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Zwölftes Kapitel

Als Kamp allein war, merkte er, wie kalt es geworden war. Das Frösteln füllte ihn ganz aus. Sonst war es leer in ihm. Er wußte nichts und dachte nichts, als er zum Bahnhof ging. Dieser Tag hatte so merkwürdige Schichten übereinandergelegt, daß eine die andere gewissermaßen aufhob. Zuviel war in die letzten vierundzwanzig Stunden hineingepreßt worden, seit Elma ihn gestern angerufen und den Namen Benschs genannt hatte. Wie fern war das jetzt schon!

Das Aufstehen um Mittag, der Besuch bei Berdelow, die Jagd auf Bensch, das Zusammentreffen mit Gerda und Reuschhagen, die Sitzung im Polizeipräsidium und jetzt das merkwürdige Gespräch in der kleinen Weinstube, – wie fern war auch dieses schon! Die Ereignisse waren zu rasch hintereinander gekommen. Etwas im Inneren konnte nicht folgen.

Kamp ging auf den Vorortbahnhof. Als wenn nichts vorgefallen wäre, löste er die Karte mit automatischen Bewegungen. Dieselben Leute stiegen in den Zug, deren Gesichter er nun schon seit vielen Monaten kannte. Nichts hatte sich verändert in der Welt. Nur daß nun nicht, wenn er abends nach Hause kam, Werneuchen am Schreibtisch sitzen und ihn nach seinen Erlebnissen in der Stadt fragen würde. Dieses eine war anders geworden. Werneuchen war tot. War er wirklich tot? Auf einmal mußte der Student sich zwingen, es zu glauben. Nein, er war tot, war ermordet worden! Es war die einfache Konsequenz seines Lebens und seines Wesens. Nach Amerika? Nein, Werneuchen fuhr nicht nach Amerika! Er ließ sich ermorden. Dies war nun einmal seine Art. Er hatte erreicht, was er wollte. »Nun braucht er sich nicht mehr so furchtbar zu quälen!« hatte Elma gesagt.

Während der Fahrt dachte er darüber nach, wie er sich verhalten würde, wenn Werneuchen auf einmal zurückkäme. Denn es konnte doch immer noch sein. Wenn er ihn zum Beispiel jetzt in der Villa vorfinden würde. Er beobachtete sich ganz kalt und scharf dabei, um seinen Empfindungen auf den Grund zu kommen. Kamp war sein Freund gewesen, er hatte als Gast bei ihm gewohnt, wobei es wenig ausmachen konnte, daß er das Seinige zur Bestreitung der Wirtschaft beigetragen hatte. An langen Abenden hatten sie sich endlos ausgesprochen und waren sich sehr nahegekommen. Ja, er mußte immer wieder sagen, daß er Werneuchen liebte, gerade jetzt liebte, wie er ihn vielleicht noch nie geliebt hatte. Er war ihm fast verehrungswürdig geworden, seit der Tod auf seine Ängste und quälenden Einbildungen das Siegel der Wahrheit gedrückt hatte. Jetzt stand er da, zum Urbild der gequälten Kreatur geworden. Und dennoch: er wünschte Werneuchens Rückkehr nicht. Etwas in ihm lehnte sich dagegen auf, daß er zurückkehrte. Die Lebenden wollen nicht mit den Toten und den dem Tode Verfallenen teilen. Sie wollen sie beklagen und beweinen, aber die Toten sollen sich nicht anmaßen, wiederzukommen. Das Leben schließt sich über den Gräbern zusammen. Es ist kein Platz für die Toten da!

Kamp wurde sich ganz klar darüber: wenn Werneuchen zurückkehren sollte, er würde in derselben Stunde sein Haus verlassen und die Partei Gerdas und Elmas in ihrem Kampf gegen seinen Schatten nehmen. Was auch geschehen sein mochte, es war die eine, gemeinsame, es war seine Partei. Die Partei des Lebens gegen das Todgeweihte!

Es war fast Mitternacht, als er nach Hause kam. Die Köchin war noch auf und erwartete ihn. Bisher hatte er über Werneuchens Verschwinden kein Wort mit ihr gesprochen. Als sie in der kleinen Vorderdiele stand, sah er ihr an, daß sie etwas wußte. Vielleicht hatten die vielen Telephongespräche sie stutzig gemacht, vielleicht hatte sie irgendein Wort aufgefangen und den Zusammenhang erraten. Sie fragte ihn sofort nach Werneuchen, aber mit einer Stimme, die die Antwort bereits wußte.

