Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Das Auto hielt in der Ettstraße vor dem Polizeipräsidium. Kamp wollte bezahlen, aber der Wachtmeister Neumann ließ es nicht zu.

»O bitte, nein! Das ist meine Sache!«

Dem Studenten schien das ein schlechtes Vorzeichen zu sein. Man behandelte sie wirklich fast wie Gefangene.

Sie gingen die Treppe hinauf in Leutholds Büro. Sofort fing das furchtbare Ereignis sie wieder ein und schlug sie in seinen Bann. Kamp spürte das deutlich. Durch die vielfachen menschlichen Verwicklungen, durch seinen Kampf um Elma, das Zusammentreffen mit Gerda, war die Ermordung selbst fast in den Hintergrund gedrängt worden, gerade noch ein ferner Ausgangspunkt zu neuen, sich überstürzenden Begebnissen. Vor das tragische Ende Werneuchens hatten sich die Tragödien Elmas and Gerdas geschoben.

In diesem Raum war es sogleich wieder anders. Da lag auf dem breiten gelben Schreibtisch jenes Tagebuch Werneuchens, in dem die unheimliche Gestalt Benschs geisterte. Da lagen die soeben erst angekommenen Lichtbilder von der aufgefundenen Leiche. Ein Bild des aufgetriebenen Halses, an dem man deutlich die Würggriffe des Mörders als dunkle Flecken erkannte. Eine Aufnahme der Stichwunde, die das Wasser aufgetrieben hatte, so daß man den Todesweg des Messers bis in das Herz hinein zu verfolgen glauben konnte.

Leuthold, der gerade mit einem Beamten im Flüsterton sprach, grüßte die Eintretenden mit einer kurzen Handbewegung, die zugleich zur Besichtigung der Morddokumente einlud.

Gerda kehrte sich mit einem Ausdruck des Abscheus von den Bildern ab. Kamp nahm sie zur Hand und betrachtete sie. Das also war jetzt Werneuchen! Er sah sich wieder neben dem Zug herlaufen, der die Bahnhofshalle verließ, und vergeblich nach dem abfahrenden Freund rufen und winken. Der hatte sich von ihm und der Welt zurückgezogen, war schon im Bannkreis seines Endes, machte sich schon bereit, die Todeswunde und den Würggriff zu empfangen. Erst fünf Tage war das alles her!

Er warf einen Blick zu Gerda hinüber. Die hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, den gleichen, auf dem Elma am Tage vorher gesessen hatte, und preßte das Taschentuch gegen die Augen. Vielleicht wollte sie die furchtbaren Bilder, die beim Anblick der Photographien in ihr aufgestiegen waren, niederringen.

Wachtmeister Neumann, wieder ganz Untergebener, stand wie abwesend in einer Ecke und schien eine kriminalistische Tabelle an der Wand zu studieren.

Endlich hatte der Kommissar das Gespräch mit dem Beamten beendet und wandte sich den Neuangekommenen zu. Sein Gesicht hatte im Augenblick nicht das Eiserne, Strenge, als wenn er vor einem Entschluß stand, sondern eher etwas Weiches, Verbindliches.

»Nein, der hat keinen Verdacht gegen uns!« dachte Kamp befriedigt

Ein Händedruck für Gerda drückte Beileid und Mitgefühl aus.

»Es ist schön, gnädige Frau, daß Sie gleich gekommen sind. Eigentlich hätte ich Sie eine Stunde früher erwartet. O bitte, das soll kein Vorwurf sein, sondern eine Entschuldigung, weil ich nun noch einmal Herrn Berdelow, der, wie Sie wissen, im Verdachte der Anstiftung oder Mittäterschaft steht, hierherbestellt habe. Er wird gleich vorgeführt werden. Wenn Sie sich die kurze Verhandlung mit ihm anhören wollen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Sonst müßte ich Sie in ein anderes Zimmer bitten.«

Aber Gerda wollte bleiben.

