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Erstes Kapitel

Sie gingen von dem Vorortbahnhof in die Halle des Münchner Hauptbahnhofs. Rechts, ein wenig hochgereckter, als es ihm eigentlich zukam, der Hauptmann a. D. Werneuchen, die kleine Handtasche am Arm, den Mantel hochgeschlossen. An seiner linken Seite der Student der Rechte Otmar Kamp, ein langer, blonder Schlacks mit treuherzigen blauen Augen, die jetzt niedergeschlagen waren, da die Spannung des Abschieds von dem älteren Freunde auf ihn drückte. Am Eingang der Halle versuchte er noch einmal Werneuchen den Koffer abzunehmen. Der ließ es nicht zu. Aber Kamp besorgte wenigstens die Fahrkarte nach Regensburg und für sich die Bahnsteigkarte, lief dann am Zug entlang, um ein leeres Abteil für den Abreisenden zu finden. Es gab aber keines, und Werneuchen mußte sich zu vier anderen Reisenden hineindrücken.

Sie sprachen kaum ein Wort. Diese beginnende Reise schloß so Wichtiges ein, daß zu den unendlichen Erörterungen der letzten Tage nichts mehr hinzuzufügen war. Darüber hinaus hatte noch jeder von ihnen seine eigenen Gedanken und Empfindungen, die er nicht äußern wollte.

»Haben Sie den Scheck?« fragte Werneuchen noch einmal, aber nur, um die Zeit hinzubringen.

»Hier!« antwortete Kamp und schlug sich gegen die Brust. Er trug den Blankoscheck Werneuchens in seiner Brieftasche. Sehr widerwillig hatte er ihn angenommen. Ihn belastete dieses wichtige Papier, das über den Rest von Werneuchens Vermögen verfügte. Aber es war ihm immerhin lieber gewesen, als daß Werneuchen, wie er durchaus gewollt hatte, das ganze Geld mitnahm.

Nur zu kurzem Abschied kletterte der Abreisende noch einmal aus dem Abteil, um Kamp die Hand zu schütteln.

»Also leben Sie wohl, lieber Kamp! Und grüßen Sie Elma, wenn Sie sie sehen.«

»Gut, gut!« wehrte der Student ab. »Und alles Gute und viel Erfolg!«

Alles, was mit dieser Reise Werneuchens zusammenhing, bedrückte ihn. Werneuchens und Elmas Schicksal stand zur Entscheidung, und so manches andere noch. Sie dachten beide daran und wußten es voneinander. Dem Studenten sah man es geradezu an seinem treuherzigen Gesicht an, während Werneuchen seine Mienen besser zu wahren verstand. Das war immer so. Man merkte ihm nichts an, und nur, wenn man ihn ganz genau kannte, so genau, wie es Kamp nun seit fast einem Jahre tat, wußte man, was in dem Schweigsamen vorging, der die inneren Kämpfe hinter leiser Ironie zu verstecken verstand.

Er drängte in das Abteil zurück und ließ sich in der hintersten Ecke nieder. Kamp stand eine Weile unschlüssig da. Werneuchen bemerkte es nicht mehr. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Kamp lief eine Weile neben ihm her. Es schien ihm unmöglich, daß Werneuchen nicht doch noch im letzten Augenblick den Kopf zum Fenster herausstreckte. Dann hörte er allmählich zu traben auf und ging mit gesenktem Kopf zurück. Obwohl es ziemlich gleichgültig war, mußte er doch immer denken: »Wozu hat er nicht mehr hinausgesehen?« Irgendwie schien ihm dadurch eine Entscheidung unwiderruflich gefallen, und einen kurzen Augenblick lang durchzuckte ihn sogar der Gedanke, daß er den Freund nicht wiedersehen würde.