Kamp wollte ihr ausweichen und sagte, daß Ernst Alexander von Regensburg gleich weiter nach Hamburg gefahren wäre. Aber sie blieb stehen und wartete und sah den Studenten mit ihren alten, verlegenen Augen an. Endlich erzählte sie, daß am Nachmittag Herr Müller, der Käufer der Villa, dagewesen wäre und gefragt hätte, wann er endlich einziehen könnte. Herr Müller hatte schon seit Monaten den vollen Kaufpreis bezahlt, und vor mehr als drei Wochen war der letzte Termin abgelaufen, an dem das Haus geräumt werden sollte. Man konnte es ihm nicht verdenken, daß er endlich seine Villa beziehen wollte.

Kamp sagte, daß er morgen selbst gleich an Herrn Müller schreiben würde. Doch die Köchin stand noch immer da und wartete. Sie hatte noch etwas Besonderes auf dem Herzen, was sich bei ihr erst langsam in Worte fassen wollte. Endlich brachte sie es hervor:

»Der Packer Bensch ist im Dorf gesehen worden! – Und Herrn Werneuchen ist etwas zugestoßen! – Alle Leute sagen es. Wenn der Packer Bensch im Ort gewesen ist, ist dem Herrn etwas zugestoßen.«

Kamp fuhr zusammen. Wenn er immer noch einen kleinen Zweifelsrest gehabt hatte, so stellte sich jetzt die Wahrheit heraus, unerbittlich und zweifelsfrei. Es bestätigte sich: Bensch war es gewesen. Die Kellnerin vom Bahnhofshotel hatte ihn erkannt, als er am Freitagabend in die Stadt zurückfuhr. Sie hatte gleich die Polizei holen wollen, aber Bensch war in München im Gedränge verschwunden. Erkannt hätte sie ihn aber genau, wußte Auguste zu berichten, und auch andere Leute wollten ihn gesehen haben.

Das Schlimme wäre nur, daß er hier im Hause gewesen sei, und Herr Kamp solle nicht leugnen: es wäre der Packer Bensch gewesen, der am Freitagnachmittag hier in der Stube auf ihn gewartet habe.

»Aber der Herr Kamp und ich haben ja nicht gewußt, wer es ist!«

Kamp blieb nichts übrig, als ihr das Notwendigste mitzuteilen. Die alte Vertraute der Familie Werneuchen hörte den Bericht schweigend an. Sie rührte sich nicht dabei, nur an dem Zucken ihrer Lippen konnte man ihre Aufregung erkennen. Sie wollte sofort an die Eltern nach Mainz telephonieren.

»O Gott! O Gott! Was meinen Sie, wie die an ihrem Jungen hängen! So feine Leute sind das!« Und reich wären sie früher gewesen, und so stolz auf ihren Ernst Alexander, als er noch Offizier war und immer mehr Orden bekam. Und nun wäre alles so anders gekommen. Das ganze Geld wäre weg, und dann die Scheidung und jetzt dies noch! »Glauben Sie mir, Herr Kamp, wir werden bald die Polizei im Hause haben!«

Die Polizei empfand sie fast als das Schlimmste. An diesem Gedanken kletterte ihre Verzweiflung aus ihrem Herzen bis zum Munde empor und machte sich endlich in lautem Jammern Luft. Kamp beruhigte sie, so gut er konnte. Es wäre alles geschehen, um Licht in die Sache zu bringen, und man könnte ja auch noch gar nichts sagen.

»Mein Gott! Mein Gott!« rief sie einmal über das andere und stieg heulend und kopfschüttelnd die Treppe in ihre Kammer empor.

Als Kamp allein war, setzte er sich an den Schreibtisch. Obwohl er sich vor Müdigkeit kaum rühren konnte, war es ihm ganz unmöglich, an Schlafen zu denken. Es fiel ihm ein, wie er vor zwölf Stunden gegen Mittag auf dem gleichen Stuhl gesessen hatte. Da lag noch vom vorigen Abend das aufgeschlagene Buch mit den Exzerpten. Bis zu diesem Wort war er gekommen, als Elma ihn angerufen hatte. Er schlug das Buch zu. Es würde lange dauern, bis er wieder an seine Arbeit denken konnte.