»Sind Sie stark genug, den vermeintlichen Anstifter zu sehen, gnädige Frau? Nun, dann bitte! Tja, wie das alles gekommen ist. Aber ich hoffe, daß die Tat bald ihre Sühne finden wird.«

»Hoffentlich!« sagte Gerda wie geistesabwesend. »Haben Sie sonst noch Ansprüche gegen mich? Ich wollte eigentlich übermorgen nach Berlin zurückfahren. Oder brauchen Sie mich noch?«

»Ich bestimmt nicht, gnädige Frau. Aber ich habe nicht darüber zu befinden. Das hier ist ja nur die polizeiliche Ermittlung. Heute abend gehen die Akten zu dem Untersuchungsrichter. Der wird Ihnen dann am besten sagen, ob er Sie noch braucht – Einen Augenblick, gnädige Frau!«

Die Tür öffnete sich, und Herr Berdelow wurde von zwei Polizisten hereingeführt. Er war noch in seinem gewöhnlichen Anzug, der ein geschwollener Protest gegen die polizeiliche Bewachung zu sein schien. Sein erster Blick fiel auf den Studenten.

»Da ist er!« rief er und zeigte auf Kamp. »Dieser Herr da hat den ganzen Unfug angerichtet. Ich protestiere gegen meine Verhaftung. Herr Werneuchen ist ein Bankrotteur und ins Ausland geflohen!«

»Bitte!« sagte der Kommissar und wies ihm die Bilder auf dem Tisch.

Berdelow faßte die Bilder ins Auge.

»Verflixt! Also doch!« rief er aus und prallte zurück.

Dies war wohl der Augenblick, auf den es dem Kommissar hauptsächlich ankam. Kamp sah, wie Leuthold den Verhafteten scharf beobachtete. Aber Berdelow war entweder unschuldig oder ein ganz raffinierter Verbrecher. Sein Zurückbeben vor den Bildern war derart echte Überraschung und reines Entsetzen vor etwas Gräßlichem, daß Kamp auf seine Unschuld hätte schwören mögen.

»Erkennen Sie den Toten?« fragte Leuthold.

Selbstverständlich!«

Gerda stieß einen leichten Schrei aus, faßte sich aber sofort und saß wieder still auf ihrem Stuhl, das Taschentuch gegen die Augen gepreßt.

»Herr Berdelow, heute abend gehen die Akten zu dem Untersuchungsrichter. Ich habe dann mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu tun und wünsche Ihnen, daß sich Ihre gänzliche Unschuld in Bälde herausstellt Aber Sie müssen mir zugestehen, daß sich starke Verdachtsmomente gegen Sie richten.«

»Sie selbst, Herr, richten sich gegen mich, und nichts anderes!« entgegnete Herr Berdelow. »Mein Verteidiger wird schon die nötigen Schritte tun.«

»Beantworten Sie mir noch eine Frage, Herr Berdelow. Herr Werneuchen hatte sich doch um die von Ihnen ausgeschriebene Stelle eines Propagandaleiters beworben. Sämtliche Bewerbungsschreiben – es waren einige hundert – befanden sich in einer Mappe.«

»So?« sagte Herr Berdelow. »Ich jedenfalls habe sie nicht aufgehoben. Meinetwegen gehörte das ganze Zeugs in den Papierkorb, nachdem ich Herrn Bötticher ausgesucht hatte.«

»Verzeihen Sie, Herr Berdelow, das ist doch eigentlich nicht kaufmännisch gedacht. Dieser Herr Bötticher, den Sie dann engagiert haben, konnte erkranken. Ja, ich habe ihn sogar im Verdacht, daß er bald in ähnlicher Weise erkrankt wäre wie Herr Werneuchen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« brauste Herr Berdelow auf.

»Ich gebe damit meiner Befürchtung Ausdruck, daß die Herren, die sich um eine Anstellung bei Ihnen bewerben und über die nötige Kaution verfügen, in Lebensgefahr zu schweben scheinen, Herr Berdelow. Woher das kommt, ist eben hier zu untersuchen.«

»Sie glauben also, daß auch Herr Bötticher bald photographiert auf diesem Tisch gelegen hätte.«