Ernst Alexander Werneuchen hatte sich in seinen Winkel zurückgezogen und überließ sich seinen Gedanken. Am Abend sollte er in Regensburg die Unterredung haben, die über seine Zukunft entschied. Wenn es nur seine Zukunft gewesen wäre! Aber was hingen da noch für Menschenschicksale an ihm! Jetzt konnte alles besser werden. Er glaubte beinahe an eine glückliche Lösung. Ja, er glaubte ganz fest daran, wie er seit langem nicht mehr geglaubt hatte. Seit Monaten suchte er verzweifelt nach einer Stellung. Er hatte sich auf Zeitungsannoncen gemeldet, hatte Bewerbungen geschrieben und Besuche gemacht. Nun auf einmal war es ganz rasch gegangen. Auf irgendeine seiner Meldungen war ein Brief gekommen. Kurzes Hin- und Herschreiben. Er war für die Hamburger Vertretung der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft in Aussicht genommen. Lebensstellung, sechshundert Mark monatlich und Tantieme. Verlangt wurde allerdings eine Kaution von fünftausend Mark. Selbstverständlich! Er kannte das nun. Große Werte würden durch seine Hände gehen, die Leute mußten sich sichern. Und ganz nebenbei waren fünftausend Mark in dieser kapitalarmen Zeit ein hübscher Betriebsstoff auch für eine große Firma. Natürlich, es hieß Kaution, und war eigentlich etwas ganz anderes. Aber ihm, der gerade noch einiges Geld besaß, wurde einzig auf diese Weise die Möglichkeit gegeben, in eine kaufmännische Stellung hineinzuschlüpfen. Am Abend sollten zwei Direktoren der Gesellschaft in Regensburg sein. Er war zur entscheidenden Besprechung hinübergebeten worden. Er hatte also Chancen, er wiederholte sich das von Zeit zu Zeit. Wenn es gut ging, konnte er am nächsten Tag den Vertrag in der Tasche haben. Ach, wenn er es doch bis zum nächsten Morgen erreicht hätte!

Denn an diesem nächsten Morgen stand etwas ganz Seltsames bevor. Seine Frau hatte ihm geschrieben. Die Frau, mit der er nun schon seit undenklichen Zeiten in Scheidung lag, mit der er einen hartnäckigen, mit allen bösartigen Mitteln betriebenen Prozeß führte. Einen flehenden, verzweifelnden Brief hatte ihm Gerda nun, ganz überraschend, geschrieben und ihn beschworen, ihr eine Unterredung zu gewähren. Sie wollte von Berlin, wo sie bei ihren Eltern wohnte, herüberkommen, um ihn zu sprechen. Es paßte gerade mit seiner Regensburger Reise zusammen, und so hatte er sich für den nächsten Morgen in Regensburg am Berliner Schnellzug mit ihr verabredet. Sie hatte gebeten, diese Begegnung streng geheim zu halten. Er ahnte nicht, was sie zu diesem Entschluß getrieben haben mochte. Irgend etwas Wichtiges mußte in dem »feindlichen« Lager vorgegangen sein. Vielleicht löste sich nun manches Rätsel auf, das ihn seit Jahren beschäftigte. Ein wenig fühlte er – er ward dessen mit einem Lächeln inne – die Spannung wie vor dem Zusammentreffen mit einer Geliebten. Ja, vielleicht liebte er diese Frau noch immer ein wenig. Liebte sie vielleicht jetzt erst, da er wie durch Wüsten und Meere von ihr getrennt war. Was würde sie ihm zu sagen haben? Er grübelte darüber nach, mit jagenden Gedanken, die um so reizvoller waren, da er ihnen keinen Anhaltspunkt geben konnte. Natürlich wußte er, daß nach allem Vorgefallenen ihn nichts mehr, niemals mehr etwas mit Gerda verbinden konnte, daß er Elma gehörte, daß er Elma liebte und mit Elma nun für ewig verbunden war. Und dennoch kreisten heute, und seit Tagen, seit sie ihm diesen überraschenden Brief geschrieben hatte, seine Gedanken immer wieder um die bevorstehende Begegnung.