Draußen bauschten sich die Kronen der Kastanien gegen den Himmel. Besonders den Baum, der dicht vor dem Fenster stand, sah er ganz deutlich in dem Gewirr seiner nackten Äste mit den Verzweigungen der strichdünnen Linien. Ein Gehirn, das der Student in seinem überreizten Dämmerzustand wie sein eigenes schmerzhaft in allen Nerven und Adern spürte. Er drehte die Lampe an, nur damit dieses seltsame Gebilde aus präparierten Nervensträngen ins Dunkel zurücktauchte.

Morgen würde man diesen Schreibtisch, an dem er jetzt saß, öffnen, und alle geheimsten Aufzeichnungen Werneuchens, die darin liegen mochten, wanderten zu den Akten und wurden Objekt einer lieblosen Durchforschung. Kamp mußte daran denken, wie er dem Kommissar versprochen hatte, alle Sachen bis morgen unberührt zu lassen. Vielleicht war es gerade dieses Versprechen, das seine Hände nach dem Schreibtisch greifen ließ. Er konnte die Gedanken nicht von der Schublade abbringen. Ganz leise stieg der Plan in ihm auf, wenigstens die obere Lade, in der Werneuchen seine eigenhändigen Aufzeichnungen zu bewahren pflegte, zu öffnen, bevor die Hände des Kommissars in diesen Geheimnissen wühlten. Vielleicht, daß sich hier ganz neue Zusammenhänge offenbarten? Er dachte ja nicht daran, etwas zu unterschlagen. Er redete sich sogar ein, daß es seine Pflicht war, durch eine schnelle Durchsicht den Gang der Untersuchung zu beschleunigen. Niemand als er konnte rasch Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Dennoch spürte er ein prickelndes Grauen wie vor einer verbotenen Tat und zugleich das magische Locken des Geheimnisses. Er sah Werneuchen vor sich, wie er nach jedem wichtigen Ereignis stundenlang am Schreibtisch gesessen hatte, um Eintragungen zu machen. Welche seltsamen Bekenntnisse mochten hier niedergelegt sein? Es reizte ihn plötzlich, dem Freund irgendein Geheimnis zu entlocken, das hier vielleicht hinter dem kleinen Schloß verborgen lag. Einmal ganz tief in ihn hineinzublicken, auf den Grund seiner Seele zu schauen. Es war ihm fast sicher, daß sich in diesem verschlossenen Fach etwas finden mußte.

Den Schlüssel hatte er nicht. Ernst Alexander pflegte ihn stets bei sich zu tragen. Kamp brauchte irgendein Instrument, einen Schraubenzieher oder ein Stemmeisen. Er konnte schlimmstenfalls dem Kommissar morgen gestehen, daß er sich an dem Schreibtisch versucht hätte. In den Verdacht, einen wichtigen Fund zu unterschlagen, konnte er doch wohl kaum geraten, sonst hätte ihn Leuthold schon gestern hinausbegleitet und die Villa versiegelt.

Vielleicht war es doch besser, vorher die Fensterläden zu schließen, damit man ihn nicht etwa von draußen beobachtete, wie er den Schreibtisch aufbrach. Und konnte nicht vielleicht sogar Bensch draußen stehen und auf ihn aufpassen? Er stürzte unter diesem Gedanken fast ans Fenster, um es zu schließen. Als er sich gegen neugierige Blicke abgesperrt hatte, versuchte er zunächst seine eigenen Schlüssel. Dabei hielt er mit der Linken die Schreibtischlampe so, daß sie das Schloß beschien. Auf einmal stutzte er. Es war unverkennbar, daß man angefangen hatte, das Schloß aufzubrechen. Vielleicht hatte Bensch am Freitag, als er in diesem Zimmer über zwei Stunden allein war, die Schublade einer Durchsicht unterziehen wollen. Vielleicht war ihm dieses Vorhaben dann doch zu gewagt oder zu unergiebig vorgekommen, oder er war durch Kamps Eintritt gestört worden. Kamp wunderte sich, daß er es erst jetzt bemerkte. Aber wie sollte er auch darauf kommen, an einem fremden Schreibtisch das Schloß zu untersuchen, selbst wenn er stundenlang davorsaß und arbeitete? Er brauchte nur noch zwei Schrauben zu lösen, und das Schloß war bequem herauszunehmen. Er benutzte das Taschenmesser. In einer Minute hatte er das Fach aufgezogen.