»Ich fürchte es, Herr Berdelow.«

»Hören Sie!«

»Nein, ich höre nicht, ich frage. Ich komme auf den Ausgangspunkt zurück. Ein guter Kaufmann vernichtet keine Bewerbungsschreiben. Wenigstens nicht sofort. Damit er nämlich, wie Sie natürlich ganz genau wissen, wieder einmal bei Gelegenheit auf diese Bewerbungen zurückgreifen kann. Sie haben sie ja auch nicht vernichtet, sondern schön in einer Mappe aufgehoben. Trotzdem wollen Sie mir weismachen, daß Sie sich um die Schreiben gar nicht gekümmert hätten. Das ist doch ein Widerspruch, der deutlich in eine bestimmte Richtung weist«

»Na, erlauben Sie mall«

»Aber noch weiter! Alle diese Schreiben sind sorgfältig aufgehoben. Nur ausgerechnet das von Herrn Werneuchen befindet sich nicht in der Sammlung. Sie wollten also das Dokument, das nach außen hin Ihre weitere Verbindung mit Herrn Werneuchen dartun konnte, aus der Welt schaffen. Sie wollten, daß Sie, wenn nachher jemand bei Ihnen nach Herrn Werneuchen fragt, die Mappe aufschlagen können und sagen: Herr Werneuchen? Nein! Der hat sich gar nicht bei mir gemeldet!«

»Einmal soll ich die Dinger aufheben, ein andermal soll ich sie nicht aufheben. Sie selbst machen Widersprüche, Herr Kommissar, und niemand anders. Werneuchens Brief habe ich nicht aufgehoben, weil ich mit dem nichts mehr zu tun haben wollte. Ich habe den Wisch zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen. Und die anderen Schreiben mag dann das Fräulein Liedtke aufgehoben haben. So ist es. Ich ärgerte mich, daß mir hier wieder dieser Herr Werneuchen in die Quere kam. An etwas anderes habe ich überhaupt nicht gedacht!«

Kamp kam die ganze Verhandlung genau so vor wie sein eigenes Gespräch, das er mit Herrn Berdelow hatte. Man suchte nach Rätseln und Widersprüchen, wo keine vorhanden waren.

»Wo ist das Bewerbungsschreiben von Herrn Werneuchen geblieben?« fragte der Kommissar weiter.

Herr Berdelow zuckte die Achseln. »Weiß ich? Ich habe es auf die Erde geworfen!«

»Hier ist es!« sagte Leuthold triumphierend und zeigte den Brief vor. »Und wo war es? Fräulein Liedtke hat es sorgfältig ausgeplättet und bewahrt. Aber abseits der übrigen Schreiben.«

»Da müssen Sie Fräulein Liedtke fragen. Ich weiß nichts darüber.«

»Fräulein Liedtke zu fragen, ist mir leider unmöglich. Nun noch etwas: Als Herr Kamp zu Ihnen kam, um sich wegen Herrn Werneuchen zu erkundigen, weshalb haben Sie ihm da nichts von der Bewerbung Werneuchens gesagt?«

Herr Berdelow stutzte.

»Sehen Sie,« sagte er freundlich, »das ist nun wirklich etwas, wo Sie einhaken können. Weshalb habe ich eigentlich Herrn Kamp nichts davon gesagt? Ich hätte es ihm doch ruhig sagen können? Aber zuerst schoß mir so etwas durch den Kopf: sage ihm nichts davon! Und dann kamen wir nicht mehr darauf zurück. Das ist alles.«

»Das ist eine merkwürdige Begründung!«

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen, Herr Kommissar?«

»Nein, bitte hier das Protokoll zu unterschreiben.«

Er las Herrn Berdelow seine Aussage im gedämpften Ton vor.

Wozu war das alles? dachte Kamp. Man mußte doch sehen, daß der Fabrikant mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte. Vielleicht hatte die flüchtige Sekretärin ihre Hand im Spiele, aber Herr Berdelow selbst wußte von nichts. Überhaupt schien ihm vor den Bildern des Toten, die da auf dem Tisch lagen, die Frage nach dem Anstifter höchst nebensächlich. Da lag irgendwo in Regensburg der Ermordete aufgebahrt, mit der Wunde im Herzen, die ihm von demselben Ungetüm beigebracht worden war, vor dem er sich Jahre hindurch gefürchtet hatte. Angesichts dieser Wirklichkeit erschien es ihm abgeschmackt, daß hier Protokolle aufgesetzt und unterschrieben wurden. Wie hatte er nur selber noch vor wenigen Stunden die Verhaftung Berdelows wünschen können? Das war alles Theater um das wirkliche Trauerspiel herum. Er mußte fast lächeln, wenn er sah, wie wichtig der Kommissar diesen dicken, rotköpfigen Fabrikanten nahm.

