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Sechzehntes Kapitel

Er machte entsetzliche Viertelstunden durch, bis die Herren gegen zwei Uhr endlich die Villa verließen. Das Bild von Ernst Alexanders Ermordung, das der Kommissar mit wenigen Strichen so überzeugend gezeichnet hatte, ließ ihn nicht los. Er sank in den Sessel und hielt die Hände vor das Gesicht.

Wenn Gerda das zugelassen hatte, konnte man sie dann noch schonen? Diese Frage hämmerte in seinem Kopf, und er fand keine Antwort darauf. Nicht einmal die, daß er die versteckten Schriftstücke aus seinen Kollegheften heraussuchte und den Kriminalisten übergab. Auch das hatte er nicht gekonnt. Er würde in dieser Sache überhaupt zu keinem Entschluß mehr kommen.

Gut, daß Elma wenigstens nicht Zeuge dieser letzten Unterhaltung gewesen war. Welchen Eindruck hätte die Schilderung von Werneuchens Ende auf sie machen müssen!

Auguste trat herein und brachte – es war halb drei geworden – das Mittagessen. Es war ihrem Gesicht anzusehen, daß schon die Verzögerung der Mahlzeit ihr das ganze Treiben verdächtig machte. Zum Zeichen ihres Unmuts schluckte sie bei jeder Bewegung, als sie die Schüsseln und Teller auf den Tisch stellte.

Kamp hatte keinen Hunger, aber er zwang sich, etwas zu essen, schon um die nächsten Minuten zu überwinden. Natürlich wollte er mit dem schnellsten Zug in die Stadt zu Elma fahren. Nicht gerade mit demselben Zug, mit dem die Beamten zurückfuhren. Er konnte das Zusammensein mit ihnen nicht länger ertragen. Aber doch mit dem nächsten. Er hatte eine halbe Stunde Zeit.

Die Köchin kam noch einmal hinein und fragte, ob Herr Werneuchen nun tot wäre. Sie vermied das Wort »ermordet«. »Sterben«, das konnte geschehen, das war innerhalb ihrer Weltordnung, obwohl auch dadurch Mahlzeiten höchst unangebracht verschoben wurden. Das andere wagte sie nicht zu denken. Schon daß die Polizei, wenn auch in Zivil, nun wirklich ins Haus gekommen war, faßte sie nicht. So etwas gab es wohl in der Zeitung und in Romanen, aber nicht in Wirklichkeit.

»Wir fürchten, daß Herr Werneuchen ermordet worden ist«, sagte Kamp ernst.

Sie schrie laut auf, nahm die Schürze vor das Gesicht und stürzte hinaus.

Ermordet! Wie das klingt! dachte Kamp. Man sitzt in einem Haus und sagt ganz einfach: der Besitzer ist ermordet worden. Als ob es die selbstverständlichste Sache von der Welt wäre. In wieviel kleine Einzelheiten löst sich so ein Fall für die Überlebenden auf. Man wird des einen furchtbaren Augenblicks kaum gewahr, in dem nun wirklich jemand die Kehle abgedrosselt wurde. Das ist ein Umherlaufen, Suchen, Kombinieren, Aufregung bei Familien, Behörden, Freunden. Nur weil es jenen einen Augenblick gegeben hat, der sich nun, über Tage, Wochen, Monate verbreitet, der Welt mitteilt. Und auf einmal, nachdem man schon tagelang damit gerechnet und in diesen Vorstellungen gelebt hat, kommt dieser Augenblick ganz groß und überwältigend auf einen zu, wie jetzt, da der Kommissar davon sprach.

Dabei hatte Kamp eigentlich keinen Augenblick aufgehört, an Elma zu denken. Seit die Kriminalisten allein aus dem Zuge gestiegen waren, zermarterte er sich mit Fragen nach ihrem Ergehen. Ob er bei Diepenbroichs anrief? Immer wieder hatte er es hinausgezögert. Jetzt stand er mit kurzem Entschluß auf und ließ sich verbinden.

Frau Diepenbroich war am Apparat Sie war sichtlich erfreut, den Studenten zu sprechen. Klagte über Elma, die gestern spät mit furchtbaren Kopfschmerzen nach Hause gekommen wäre. Heute läge sie den ganzen Tag krank zu Bett.

