zimmer genommen hatte. Auf dieser Grundlage habe ich dann weitergearbeitet Immer ganz nebenbei. Bitte, gnädige Frau, fahren Sie fort«

Gerda schien dies alles gar nicht gehört zu haben. Sie hatte anscheinend gedankenlos vor sich hin gestarrt. Jetzt setzte sie ihre Erzählung fort.

In München war sie in ihrem alten Pensionat abgestiegen, das ihr Reuschhagen einmal empfohlen hatte. Sie ging dorthin, obwohl sie sich dadurch einer Begegnung mit Reuschhagen aussetzte. Sie war so verzweifelt über das Fehlschlagen ihres Regensburger Plans, daß ihr auch eine Begegnung mit Reuschhagen gleichgültig geworden war.

»Da sich Werneuchen nun ganz von mir abgewendet zu haben schien, glaubte ich sogar, vom Schicksal zur ständigen Verbindung mit Reuschhagen verurteilt zu sein. Ich wollte ihn aufsuchen, rechnete aber damit, daß wir uns einmal begegnen würden. Ich habe auch zweimal bei Werneuchen angerufen. Als sich jemand meldete, verstellte ich meine Stimme, bestellte einen Gruß und wagte mich nicht zu erkennen zu geben. Durch meinen Rechtsanwalt erfuhr ich dann auf Umwegen über den Rechtsanwalt Werneuchens, daß mein Mann tatsächlich nach Regensburg gefahren war. Um so mehr mußte ich damit rechnen, daß er mich nicht hatte sprechen wollen und mir aus dem Wege gegangen war.

Als ich in Regensburg durch die Straßen ging, stellte ich mir immer vor, daß er mich vielleicht gesehen und kehrtgemacht hatte, um mir nicht zu begegnen. ›Wenn du wüßtest, wie grausam das ist,‹ sagte ich in Gedanken zu ihm, ›du würdest es nicht tun. Aber wir wissen ja nichts mehr voneinander!‹ Doch ich rechnete noch immer damit, daß er mich vielleicht durch einen unglücklichen Zufall verfehlt hatte. Jedenfalls wollte ich nicht aus München fortfahren, ohne ihn gesprochen zu haben. Ich wollte alles versuchen, um ihn zu treffen und ihn zu der Unterredung zu zwingen.

Es waren furchtbare Tage für mich. Nie im Leben war ich so verlassen gewesen. Nicht einmal Reuschhagen bekam ich zu Gesicht. Er wußte wohl gar nicht, daß ich da war. Den ganzen Samstag und Sonntag verbrachte ich auf meinem Zimmer und las. Ich wollte nicht ausgehen. Am Montagvormittag ging ich gleichwohl in die Stadt. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß ich Werneuchen treffen würde. Aber ich traf ihn nicht. So ging ich am Nachmittag noch einmal aus, denn ich dachte doch, daß die innere Stimme mich nicht betrügen könne. Stundenlang lief ich durch die Straßen.

Sie können sich nicht vorstellen, Herr Kommissar, wie ein so zielloses Umherirren auf einen Menschen wirken muß. Ich hatte doch jahrelang in München gewohnt. Ich hatte viele Bekannte hier. Ober all kamen mir Erinnerungen an mein früheres Leben. Jetzt war ich ausgestoßen. Ich sah kein bekanntes Gesicht mehr, und wo ich eines sah, versteckte ich mich.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich mußte irgendeinen Menschen sehen. Ich mußte etwas von Ernst Alexander in Erfahrung bringen. Von Reuschhagen wußte ich, daß er um diese Zeit in dem kleinen Café in der Lindwurmstraße sitzen würde. Ich war bis in den Englischen Garten gegangen, um mich ihm fernzuhalten. Auf einmal mußte ich zu ihm gehen. Ich ertrug das Alleinsein und die Ungewißheit einfach nicht länger. Ich hoffte noch immer, daß mir auf diesem Wege irgend etwas begegnen würde. Vielleicht bog ich um eine Ecke und sah Werneuchen kommen. Ich besah mir die Schaufenster, ich blieb stehen, ich ging zurück, immer in der Hoffnung, daß noch etwas dazwischenkommen würde. Schließlich war ich an dem Café und ging hinein. Reuschhagen saß wie stets in dem Hinterzimmer. Das übrige wissen Sie.«

Als Gerda geendet hatte, war es ganz still in dem kleinen Raum geworden. Konnte jemand an der Wahrheit dieser Erzählung zweifeln? Lag hier nicht der Leidensweg einer Frau klar vor Augen, die gefehlt, durch Leiden aber auch gesühnt hatte? Vielleicht hatte Neumann aus Gerdas unvermuteter Anwesenheit in Regensburg fälschlich auf ihre Schuld geschlossen? Aber Gerdas Erzählung mußte diese Hypothese zerstören. Kamp konnte sich nicht erklären, wie man jetzt noch an eine Mitschuld Gerdas glauben sollte. Die Erzählung von ihrem Umherirren in Regensburg und in München trug zu sehr den Stempel der Wahrheit an sich. Selbst daß sie zweimal mit veränderter Stimme in der Villa angerufen hatte, war nachweisbar richtig. Es waren die Anrufe, von denen Auguste ihm berichtet hatte und die er sich nicht erklären konnte. Und genau so, wie sie erzählt hatte, mußte sie zu dem Café gegangen sein. Es stimmte zu auffallend mit dem Bericht Elmas über ihre Verfolgung Benschs überein.