Morgen um diese Zeit würde alles anders geworden sein. Vielleicht hatte er den Vertrag mit der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft in Händen, oder er hatte endgültig die Jagd um sein Leben aufgegeben. Auch daran dachte er, daß es vielleicht mit seiner Anstellung nichts würde. In manchen Augenblicken stand es sogar für ihn ganz fest, daß es nichts werden würde. Er konnte die Konsequenzen dieses Falles nicht ausdenken. Wie ein drohendes schwarzes Loch lag diese Möglichkeit vor ihm, und er bemühte sich, Gründe zusammenzusuchen, unter denen seine Aussichten sich gut und hoffnungsvoll gruppierten. Wie es aber auch ausfallen mochte, immer stand für den nächsten Morgen dieses Zusammentreffen mit Gerda da. Irgend etwas würde geschehen. Vielleicht ging wirklich alles gut, und man konnte dann zur Erholung noch einige Wochen in Franken herumreisen. Besichtigung von Domen, Schlössern, Sammlungen, wenn es weiter so nieselte wie bisher. Wanderungen, wenn das Wetter gut war. In zehn Tagen spätestens wollte er unter allen Umständen in München zurück sein. Vielleicht war dann schon der Umzug nach Hamburg vorzubereiten. Wer hätte das noch vor zehn Tagen gedacht, daß er in einigen Wochen diese ganze Münchner Misere hinter sich lassen und in Hamburg ein neues Leben beginnen würde!

Ernst Alexander Werneuchen hatte unendlich viel zu bedenken. Er mußte sich zum Beispiel zurechtlegen, wie er den Direktoren seine mangelnde kaufmännische Ausbildung plausibel machen konnte, oder überlegen, wie er Gerda gegenüberzutreten hatte. Und wenn er nicht bedenken wollte, dann kamen die Möglichkeiten und Vorstellungen von allen Seiten auf ihn zugeschossen. Er deckte sich mit seinem Mantel zu und schloß die Augen.

*

Otmar Kamp hatte sich unterdessen noch einmal umgesehen, als der Zug aus der Halle herausfuhr. Dann gab er sich einen Ruck und ging durch den Vorraum. Draußen verglich er seine Uhr, die immer zwei Minuten am Tag vorging, mit der Bahnhofsuhr. Wenn er schnell machte, konnte er noch im Seminar zwei Stunden arbeiten, ehe er hinausfuhr. Er hatte Glück, gerade bog seine Elektrische um die Ecke. Zwei Stunden Arbeit in dem stillen, um diese Jahreszeit noch immer angenehm geheizten Raum, und dann nach Hause in den kleinen Vorort, wo er seit einigen Monaten in Werneuchens Villa wohnte. Eigentlich war das ewige Hinaus- und Hereinfahren unbequem, aber es war schön und ruhig draußen, und außerdem tat er dem verlassenen Werneuchen einen Gefallen. Ihn fesselte das Schicksal dieses unglücklichen Menschen. Er nahm an diesem Schicksal teil, ging darin auf, seit er zufällig und ohne es zu wollen in einem entscheidenden Augenblick in dieses Schicksal eingegriffen hatte.

Es war schon einige Jahre her, seit er die Bekanntschaft Werneuchens gemacht hatte. Kurz nach dem Krieg war die Familie, bestehend aus Ernst Alexander und Frau Gerda, zwei kleinen Jungen und dem Dienstmädchen, von Berlin nach München übergesiedelt. Man hatte die kleine Villa in dem südlichen Vorort erworben. Kamp lernte die Familie kennen, als sie noch im Bahnhofshotel des Vororts wohnten und auf die Möbel warteten. Von Anfang an hatte er, wie alle Bekannten, den Eindruck, daß die Ehe nicht glücklich war, und daß ein Musiker, Adalbert Reuschhagen, Sohn des weltbekannten großen Klaviervirtuosen Ulrich Reuschhagen, hierbei eine gewisse Rolle spielte. Adalbert Reuschhagen war gleichzeitig mit dem Ehepaar von Berlin nach München übergesiedelt und wohnte mit ihnen einige Wochen lang in dem primitiven Hotel zusammen. Bald darauf aber zog er sich von Werneuchens zurück. Man wußte jedoch, daß er in München öfters und in aller Öffentlichkeit mit Frau Gerda zusammentraf. Niemand regte sich darüber auf, auch wenn Reuschhagen nirgends einen sympathischen Eindruck machte. Übrigens sah man den Musiker nur selten und am dritten Ort, und man nahm an, daß Ernst Alexander Werneuchen um diese Freundschaft seiner Frau wußte und sie schweigend duldete. Man zerbrach sich im übrigen nicht viel den Kopf darüber.