Zufällig trafen sich in diesem Augenblick Kamps Augen mit denen des Wachtmeisters Neumann, der noch immer still im hintersten Winkel des Zimmers stand. Vielleicht hatte der Student unwillkürlich nach Neumann hingesehen. In dessen Blick glaubte er dieselbe Auffassung der Lage zu sehen, und es war ihm sogar, als hätte der Wachtmeister ihm kurz zugenickt oder doch zunicken wollen und sich im letzten Augenblick zurückgehalten. Diese schnelle Bewegung erschien ihm wichtiger als das ganze Verhör Berdelows. Auf einmal wußte er, daß der Wachtmeister etwas im Schilde führte. Was konnte das sein? Wenn Neumann überzeugt war, daß Berdelow nicht schuldig war, auf wen konnte sein Verdacht sich lenken? Mit einem Schlage waren seine eigenen Befürchtungen wieder da. Neumann hatte die Tagebücher und Gerdas Briefe bei ihm gefunden!

Ganz sicher, der Wachtmeister wußte etwas, was der Kommissar noch nicht wußte. Hatte er Kamp oder Gerda oder beide im Verdacht? Trug er die versteckten Schriftstücke vielleicht schon in seiner Aktentasche? Lagen sie nicht mehr unter den Kollegheften in der ausgeräumten Wohnstube? Weshalb hatte Kamp nicht gleich nachgesehen? Als die Kriminalisten die Villa verließen, hätte es sein Erstes sein müssen, hinzustürzen und sich von dem Vorhandensein der Schriftstücke zu vergewissern. Es war eine unglaubliche Unvorsichtigkeit, daß er das unterlassen hatte. Im nächsten Augenblick zog Neumann sie vielleicht hervor und überreichte sie dem Kommissar. Kamps Einverständnis mit der im höchsten Grade belasteten Frau war dann offensichtlich. Im Augenblick machte er sich klar, daß sich auch gegen ihn Verdachtsgründe in Hülle und Fülle anführen ließen. Aus seiner »Liebe« zu Elma zum Beispiel! Und sogar aus dem Besuch Benschs, dem er doch schließlich die fünftausend Mark in die Hände gespielt hatte.

Er konnte nicht verhindern, daß er bleich wurde. Jedenfalls schien es ihm so.

Das alles dauerte nur wenige Sekunden. Die beiden Polizisten hatten Berdelow noch nicht abgeführt. Es hatte sich fast noch nichts verändert, seit Kamps Gedanken ihren Galopp angeschlagen hatten. Leuthold saß noch immer am Schreibtisch über dem Protokoll. Gerda hielt sich noch immer das Taschentuch vor die Augen. Da pochte es plötzlich an die Tür.

Alle erschraken. Man sah es ihren Gesichtern an. Denn was jetzt hereintrat, mußte irgendwie überraschend sein bei der Zuspitzung der Angelegenheit. Was aber erschien, war ein kleines rothaariges Männchen mit Zwickelbart und goldener Brille und einem baumwollenen Regenschirm unter dem Arm.

»Sie wünschen?« fragte Leuthold.

»Entschuldigen Sie!« sagte das Männchen im reinsten Sächsisch. »Ist hier das Zimmer, wo der Mord an Herrn Werneuchen bearbeitet wird?«

Das Auftreten des Mannes in diesem Augenblick, wo man etwas ganz Fürchterliches erwartet hatte, war eigentlich sehr komisch, und doch lachte niemand. Auch in dieser absonderlichen Spießergestalt vermutete man etwas Überraschendes. Das Zimmer war schon so voll, daß der Eintretende nur mühsam Platz fand. Zum Unglück war noch seine Brille angelaufen und mußte erst geputzt werden.