Oder hatte ihr Elma vielleicht inzwischen davon erzählt, und hatte Gerda ihre Geschichte danach eingerichtet? Auf einmal fielen den Studenten wieder die Zweifel an. Wie, wenn sich im nächsten Augenblick herausstellen würde, daß diese Frau doch eine Lügnerin war?

Der Wachtmeister bat den Kommissar, noch einige Fragen an Frau Werneuchen tun zu dürfen.

»Wann, gnädige Frau, haben Sie den Packer Bensch das letztemal gesehen?«

»Bei unserem Wegzug von Berlin nach München!«

»Denken Sie genau nach, gnädige Frau! Wirklich niemals wieder?«

»Nein! Ich weiß das doch ganz genau!«

»Würden Sie den Mann sofort wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen?«

»Unbedingt! Auf den ersten Blick!«

»Auch wenn er jetzt hier in dieses Büro hineinkäme, einige Akten auf den Tisch legte und wieder hinausginge?«

»Wenn ich ihn überhaupt sehen würde, würde ich ihn sofort erkennen. Wir haben ihn doch tagelang genau beobachtet.«

»Gut! Sie saßen mit Herrn Reuschhagen in dem kleinen Café, als Herr Kamp hineintrat. Wer von Ihnen bemerkte Herrn Kamp zuerst? Sie oder Reuschhagen?«

»Ich!«

»Sie saßen also so, daß Sie die Tür vor sich hatten, während Herr Reuschhagen ihr den Rücken zukehrte. War es nicht so, Herr Kamp?«

Kamp rief sich das Bild vor Augen, wie er den Raum betreten hatte. In diesem Augenblick merkte er plötzlich, wo Neumann hinaus wollte. Gerda hatte ihn, Kamp, damals sofort erblickt und erkannt, als er durch die Tür trat, während Reuschhagen sich erst nach ihm umwenden mußte.

»Ja, so war es!« sagte er hastig. Er konnte die Worte vor Aufregung kaum herausbringen, denn nun war es klar, daß die nächsten Sätze Neumanns herausbringen mußten, daß Gerda mit Bensch im Einverständnis war. Er sah zu Gerda hinüber, wunderte sich, daß sie noch nicht aufschrie oder etwas Ähnliches tat. Aber sie schien tief nachzudenken. Sie kämpft! dachte er. Sie kämpft mit aller Kraft!

Neumann fuhr fort: »Eine Stunde vor Herrn Kamp war der Packer Bensch durch diese Tür getreten. Er kam kurz nach Ihnen herein. Hatten Sie bereits Platz genommen, als er hereinkam?«

Jetzt wurde Gerda kreidebleich. In diesem Augenblick erst schien sie die Gefahr über ihrem Haupt zu erkennen.

»Ich habe doch nichts gesehen!« rief sie. »Bei Gott, ich habe nichts gesehen!«

»Das ist sehr möglich, gnädige Frau. Ich behaupte ja auch gar nichts. Ich frage ja nur. Aber diejenige Person, die auf Ihrem Stuhl saß oder vielleicht noch stand und mit dem Ablegen ihrer Garderobe beschäftigt war, diese Person mußte den eintretenden Bensch doch sofort bemerken? Bensch kam etwa eine halbe Minute nach Ihnen ins Café. Hatten Sie bereits abgelegt, gnädige Frau?«

»Nein, ich hatte mein Kostüm an.«

»Ja, sie hatte das Kostüm an«, bestätigte Kamp.

»Dann saßen Sie also bereits auf Ihrem Platz, als Bensch erschien?«

»Ich habe nichts gesehen!« rief sie noch einmal. »Bei Gott! Ich habe nichts gesehen!«

»Aber diejenige Person, die auf Ihrem Stuhl saß, die mußte doch jeden Eintretenden sehen und erkennen! Also, gnädige Frau?«

»Mein Gott!« rief Gerda entsetzt, preßte das Taschentuch gegen die Stirn und sank in ihren Stuhl zurück.

»Also, gnädige Frau?«

Der Beamte sagte diese Worte leise und mit einer fast aufmunternden Stimme.