Otmar Kamp hatte zunächst gleichmäßig mit beiden Eheleuten verkehrt. Wenn man ihn damals gefragt hätte, ob ihm der Mann oder die Frau sympathischer wäre, hätte er gewiß gesagt, daß ihm Frau Gerda näherstand. Herr Werneuchen konnte, trotz körperlicher Anwesenheit, manchmal wochenlang für alle Bekannten einfach nicht da sein. Man bemerkte ihn nicht neben der temperamentvollen und begabten Frau. Bis er dann auf einmal bei Gelegenheit die Aufmerksamkeit an sich riß, scharfe, sarkastische Bemerkungen machte und eine ganz außergewöhnliche Bildung und Belesenheit auch auf entlegenen wissenschaftlichen Gebieten durchblicken ließ. Wenn man sich in irgendeiner persönlichen oder sachlichen Angelegenheit an ihn wandte, überraschte er durch die Güte und Klugheit seines Wesens. Aber immer sank er von Zeit zu Zeit in sich selbst zurück, und man vergaß ihn wieder.

In wirklich freundschaftliche Beziehungen zu Ernst Alexander trat Kamp erst, als dieser mit seiner Frau bereits in Scheidung lag. Gerda war mit den beiden Knaben zu ihren Eltern nach Berlin übergesiedelt, die Villa war schon verkauft und sollte demnächst geräumt werden. Es war die Zeit, in der Werneuchen anfing, seiner Zukunft mit Besorgnis entgegenzusehen. Er hatte als Hauptmann nach dem Krieg den Abschied genommen. Von Hause aus wohlhabend, verlor er während der Währungskrise den größten Teil seines Vermögens und bewarb sich nun um eine kaufmännische Stellung. Der junge Student, der noch sorglos dahinlebte, nahm an diesem Verfall einer ihm befreundeten Familie den stärksten Anteil. Aber, wie das so kommt, erst ein besonderer Augenblick machte die beiden Männer zu Freunden.

Niemand von denen, die Werneuchens in der letzten Zeit gekannt hatten, zweifelte daran, daß Frau Gerda seit Jahren, wahrscheinlich schon in Berlin, unerlaubte Beziehungen zu diesem unsympathischen, aber gewandten und talentierten Reuschhagen unterhalten hatte. Man brachte die Scheidung, ohne Näheres zu wissen, mit dieser Angelegenheit in Verbindung und faßte die Sache so auf, daß Werneuchen, wahrscheinlich mit Rücksicht auf die Kinder, lange Zeit beide Augen zugedrückt hatte und ihn erst später irgend etwas veranlaßte, die Scheidungsklage einzureichen. Auch Otmar Kamp hatte keine andere Auffassung von der Sache. Der Zufall wollte, daß er es sein mußte, der Werneuchen über Frau Gerda die Augen öffnete.

Eines Tages war der Student mit Werneuchen auf der Straße zusammengetroffen, und sie waren ein Stück Weges miteinander gegangen. Werneuchen brachte seit langer Zeit zum erstenmal die Rede auf seine Frau. Kamp hatte den Eindruck, daß die Ehe sich wieder einrenken würde. Die lange Trennung schien in beiden Gatten das alte Gefühl geweckt zu haben. Sie wechselten bereits freundschaftliche Briefe, und Kamp sah schon im Geiste Frau Gerda mit den Kindern wieder nach München zurückkehren, was ihm nicht unlieb gewesen wäre, da er die Gesellschaft der anregenden Frau gern hatte.

Zufällig kam das Gespräch auf eine lange zurückliegende Gesellschaft, die sehr eigenartig verlaufen war. Kamp erzählte einiges von jenem Abend, weil es witzig und interessant gewesen war. Er tat es lediglich, um Konversation zu machen.