»Jawohl!« antwortete Leuthold gespannt. Selbst Gerda hatte das Taschentuch von den Augen genommen und starrte zur Tür.

»Ich bin Sie nämlich der Direktor Goldschmidt von der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft!« sagte der Mann und reichte dem Kommissar seinen Paß und die Visitenkarte hinüber.

»Na, da haben wir's!« platzte Berdelow los. »Endlich kommt Vernunft in die Sache.«

Das Gesicht des Kommissars wurde wieder eisig.

»Nehmen Sie Platz, Herr Goldschmidt«, sagte er. »Sie sind also der Herr, mit dem der Ermordete in Regensburg kurz vor der Tat über eine Anstellung verhandelt hat?«

»Na, nach der Tat nicht!« wieherte Berdelow los, dessen gute Laune durch den Eintritt des Direktors sichtlich gestiegen war. Er bekam einen Ordnungsruf.

»Lassen Sie mich doch gleich nochmal verhaften, Herr Kommissar! Na, dann schießen Sie mal los, Herr Goldschmidt!«

Die Worte hatten bei der allgemeinen Spannung eine so wohltuend befreiende Wirkung, daß der Kommissar nichts mehr einwandte.

»Bitte, Herr Goldschmidt!« sagte er nur.

Aller Augen hingen an dem Männchen. Nur Wachtmeister Neumann schien in seiner Ecke ein wenig zu lächeln.

Herr Goldschmidt erzählte, wie er oder seine Firma in einigen größeren Zeitungen Deutschlands eine Anzeige aufgegeben hatte, um für die Norddeutsche Im- und Exportgenossenschaft einen Propagandaleiter zu suchen. Unter einigen hundert Bewerbern hatte man die besten herausgesucht, darunter Werneuchen. Goldschmidt und sein Mitdirektor Erkner befanden sich, wie sehr häufig, auf einer Geschäftsreise durch Süddeutschland. Da man München diesmal zunächst nicht berühren wollte, hatte man Werneuchen nach Regensburg zu einer Unterredung bestellt. Goldschmidt wollte zuerst im Parkhotel absteigen, wohin er auch Werneuchen bestellt hatte. Dann war er aber doch in den »Grünen Baum« gegangen und hatte für Werneuchen im Parkhotel die Mitteilung gelassen, daß dieser ihm nachkommen sollte. Kollege Erkner hingegen wohnte bei Bekannten in der Wilhelmstraße. An dem Abend der Unterredung mit Werneuchen hatte Kollege Erkner etwas anderes vor, und so verhandelte Herr Goldschmidt allein mit Werneuchen im Restaurant des »Grünen Baums«. Werneuchen machte auf Herrn Goldschmidt den besten Eindruck. Da die Anstellung von dem Hamburger Generaldirektor abhing, konnte er ihm noch keine bindende Zusage machen, aber er konnte ihm das Engagement als höchstwahrscheinlich in Aussicht stellen. Goldschmidt selbst riet dann im Laufe des Gesprächs dazu, am Abend des nächsten Tages, also am Freitag, mit ihm nach Hamburg zu fahren, dort alles mit dem Generaldirektor festzumachen und sich die Kaution nach dorthin nachkommen zu lassen. Da Direktor Erkner nun doch noch für ein oder zwei Tage nach München fahren sollte, konnte er das Geld gleich abholen und mitbringen. Im Beisein Goldschmidts schrieb dann Werneuchen jenen Brief, den der Packer Bensch bei Kamp ablieferte.

Zunächst wollte Werneuchen diesen Brief noch nach der Wilhelmstraße bringen, wo Direktor Erkner wohnte. Aber er hätte ihn dort nicht angetroffen, da er im Theater war. So beschloß Werneuchen, den Brief am nächsten Morgen Herrn Erkner auf dem Bahnhof persönlich zu übergeben und ihn zugleich im Namen Goldschmidts darum zu bitten, sich von Herrn Kamp in seiner Villa den Scheck aushändigen zu lassen. Werneuchen sagte, daß er am nächsten Morgen sowieso zum Frühzug auf die Bahn wollte, da er einen Bekannten erwartete.

»Er kannte aber doch Herrn Erkner nicht?« warf der Kommissar ein.