»Ich möchte trotzdem gern bei Ihnen vorsprechen, gnädige Frau«, sagte Kamp. »Paßt es Ihnen, wenn ich in einer Stunde vorbeikomme?«

»Aber gern, Herr Kamp. Sie trinken eine Tasse Kaffee bei uns.«

Frau Diepenbroich war eine kleine asthmatische Italienerin, voller Freundlichkeit gegen alle Welt. Es ging das Gerücht, daß der Professor in jungen Jahren sein italienisches Modell geheiratet hatte. Kamp mochte die Frau gern, obwohl Elma nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr hatte.

Als er die Wohnung in der Agnesstraße betrat, war Elma aus ihrem Zimmer noch nicht zum Vorschein gekommen. Sie hatte das Mittagessen hinausgeschickt und gebeten, sie bis zum Abend in Ruhe zu lassen.

»Nicht einmal hineingehen darf ich!« klagte Frau Diepenbroich.

Kamp saß mit der Mutter in dem kleinen Salon neben dem Atelier. Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Tür, der Professor trat heraus, im Malerkittel, den Pinsel in der Hand und beteiligte sich an der Unterhaltung. Professor Siegward Diepenbroich war ein fixer Verfertiger von leicht zugänglichen und gut eingeführten Landschaften. Er selbst betonte sein Künstlertum stark, doch hielt ihn, außer seiner Frau, für die sein Schaffen eine Offenbarung war, niemand für einen bedeutenden Maler. Wenn Kamp mit Elma über die Kunst ihres Vaters sprechen wollte, wich sie aus. Aber der Professor verkaufte selbst in diesen schlechten Zeiten immer noch gut, und er hielt dafür, daß letzten Endes der Erfolg entscheide.

Wie Kamp in dem Salon saß, fiel ihm auf einmal die Fremdheit zwischen Elma und ihren Eltern schwer aufs Herz. Wo sollten diese Eltern das Verständnis hernehmen, wenn ihre Tochter nun wirklich von einem ernsten Schicksal bedroht war? Noch hatte er mit keiner Silbe bedacht, wie schwer es halten würde, hier eine Brücke zu finden.

Wieder regte sich in ihm der Zorn gegen Werneuchen. Wie konnte Ernst Alexander Elma unter diesen Menschen allein zurücklassen! Wie konnte er sie in diese prekäre Lage bringen! Er sah ihn vor sich, wie er in einer kühnen Aufwallung den Stein in die Zukunft schleuderte und dann die Kraft verlor, ihm nachzuspringen.

Kamp kannte Elmas Eltern von lustigen Tees und Tanzgesellschaften her. Zum erstenmal überdachte er jetzt besorgt ihre menschliche Reichweite und bekam Furcht. Er wurde sich klar darüber, daß er nichts von Elma verraten durfte. Diese Menschen konnten das Schicksal, in das ihre Tochter verflochten war, nicht verstehen. Alles Zureden, alle Gründe würden hier an einer Mauer gesellschaftlichen Herkommens abprallen. Vielleicht gerade deshalb, weil es in dem Leben dieser Künstlerfrau eine Zeit gegeben hatte, an die sie nicht gern erinnert wurde.

Er wußte jetzt nicht mehr, weshalb er eigentlich hierhergekommen war. Elma war nicht zu sprechen. Sie lag in ihrem Zimmer und wollte wohl ein Zusammentreffen mit Kamp unter den Augen ihrer Eltern vermeiden. Vielleicht war er nur gekommen, weil er ihre Nähe suchte. Ich bin verliebt! dachte er wieder.

Das Gespräch bewegte sich in nichtssagenden Redensarten vorwärts. Die kleine rundliche Dame, der man die einstige Schönheit nicht mehr ansah, saß steif und schweratmend auf dem Sofa vor ihm, sprach von den oberflächlichen Vergnügungen »heutiger Mädchen« und nötigte ihn zum Zulangen. Der Professor, wenn er den Kopf zur Tür hereinsteckte, schmähte über die moderne Kunst im Glaspalast und die Überheblichkeit der jungen Maler, die nichts mehr lernen wollten. Es war eine fremde Welt, ganz außerhalb der Zeit, in der man lebte. Kamp hatte das nie wie jetzt gespürt. Er lavierte mit seinen Bemerkungen vorsichtig, um nicht anzustoßen. Zur Freude des Professors fand er vieles in der modernen Malerei verschroben und die Röcke der herrschenden Mode zu kurz. Sogar auf Seidenstrümpfe, namentlich bei kaltem Wetter, zu schimpfen, sah er sich genötigt.