»Ich weiß,« sagte Werneuchen zerstreut, »meine Frau hat mir seinerzeit davon erzählt.«

»Aber Ihre Frau war doch gar nicht dort!« fuhr es unglückseligerweise dem Studenten heraus. Zufällig hatte er Frau Gerda spät nachts, als er eine andere Dame nach Hause begleitete, mit Reuschhagen zusammen gesehen. Es war ihm nicht weiter aufgefallen, da man ja in jenem Kreise ganz allgemein annahm, daß Werneuchen um diese Freundschaft seiner Frau wußte.

Im nächsten Augenblick freilich bereute er seine Äußerung, als er bemerkte, wie Werneuchen kreidebleich wurde. Frau Gerda hatte den Vorwand gebraucht, die Nacht in jener Gesellschaft und bei den Gastgebern verbracht zu haben, und nun stellte sich überraschend die Wahrheit heraus. Kamp konnte nicht mehr zurück und mußte alles sagen, was er wußte.

»Nein!« sagte Werneuchen, »ich glaubte an Gerdas Anständigkeit. Nie ist mir der leiseste Zweifel an ihr gekommen. Wenn ich mich schließlich scheiden lassen wollte, so hatte das ganz andere Gründe.« Erst viel später ließ er sich zu Kamp über diese anderen Gründe aus: es war Angst gewesen, kaum etwas anderes als Angst.

»Ich weiß nicht, wie es zustande kam«, sagte er damals. »Ich konnte das Leben an der Seite dieser Frau nicht mehr aushalten. Mir ging die Luft aus, ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ich mußte nach von ihr befreien. Glauben Sie mir, Kamp, ich wäre bei dieser Frau in einem Jahr tot gewesen. Und so beschloß ich, mich scheiden zu lassen. Aber eine Verfehlung Gerdas hatte ich nie angenommen.«

Bis zu der unseligen Eröffnung hatte er, wie Kamp erst damals erfuhr, alle Schuld auf sich nehmen, seiner Frau die Kinder lassen und für ihren Unterhalt sorgen wollen. Damals glaubte er ja noch wohlhabend zu sein. Jetzt änderte er sein Verhalten. Es war, als ob er sich an Gerda für die Jahre rächen wollte, in denen ihm, wie er sich ausdrückte, die Kehle zugeschnürt war. Von nun an führte er den Prozeß mit schonungsloser Härte weiter.

Merkwürdigerweise ging es seit dieser Zeit mit seinen Vermögensverhältnissen reißend bergab.

Otmar Kamp war seit jener Unterredung der einzige Mensch, an den sich Werneuchen anschloß. Alle seine alten Bekannten nahmen bei der Scheidungsangelegenheit die Partei der Frau, obwohl sie von ihrer Schuld überzeugt waren. Kamp aber lernte damals erst Werneuchen verstehen. Was der ältere Freund ihm über die Gründe seiner Trennung von Gerda mitteilte, ließ ihn seltsame Blicke in Werneuchens Inneres tun. Er hatte ihn für einen etwas ernsten, aber durchaus alltäglichen Menschen gehalten. Kein besonderer Zug war ihm aufgefallen, der nicht als kleine Schrulle sich erklären ließ, und nun auf einmal trat alles in ein merkwürdiges Licht. Niemand hatte etwas von der seltsamen Angst geahnt, die Werneuchen zunächst veranlaßte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Wenn jenes dunkle Gefühl eines drohenden Unglücks wirklich mit dem profanen Wort Angst zu bezeichnen war. Erst als Kamp, bald nach jenem Gespräch, zu Werneuchen hinauszog, da dieser sich scheute, allein in dem abgelegenen Hause zu wohnen, erfuhr er von den inneren Kämpfen, die der Freund bisher still in sich verschlossen hatte. Mit Erstaunen sah der junge Student, daß es das, was man einen alltäglichen Menschen nennt, in Wirklichkeit gar nicht gibt, daß auch das Leben des Unscheinbarsten sich in seltsamen Widersprüchen und Gegensätzen bewegt, daß auch hier Angst und Qual und Hoffnung nahe beieinander liegen.