»Ich hatte ihn ihm genau beschrieben, so daß er ihn erkennen mußte!«

»Wie sieht Herr Erkner aus?«

»Nun, er ist unverkennbar. Marius heißt er mit Vornamen und trägt einen langen blonden Bart. Einen sehr schönen Bart.«

»Dann allerdings!« sagte der Kommissar. »Wie hatten Sie übrigens, Herr Goldschmidt, Ihre Anzeige für das Münchner Blatt aufgegeben?«

»Da ich sehr oft in München bin, habe ich sie selbst zur Zeitung gebracht und auch die Offerten gleich abgeholt.«

»Ein etwas umständliches Verfahren!«

»Nun, man hat dann gleich alles zusammen.«

Zu dem Frühzug war Werneuchen nicht erschienen. Erkner reiste ohne den Brief nach München, erledigte dort seine Angelegenheiten und erfuhr erst zwei Tage später in Hamburg, daß ihm ein Brief zur Besorgung mitgegeben werden sollte.

»Fiel Ihnen denn nicht auf, daß Herr Werneuchen am Freitagabend nicht an die Bahn kam?«

»Natürlich fiel es mir auf! Ich war froh, einen so unzuverlässigen Menschen nicht genommen zu haben.«

Erst heute nachmittag, als Herr Goldschmidt wieder in München war, hatte er durch die Zeitung von der ganzen Geschichte erfahren und war gleich auf die Polizei gekommen, um seine Aussage zu machen.

»Und um in aller Form und in aller Öffentlichkeit festzustellen, daß meine Firma Norddeutsche Im- und Exportgenossenschaft heißt und ich wirklich der Direktor Goldschmidt und keine fingierte Person bin, wie es in der Zeitung steht!«

Er sagte dies mit vollem Nachdruck. Dieser Punkt war ihm sehr wesentlich, und ohne ihn wäre er wohl überhaupt nicht hier erschienen.

»Verhaften Sie ihn doch! Er hat auch inseriert!« brüllte Berdelow. Diesmal lachten alle, sogar die Polizisten, die den Fabrikanten hereingeführt hatten.

»Einen Augenblick, Herr Berdelow«, sagte der Kommissar. »So hat sich das Mißverständnis zum Glück aufgeklärt. Sie sind es also nicht, der Herrn Werneuchen nach Regensburg gelockt hat. Ich habe über Ihre Entlassung nun leider nicht mehr zu verfügen, aber ich werde sie sofort in die Wege leiten. Wollen Sie bitte mit mir mitkommen.«

Aber Herr Goldschmidt meldete sich noch einmal zu Wort.

»Ich habe hier noch einen Brief abzugeben«, sagte er und schwenkte das Schreiben von Margot Liedtke in der Luft.

Der Kommissar sah es durch.

»Das ist merkwürdig, meine Herren! Herr Direktor Goldschmidt bringt uns hier einen Brief von Margot Liedtke, die wir leider schon den ganzen Nachmittag in unserer Gesellschaft vermissen. Fräulein Liedtke schreibt nun hier –. Aber vielleicht lesen Sie es selbst vor, Herr Goldschmidt!«

Herr Goldschmidt erzählte, wie er im Frühstückszimmer des Hotels zufällig die Bekanntschaft einer jungen Dame namens Maria Leist machte. Wie er ihr München zeigte, mit ihr zu Mittag aß, wie dann auf dem Odeonsplatz die Abendzeitung ausgerufen wurde und er sich ein Blatt kaufte, weil ihm doch der Name Werneuchen bekannt war. Er schilderte, wie die Dame ihn gefoppt habe, weil er selbst in die Sache verwickelt war und es erst aus der Zeitung erfuhr, verschwieg aber sorgfältig, daß sie ihn dabei mit »Onkelchen« anredete. Schließlich habe sie diesen Brief geschrieben und ihm übergeben. Er las vor, wobei Herr Berdelow sich neben ihn stellte und mit hineinsah, was ihm niemand verwehrte, da es doch nun einmal seine Sekretärin gewesen war. Der Brief aber lautete:

»Sehr geehrter Herr Goldschmidt! Ich bin Margot Liedtke, die Sekretärin des verhafteten Berdelow, und es ist herrlich, daß wir beide zusammen in der Zeitung stehen. Wenn Sie auf die Polizei gehen, sagen Sie doch dort bitte, daß Herr Berdelow mit dem Morde gar nichts zu tun hat. Ich kann es ganz bestimmt beurteilen, denn ich wußte um jeden Schritt meines Chefs. Daß ich selbst fortgelaufen bin, hat ganz andere Gründe, die sich bei Durchsicht der Bücher vielleicht herausstellen werden. Da die Bücher nun geprüft werden, habe ich es für das beste gehalten, zu verschwinden. Ich habe nämlich der Geschäftskasse einiges Reisegeld entnommen. Ich hätte das noch gern weiter fortgesetzt, aber es war mir jetzt zu gefährlich. Deshalb verschwinde ich. Man soll mich nicht verfolgen, denn ich bin, wenn Sie dieses auf der Polizei vorlesen, schon längst über alle Berge. Auch Herr Berdelow soll mich nicht wegen der paar hundert Mark verfolgen lassen. Er hätte doch nur Unkosten davon. Er soll lieber Fräulein Therese heiraten. Sie kann ihm auch gestehen, wer die Anzeige bei dem Finanzamt eingereicht hat. Unterschrift Maria Leist alias Margot Liedtke. Aber heute abend heiße ich schon wieder anders!«

Herr Berdelow faßte sich zunächst.

»Paar hundert Mark? Verfluchte Kanaille!« wetterte er los. »Diese hundsgerissene Person! Solche Scherereien macht sie einem!«

Die anderen standen einigermaßen verdutzt da.

»Ist Ihnen so was schon mal vorgekommen, meine Herren?« feixte Herr Goldschmidt.

Auf den Studenten wirkte diese Aufklärung niederschmetternd. Nicht nur, weil sich das Interesse jetzt auf ihn und Gerda konzentrieren mußte, sondern weil hier ein harmloses Geschäftsidyll mit einer heiratslustigen Vertrauensperson und einer lebenshungrigen Sekretärin tiefe Zusammenhänge hatte ahnen lassen, die sich jetzt in Luft auflösten. Das Schicksal hatte sie alle mit dunklen Andeutungen genarrt. Menschliche Spitzfindigkeit drängte sich hinein, wo ein Eingang zu der Welt furchtbarer Verwicklungen schien, und heraus kam schließlich eine leere Banalität. Obwohl er selbst längst nicht mehr an Berdelows Schuld glaubte, tat ihm diese Auflösung geradezu weh. Was hatte man bei dem Namen des Direktors Goldschmidt an Vermutungen und Befürchtungen empfunden! Und nun stand ein kleines sächselndes Männchen da, das seine Seitensprünge machte. Dieses Männchen hatte gleichzeitig über Werneuchens Schicksal entscheiden können, hatte ihm eine Brotstelle vorhalten oder sie ihm verweigern können. Und an seinem kleinen rosigen Schnüffelmündchen hatten sie alle, Ernst Alexander, Elma und er, mit Spannung gehangen!

Der Kommissar nahm die Enthüllung mit verlegener Heiterkeit auf.

»Nun, dann wissen wir ja Bescheid. Also Herr Berdelow, wenn ich bitten darf! Jetzt ist alles in schönster Ordnung.«

Er ging mit dem Fabrikanten und den beiden Polizisten hinaus. Es war ein Rückzug vom Schlachtfeld, denn durch Goldschmidts Auftauchen waren seine ganzen Kombinationen zu Wasser geworden.

So verhielt es sich also mit jener Regensburger Reise! Man war gründlich in die Irre gegangen. Bensch hatte mit jener Anzeige nichts zu tun! Aber Gerda! Was hatte sie in Regensburg gewollt? Weshalb hatte sie ihren Mann dorthin gelockt? Oder hatte sie ihn nicht veranlaßt, dorthin zu fahren? Hatte sie es nur gewußt, daß er dort sein würde? Er sah zu der Frau hinüber. Ahnte sie etwas von einer Gefahr? Sie saß noch immer wie vorher da und brütete stumm vor sich hin.