Mit einem Blick voller Spannung sah er in die Schublade hinein. »Ernst Alexander Werneuchen, du kannst dich nicht dagegen wehren, daß ich jetzt alle deine Tagebücher, Briefe und Aufzeichnungen herausnehme. Du liegst irgendwo in einem Winkel von Regensburg oder auf dem Grund der Donau, und ich wühle in deinen Geheimnissen!«

Kamp fühlte, wie fremd ihm der Freund seit seiner Unterredung mit Elma geworden war. Er konnte den Triumph der Überlegenheit nicht unterdrücken, als er die Briefe und Hefte in der Schublade sorglich geordnet sah und nun in diese Ordnung hineingriff.

Zuerst suchte er nach irgendwelchen Zeugnissen, die über die Firma und die gepflogenen Unterhandlungen Aufschluß geben konnten. Es war nichts vorhanden. Diese Briefe hätten gleich vornean liegen müssen. Werneuchen hatte sie also beim Wegfahren zu sich gesteckt. Vielleicht war es nun nie mehr möglich, die Firma, mit der Werneuchen verhandelt hatte, herauszubekommen. Falls es sich nicht doch um Berdelow & Hahn handelte, was ja immerhin möglich war, so wenig Kamp selbst daran zu glauben vermochte.

Auch ein Heft mit Adressen sah er durch. Werneuchen hatte es vor vielen Jahren angelegt und ständig weitergeführt. Unter dem Buchstaben B stand die Firma Berdelow & Hahn verzeichnet. Diese Eintragung stammte aber sicher noch aus der Zeit seiner dortigen Anstellung. Er flog das Heftchen durch, teils um einen Blick über alle Bekannten Werneuchens zu werfen und womöglich einen Anhalt zu gewinnen, teils weil ihm bei den meisten Namen Unterhaltungen und Situationen einfielen und das Leben Werneuchens sich in diesen Adressen noch einmal in Kürze überschauen ließ. Alte Berliner Bekannte, von denen er gehört hatte, und neue aus der Münchener Zeit standen darin. Reuschhagen war mit einer Berliner Adresse notiert, die dann ausgestrichen und durch die Lindwurmstraße in München ersetzt war.

Den Studenten durchfuhr es. Selbstverständlich! Reuschhagen wohnte ja seit langer Zeit in der Lindwurmstraße. Es war also ganz natürlich, wenn er mit Frau Gerda in jenem kleinen Café zusammensaß. Sicherlich hatten sich die beiden von jeher dort getroffen.

Auch Gerdas Berliner Adresse war in dem Heft notiert. Werneuchen hielt auf Ordnung. Selbst Adressen, die er genau kannte, trug er ein. Nur eine Adresse, die auf die gesuchte Firma deuten konnte, war nicht vorhanden. Er hatte sie sich vorläufig wohl nur ins Notizbuch geschrieben.

Daneben gab es Hefte mit Abrechnungen. Ein richtiges Monatsbudget war auf einem Zettel aufgestellt. Briefe von Gerda aus der Zeit ihres Prozesses, Schreiben des Rechtsanwalts, deren Inhalt Kamp kannte, allerhand belanglose Briefe, wie sie jedermann zu erhalten pflegt.

Das alles lag im Vordergrund. Kamp ging es genau durch, obwohl er hier nichts Wichtiges mehr zu entdecken hoffte. Er sah die zusammengelegten Briefstöße an. Auf einmal stockte er. Da lagen zwei Briefe von Gerda aus der allerletzten Zeit Er hatte nicht gewußt, daß Werneuchen mit seiner Frau noch korrespondierte. Er fühlte, daß es ihm heiß über den Rücken schoß.

Er entfaltete die Blätter und begann zu lesen. Gerda beschwor ihren Mann, ihm eine Unterredung zu gewähren. Wo immer er es wünschte, würde sie hinkommen, um ihn zu sprechen. Sie müsse ihn sprechen! Aber niemand – dieses Wort war dreimal unterstrichen – niemand dürfe von dieser Unterredung etwas wissen, nicht einmal sein Vertrauter Otmar Kamp!