Kamp hatte Werneuchen eigentlich immer für einen tapferen Menschen gehalten, ja gerade diese Eigenschaft schien ihm am ehesten mit der Person Werneuchens verbunden zu sein. Fast nie sprach der frühere Hauptmann von seinen Kriegserlebnissen, aber es kam doch bei Gelegenheit hier und dort heraus, daß er im Felde über den Durchschnitt tüchtig gewesen war. Vor allem aber schien die Art, wie er den Zusammenbruch seiner Ehe und seines Vermögens ertrug, für Kamp geradezu etwas Heldenhaftes zu haben. Zum erstenmal, als Werneuchen von sich erzählte, erfuhr Kamp, daß Ernst Alexander seit Jahren, sogar seit seiner Jugend, an merkwürdigen Angstzuständen litt. Kleine Angewohnheiten, die Kamp zunächst als pedantische Absonderlichkeiten auffaßte, offenbarten auf einmal ihren Charakter. Werneuchen mußte zum Beispiel seine Briefe stets eigenhändig in den Kasten werfen. Meist trug er sie sogar selbst auf die Post, weil er von der Vorstellung nicht loskam, daß sie sonst verlorengehen würden. Wenn er die Straße überquerte, geschah das stets mit äußerster Vorsicht, die er behutsam zu verbergen suchte. Autos und Elektrischen wich er in weitem Bogen aus, nicht nur so, daß er ihnen aus dem Wege ging, sondern in einer Art, die selbst Böswilligkeit oder besonderes Ungeschick der Lenker bereits einkalkulierte. Selbst wenn er den Vorortzug benutzte, setzte er sich stets in den mittelsten Wagen, weil hier die Gefahr bei einem Eisenbahnunglück am kleinsten sein sollte. Dabei war er wiederum ein waghalsiger Schwimmer und Bergkletterer. Man konnte diese Absonderlichkeiten vielleicht zunächst für Überbleibsel aus dem Kriege halten. Aber sie waren tief in seiner Natur verankert. Ein ganzes System stand hinter ihnen.

»Gefahren, die ich erkenne und denen man mit Mut und Geschicklichkeit begegnen kann, sind für mich keine«, sagte er, wenn er mit Kamp über diese Dinge sprach. »Aber was im Dunkeln lauert und uns unversehens überfällt, davor habe ich Angst und dagegen wende ich alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln an. Ich muß stets so sitzen, daß ich die Tür im Auge behalte. Anders würde sofort jemand hinter mir stehen, ohne daß ich es merkte.

Wir wissen ja gar nicht, ob nicht viele Menschen, vielleicht alle, unter einer solchen Angst leiden, die sich nur verschieden bemerkbar macht. Meinen Vater zum Beispiel glaubte ich gut zu kennen, und doch mußte ich eines Tages sehen, daß ich so gut wie nichts von ihm wußte. Er arbeitete viel und kam vorwärts, aber sein eigentliches Leben war doch der Kampf gegen den Fußnagel seiner großen Zehe, der ständig einzuwachsen drohte. Jeden Morgen arbeitete der alte Herr zehn Minuten lang mit Schere und Feile an dem tückisch sich krümmenden Nagel, und gewiß stand er sein ganzes Leben lang unter der Furcht einer scheußlichen Blutvergiftung oder schmerzlichen Operation, und sein Wohl- oder Schlechtergehen hing weniger von den äußeren Umständen, die wir überschauen konnten, ab als von dem Stand dieses lebenslangen hartnäckigen Kampfes.