»Die Person, die auf Ihrem Platz saß, mindestens diese eine Person mußte den Packer bemerkt haben. Verstehen Sie wohl: mußte! Sie muß mit dem Packer sogar in einem weitgehenden Einverständnis gestanden haben. Denn sonst hätte Bensch sich nicht so unbemerkt und sorglos durch den kleinen Raum schleichen können. Geben Sie das zu? Die betreffende Person mußte geradezu dem Bensch ein Zeichen gemacht haben oder er ihr. Geben Sie das zu?«

Gerda wimmerte wortlos vor sich hin.

Elma, Elma! dachte Kamp. Und mit dieser Frau wolltest du zusammenziehen! Nicht einmal die furchtbare Tat erschien ihm in diesem Augenblick so entsetzlich, sondern diese vollendete Kunst der Lüge, die sich bis zum letzten behauptete. Welche Herzenstöne der suchenden Angst hat diese Frau noch eben angeschlagen! Wie hatte sie bis zum letzten Augenblick die Rolle der unschuldig Leidenden gemeistert!

»Darf ich Ihr Schweigen als Eingeständnis ansehen?« fragte Neumann mit seiner leisen Stimme.

Gerda antwortete auch jetzt nicht Sie wimmerte immer nur leise vor sich hin.

»Als wir damals in dem Café waren,« sagte Neumann zu den anderen, »habe ich nicht gewußt, daß die gnädige Frau und Reuschhagen den Packer Bensch kannten. Sonst wäre ich gleich auf diese Vermutungen gekommen. Als ich dann die ganze Geschichte vernahm, war es mir klar, wo man die Schuldigen zu suchen hatte. Immerhin war es ja noch möglich, daß dieses Fräulein Margot Liedtke eine Rolle dabei spielte. Deshalb verfolgte ich auch diese Fährte. Aber mein Augenmerk hatte ich doch in erster Linie auf Frau Werneuchen gerichtet Ich habe in Berlin recherchieren lassen, wann Frau Werneuchen dort abgefahren ist. Sie hatte tatsächlich den Nachtzug zu Freitag nach Regensburg benutzt. Eigentlich machte mich das ein wenig irre, denn die Tat war ja doch offenbar in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag geschehen. Dann aber dachte ich, daß Frau Werneuchen den Mord ja gar nicht selbst ausführen wollte. Sie hatte Bensch dazu bestellt, und wollte sich am nächsten Tag nur vergewissern, ob es geschehen ist. Es schien mir aber alles auf die Situation in dem kleinen Café anzukommen. Heute nachmittag war ich noch einmal dort draußen und habe mich an Ort und Stelle davon überzeugt, daß jemand, der hinter dem Tischchen saß, jeden Eintretenden unter allen Umständen bemerken mußte.«

Nach diesen Ausführungen sagte niemand ein Wort

»Das ist ja so ... so entsetzlich!« rief Gerda auf einmal unter ihren Tränen aus.

Die drei wandten überrascht die Köpfe nach ihr hin.

»Das ist ja das Entsetzliche!« Sie blickte wild um sich. »Als Sie anfingen zu fragen, ging es mir auf einmal auf. Ich saß ja gar nicht dort! Wir hatten ja die Plätze gewechselt, weil mich das helle Licht vom Fenster bei meinen verweinten Augen blendete. Ich saß ja zuerst gegen das Fenster. Ich habe ja wirklich nichts gesehen!«

Die drei Männer sahen sich sprachlos an.

»So mußte es kommen!« rief Gerda. »So mußte es kommen! Er ließ ja keine Ruhe! Ich habe es immer gefürchtet. Er mußte Ernst Alexander ermorden lassen, weil er ihm im Wege war. Er wußte ja, daß ich ihm nie gehören würde, solange Ernst Alexander lebte! Aber auch dann nicht! O Gott, auch dann nicht!«

»Hatten Sie ihm denn von der Regensburger Verabredung mit Herrn Werneuchen geschrieben?« fragte Neumann.

»Ja, ich hatte ihm geschrieben. Ich hatte ihm geschrieben, daß ich meinem Mann alles sagen würde und daß ich in Regensburg alles daransetzen würde, Ernst Alexander zu versöhnen. Das hatte ich ihm geschrieben, und deshalb hat er ihn ja umgebracht. Und ich habe noch mit ihm zusammengesessen und habe ihm die Hand gegeben, und dabei hatte er meinen Mann schon ermorden lassen! O Gott! Und der Mörder war hinter meinem Rücken vorbeigegangen, und ich hatte nichts gesehen!«

Sie sank wieder auf ihren Stuhl zurück und fiel in leises Wimmern.

»Reuschhagen!«

Als erster sprach der Kommissar diesen Namen aus, und die anderen wiederholten ihn mechanisch. Weshalb hatte man nicht gleich an diesen Mann gedacht? Es war doch alles so klar! Kein anderer als der kleine Musiker konnte den Mörder gedungen haben.


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