Dann der zweite Brief! Werneuchen mußte seine Frau nach Regensburg bestellt haben. Sie schrieb den Zug, mit dem sie eintreffen wollte. Und wiederum die Beschwörung, keinem Menschen etwas von dieser Regensburger Verabredung zu sagen! »Du weißt nicht, Du kannst nicht ahnen, was auf dem Spiele steht! Ich freue mich ja so, Dich einmal wiederzusehen und alles mit Dir zu besprechen. Glaube mir, Du wirst ein ganz anderes Bild von mir und von allem bekommen. Aber schweige gegen jedermann!«

Kamp las die Briefe immer wieder. Was hatte das zu bedeuten? Gerda war in Regensburg gewesen! Am Donnerstagabend war Werneuchen dort eingetroffen. Gerda wollte am Freitag früh mit dem Berliner Zug kommen. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag war Werneuchen verschwunden! Sie hatte ihn in die entlegene Stadt gelockt, oder zum mindesten hatte sie, einzig und allein sie, gewußt, daß er dort sein würde. War sie wirklich erst am Freitag früh gekommen oder hatte sie ihn vielleicht schon am vorhergehenden Abend belauert oder belauern lassen? Das waren Fragen von höchster Wichtigkeit. Aber nein! das waren keine Fragen mehr! Es war klar, daß sie mit Werneuchens Verschwinden im Zusammenhang stand. Hier, die Briefe waren der Beweis. Er las sie zum fünften oder sechsten Male durch.

Mit welcher teuflischen Berechnung hatte sie den Mann zu der Begegnung überredet! Sie hatte nicht geschrieben, was sie ihm sagen wollte, hatte seine Neugier angestachelt, alles ins Ungewisse getaucht. Daraufhin mußte er kommen! Kamp war erschlagen von ihrer Tücke. Was bedeutete jetzt Berdelow und die Vorladung des Finanzamts! Das war alles Unsinn! Ein Leim, auf den die Kriminalisten kriechen mochten! Gerda hatte es getan, und er hatte die Beweise in der Hand.

Lange saß er vor den Briefen, sie immer wieder betrachtend, umwendend, lesend. Nun brauchte er nichts anderes mehr zu durchstöbern. Diese Briefe waren das Ausschlaggebende. Als er sich über alles klar war, legte er sie in die Lade zurück, nahm sie noch einmal hervor, legte sie wieder zurück. Klar? Eigentlich war er sich über nichts klar. Was wollte er tun? Dem Kommissar morgen diese Briefe geben? Er fürchtete sich vor diesem Augenblick. Hatte nicht Elma gesagt, daß Gerda recht daran getan hatte, Werneuchen ermorden zu lassen? Hatte sie nicht wirklich recht getan? Was wußte er von den beiden Menschen? Sollte er wieder, zum zweitenmal, eingreifen? Konnte er die Verantwortung tragen? Konnte er es verantworten, diese Briefe beiseite zu schaffen? Nichts war ihm klar!

Er wollte die Briefe hineinlegen, die Schublade schließen und schlafen gehen, als er ganz hinten in der Lade drei Hefte in Glanzleinendeckel erblickte. Er griff danach in der Erwartung, daß es Tagebücher oder Aufzeichnungen persönlicher Art wären. Vielleicht brachten sie ihn in seinen Entschlüssen weiter.

Es war lange nach ein Uhr, als Kamp diese Hefte in die Hand nahm, aber er verspürte keine Müdigkeit mehr. Er überlegte sich, daß er gut zehn Stunden Zeit hatte, ehe der Kommissar hinauskommen würde. Bis dahin mußte er einen Entschluß gefaßt haben.

Er schlug die Hefte auf und war enttäuscht. Sie waren kaum zu einem Drittel mit Werneuchens kleiner nervöser Handschrift vollgeschrieben. Die Lektüre würde also nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Mit wenigen Blicken konnte er sich vergewissern, in welcher Zeit die Niederschrift vorgenommen war. Das erste Heft stammte aus jenen Tagen, da der Scheidungsprozeß die schärfsten Formen angenommen hatte. Das zweite Heft war begonnen worden, als Werneuchen durch das Wiederauftauchen des Packers in Erregung versetzt war. Das dritte Heft stammte aus den allerletzten Wochen und enthielt nur kurze Eintragungen über Elma, die nichts Neues sagten.

Dieses letzte Heft schob er nach kurzem Überfliegen der Seiten zurück, die anderen legte er zur Lektüre umständlich vor sich hin. Dann setzte er sich bequem in den Sessel und stellte die Lampe zurecht.


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