Wenn man nur ein bißchen Phantasie hat, muß man überall Anzeichen und Warnungen bemerken. Irgendjemand erzählte mir in meiner Jugend einmal, daß große Doggen sich manchmal gegen ihre Herren wenden und sie zerfleischen sollen. Nachher wurde mir die Gefährlichkeit dieser Tiere oft bestritten. Und dennoch habe ich es nie gewagt, mir eine Dogge zu halten. Nicht weil diese Tiere an sich dem eigenen Herrn gefährlich werden, sondern weil man es mir erzählt hatte. Ich mußte das als Warnung auffassen, und wenn ich diese Warnung mißachtete, hätte meine Dogge sich sicher eines Nachts gegen mich erhoben und mich zerrissen.«

Werneuchen konnte unzählige derartige Beispiele anführen. Merkwürdigerweise sprach er nie von wirklichen Fällen, die sich ereignet hatten, sondern immer nur von Möglichkeiten. Einzelne Fälle könne man gar nicht anführen, pflegte er zu sagen, denn diese entzögen sich ihrer Natur nach der Öffentlichkeit. Man wüßte nichts von ihnen, es handelte sich hier um stille Tragödien, die sich völlig in der Verborgenheit abspielten. »Wenn ein Dachdecker vom Dach fällt, so weiß man ja nicht, ob er nicht sein ganzes Leben lang bereits unter Ahnungen und Anzeichen dieses Unglücksfalles gelitten hat, ob er nicht einen heldenhaften Kampf gegen diese Gefahren seines Berufes führte, die ihn dann schließlich doch übermannten oder auf eine tückische Art überlisteten.«

Werneuchen behauptete allen Ernstes, daß das Schicksal eine gewisse Angst von allen Menschen verlange, mindestens aber von ihm. Man müßte in jeder Beziehung und immer tun, was man nur vermöchte, um jene stets lauernden Gefahren in Schranken zu halten. Die beiden seltsamen Freunde, der entlassene Offizier und der junge Student, saßen oft abends bei derartigen Gesprächen zusammen. Einer oder der andere brachte eine Flasche Wein aus der Stadt mit, und sie saßen in der gemütlichen Ecke von Werneuchens Arbeitszimmer und unterhielten sich über das Unheil, das stets irgendwo lauerte.

»Das Schicksal ist ein Hundefänger«, sagte Werneuchen dann. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Wenigstens gibt es Menschen, die sich vorsehen müssen. Einige können Gelder unterschlagen, ohne daß ihnen etwas geschieht. Andere dürfen sich nicht die geringste Unregelmäßigkeit zuschulden kommen lassen, ohne daß ihr Leben verpfuscht ist. Ihnen wird bei jeder Gelegenheit die Drahtschlinge über den Kopf geworfen.«

Otmar Kamp konnte sich der Stimmung, die von solchen Gesprächen ausging, um so weniger entziehen, als sein Gegenüber ja in der Tat ein Mensch war, dem das Schicksal die Drahtschlinge über den Kopf geworfen hatte. Es überraschte ihn deshalb gar nicht, als an einem dieser Abende Werneuchen ganz ruhig davon sprach, daß er einmal ermordet werden würde. Der Augenblick, da sich der Mörder auf ihn stürze, stehe so deutlich vor ihm, und dieses Bild verfolge ihn seit seiner frühen Jugend mit solchem Vorbedacht, daß er bestimmt mit einem derartigen Ende rechnete. »Vielleicht, wenn ich mein ganzes Leben lang alle Energien aufwende, werde ich diesem entsetzlichen Ende entgehen können. Ich fühle aber ganz genau, daß etwas auf mich wartet und mich vernichten will. Natürlich werden Sie es für Einbildung aufgeregter Nerven halten. Sie täuschen sich indessen. Das menschliche Unterbewußtsein weiß um alles, was noch kommen wird, und manchmal schickt es solche Bilder als Warnungen empor. Manchmal kommen sie freilich auch nur aus einer schlechten Verdauung. Aber überlegen Sie sich nur einmal, wie viele Menschen den oder jenen gern um die Ecke bringen würden. Man will eben morden in dieser besten aller Welten, und von Zeit zu Zeit muß dann eben etwas geschehen, und immer denen, die sowieso schon vom Schicksal verfolgt werden. Das liest sich nachher so leicht in der Zeitung: der oder jener ist ermordet worden. Aber glauben Sie mir, ein solcher Fall kommt niemals so von ungefähr. Die schreckliche Tat beendet immer ein Leben voller Angst und Vorahnungen und ist vielleicht immer eine Erlösung.