»Hätte Herr Werneuchen nun wirklich die Stelle bekommen?« fragte Kamp den Direktor.

»Nun freilich! Er machte einen ausgezeichneten Eindruck auf mich!«

»Und er hatte die Kaution!«

»Ja, auch die Kaution hatte er!« bestätigte Goldschmidt.

Kamp pfiff leise durch die Zähne. So nahe also war die Lösung gewesen! Oder doch nicht? Stieg nicht doch die Katastrophe aus der unlösbaren Verknotung aller dieser Menschen? Mußte sie nicht doch notwendig kommen, auch wenn an einem Ende so etwas wie eine scheinbare Lösung aufzudämmern schien? Da saß Gerda und starrte jetzt den Mann an, der als Letzter von allen Anwesenden Werneuchen so kurz vor seinem Tode gesehen und gesprochen hatte. Von jener Seite mußte das Gewitter kommen, wenn sich auch der Himmel über Ernst Alexander und Elma aufzuheitern begann. Es mußte! Auch wenn er die Anstellung erhalten hätte! Und er hatte sie ja so gut wie erhalten. Aber dennoch hatte noch immer etwas im Hintergrund gelauert.

Nur eines verstand Kamp nicht. Goldschmidt hatte gesagt, daß Werneuchen am nächsten Morgen einen Bekannten am Berliner Schnellzug erwarten wollte. Er selber wußte freilich, wer das war. – Schade, daß er bei diesen Worten Gerda nicht angesehen hatte! – Aber dem Kommissar mußte das doch auffallen. Weshalb fragte er nicht sofort danach?

Aber Leuthold tat es, sobald er zurückkam und seinen Platz am Schreibtisch wieder eingenommen hatte.

»Wissen Sie vielleicht zufällig, Herr Goldschmidt, wer dieser Bekannte sein konnte?«

Aber Goldschmidt wußte über diesen Punkt nichts auszusagen, Werneuchen erwartete jemanden am Freitagmorgen mit dem Nachtzug aus Berlin. Das war alles, was er sagen konnte.

Leuthold machte gar kein eisiges Gesicht mehr. Er war offenbar völlig ratlos. Seine Kombinationen hatten sich als Irrweg erwiesen. Er hatte zunächst keine Ahnung, wie er den Fall weiter anpacken sollte. Aus Verlegenheit verlas er, was der Direktor zu Protokoll gegeben hatte und legte es Goldschmidt zur Unterschrift vor.

»Herr Kommissar,« sagte der, »ich habe wirklich mit nichts hinter dem Berg gehalten. Aber ich möchte Sie nicht sehr gern haben, daß nun in der Zeitung etwas von dem Diner des Direktors Goldschmidt mit der weggelaufenen Sekretärin des Herrn Berdelow drinsteht. Sie verstehen.«

»Natürlich nicht, Herr Goldschmidt. Wir sind Ihnen für Ihre Offenheit und die richtige Abgabe des Briefes sehr dankbar. Die Sache wird schon arrangiert werden.«

Inzwischen hatten die anderen Personen im Zimmer keineswegs die Empfindung, daß man schon zu einem Ende gekommen wäre. Kamp litt förmlich unter der Spannung, die den Raum erfüllte. Wachtmeister Neumann, der regungslos in der Ecke stand, mußte sich jetzt den Schlag überlegen, den er führen wollte. Gerda kauerte still auf ihrem Stuhl. Man wartete nur, daß Goldschmidt hinausging. Selbst Leuthold schien von der allgemeinen Nervosität und Erwartung angesteckt zu sein, obwohl er ebensowenig wie Kamp ahnen mochte, was sich im nächsten Augenblick ereignen würde.

Als Goldschmidt hinausgegangen war, stieß der Kommissar ein verlegenes »Tja« aus. Das Zimmer war auf einmal beängstigend leer. Neumann schien noch mehr als bisher in das Studium der Tabelle an der Wand vertieft zu sein. Endlich sagte er leise und unbestimmt, als ob er zu sich selber spräche:

»Vielleicht weiß die gnädige Frau, wen Herr Werneuchen am Freitagmorgen in Regensburg erwartete?«

Alle Köpfe fuhren nach Gerda herum.


 << zurück weiter >>