Aber Sie brauchen diese Dinge nicht allzu ernst zu nehmen. Vielleicht kommen sie auch bei mir nur von schlechter Verdauung.«

Wenn sich Otmar Kamp an solchen Abenden auch einem unheimlichen Eindruck nicht entziehen konnte, so nahm er diese Gespräche doch wirklich nicht allzu ernst. Er sah täglich, mit welcher Lebenskraft Ernst Alexander sich gegen sein widriges Schicksal wehrte, und gerade in der letzten Zeit besonders tätig und entschlossen. Er bewunderte ihn geradezu. Werneuchens Leben lag in Trümmern. In wenigen Wochen mußte er sein Haus räumen. Aus diesem Erlös waren ihm etwa sechstausend Mark übriggeblieben, das war der Rest seines Vermögens. Außer seiner kärglichen Hauptmannspension besaß er nichts anderes mehr. Dabei hatte er mannigfaltige Verpflichtungen. Kamp sah, daß Werneuchen oft drauf und dran war, zu verzweifeln und alles laufen zu lassen, wie es wollte. Und der Student mußte sich gestehen, daß er in Werneuchens Lage so gehandelt hätte. Vor allem bewunderte er, daß Werneuchen in seiner Lage noch den Mut gefunden hatte, das Schicksal eines jungen Mädchens an sich zu binden. Aber vielleicht war es gerade die Verbindung mit Elma Diepenbroich, die Werneuchen noch aufrechterhielt Ohne sie hätte er sich wahrscheinlich längst eine Kugel durch den Kopf gejagt.

Als sich die Aussicht auf jene Hamburger Stellung bot, war Kamp nicht so hoffnungsfreudig wie Werneuchen gestimmt. Irgend etwas gefiel ihm an der Sache nicht, vielleicht war es die verdächtig hohe Kaution von fünftausend Mark. Werneuchen erklärte ihm die Sache. Die Summe würde natürlich verzinst und sichergestellt, und es wäre auch nichts Ungewöhnliches, eine so hohe Kaution zu fordern. Erstens wollte eine solche Firma es mit einem Menschen in geordneten Verhältnissen zu tun haben und verlange schon aus diesem Grunde eine hohe Kaution. Zweitens könne er, der keine geordnete kaufmännische Ausbildung und keine Erfahrungen hinter sich habe, einzig und allein auf dem Wege über eine solche Kaution eine Stellung erhalten. Es wäre sein Glück, daß er gerade noch dieses Geld hätte. Kamp wunderte sich, daß er diesmal der Mißtrauische und Werneuchen der Hoffnungsvolle war. Ihm leuchtete die Sache nicht recht ein. Wenigstens sorgte er dafür, daß Werneuchen das Geld nicht sofort mit nach Regensburg nahm, sondern mit dem sonstigen kleinen Rest seines Vermögens auf der Bank liegen ließ. Nach einiger Überredung war der Abreisende damit einverstanden, nötigte aber dem Studenten »für alle Fälle« das Scheckbuch mit einem unterschriebenen Blankoscheck auf.

Als Kamp auf der Plattform seiner Elektrischen stand, ging es ihm noch einmal durch den Kopf, daß Werneuchen nicht mehr aus dem Zugfenster herausgesehen hatte und daß es eine schlechte Vorbedeutung für die Reise sein konnte. Kamp hatte gerufen und gewinkt und war dem davongleitenden Zug noch zwanzig Meter gefolgt. Werneuchen aber war unsichtbar geblieben, so, als ob ihn das Leben draußen nichts mehr anginge, als ob er sich schon in eine andere Welt zurückgezogen habe. Das war natürlich nur Einbildung. Oder war es eine Warnung aus dem Unbewußten, wie Werneuchen es nannte? »Vielleicht kommt er nicht mehr zurück!« dachte Kamp noch einmal, als er sich auf der Plattform die Zigarette ansteckte. Er zögerte ein wenig mit dem brennenden Streichholz in der Hand. Dann kämpfte er diesen Gedanken nieder, zündete die Zigarette an und warf das Streichholz mit einer energischen Bewegung fort. »Ach Unsinn!«


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