Bisher hatte er seine Besuche bei Diepenbroichs immer höchst gemütlich und beruhigend gefunden. Heute schnürte ihm etwas die Kehle zu, wenn er Elmas Mutter ihre Ansichten äußern hörte. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, daß Frau Diepenbroich über Elma mehr wußte, als sie sich anmerken ließ. Es war ihm manchmal, als suche sie es zu vermeiden, sich und ihrer abwesenden Tochter vor dem jungen Mann aus guter, wohlhabender Familie eine Blöße zu geben.

»Hat sich Fräulein Elma gestern auf einer Tanzgesellschaft erkältet?« fragte er vorsichtig.

»Ach Gott, Herr Kamp, Elma ist in der letzten Zeit überhaupt so entsetzlich elend, daß ich ganz besorgt bin. Finden Sie nicht auch?«

Kamp bejahte.

Der Professor trat herein. Frau Diepenbroich lenkte das Gespräch sofort in andere Bahnen, weitab von ihrer Tochter. Kamp unterstützte sie geschickt in ihrem Redeschwung, und der Professor konnte nicht ahnen, daß man eben von Elmas schlechter Gesundheit gesprochen hatte. Als er wieder im Atelier verschwunden war, sahen sich die beiden ein wenig wie Mitschuldige an, beschämt und ertappt.

Ja, Elma wäre rasend elend. Frau Diepenbroich hätte seit Wochen in sie gedrungen. »Was hast du bloß?« hätte sie tausendmal am Tage gefragt. Und dabei hätte Elma die besten Partien machen können. Gerade in der letzten Zeit. »Ich will nichts sagen, Herr Kamp, wirklich ganz großartige Partien! Aber mit Elma ist ja nicht zu sprechen.«

Kamp saß wie auf Nadeln. War jetzt der Zeitpunkt, der Mutter einen Wink zu geben? Konnte er es vor Elma verantworten, irgend etwas anzudeuten?

»Fräulein Elma wird immer die besten Partien machen können«, sagte er. »Sie ist so schön und ein so aufopferungsfähiger Charakter! Jeder Mann könnte glücklich sein, ein solches Mädchen sein eigen zu nennen.«

»Nicht wahr?« fiel Frau Diepenbroich schnell ein. Sie konnte es um so eher, als Kamp wegen seiner Jugend als Bewerber kaum ernstlich in Frage kam. »Nicht wahr? Aber was hat sie jetzt nur?«

Kamp zuckte die Achseln. Er wollte noch immer nicht mit der Sprache heraus. »Was haben junge Mädchen? Eine unglückliche Liebe vielleicht?« sagte er, mit dem Versuch, zu scherzen und zugleich die Wahrheit anzudeuten.

»Wenn man nur wüßte, zu wem!«

»Ich weiß es«, sagte Kamp entschlossen und stand auf.

Frau Diepenbroich sah ihn erstaunt an. »Sie wissen es?« Sie hatte sich gleichfalls erhoben. »Sie wissen etwas? O Gott, Sie wissen etwas?«

Kamp bat darum, Fräulein Elma sprechen zu dürfen. Auch wenn sie in ihrem Zimmer wäre. Aber er müsse sie jetzt, an diesem Nachmittag, unbedingt sprechen!

Frau Diepenbroich griff mit den Armen in die Luft.

»Um Gottes willen, Herr Kamp! Was ist los? Sie ängstigen mich so! Ich habe mir schon solche Gedanken gemacht!«

Sie beschwor ihn, ihr die Wahrheit zu sagen. Kamp verweigerte jede Auskunft, bis er Elma gesprochen hätte. So war es vielleicht ganz gut. Er konnte sie sprechen, und dann alles übrige ihr überlassen.

»Sind Sie es?« fragte Frau Diepenbroich. Man hörte es ihr an, daß sie in diesem Falle nicht gerade begeistert, aber immerhin getröstet sein würde.

»Nein!« erwiderte er schroff. »Ich bin es nicht. Aber wenn es so wäre, so würde diese Liebe jedenfalls nicht unglücklich sein.« Diese Andeutung glaubte er für alle Fälle machen zu sollen. Nicht seinetwegen, aber weil es Elma vielleicht nützen konnte.

»Sie lieben sie?«

Die kleine Frau erwog im Augenblick alle Aussichten, die aus dieser Richtung kommen konnten. Kamp war noch jung, viel zu jung für Elma. Aber seine Eltern schienen reich zu sein. Vielleicht war es nicht das Schlechteste. Man behielt auch Elma noch einige Jahre im Hause. Aber sie konnte nicht glauben, daß ihre Tochter sich in den jungen Menschen verliebt haben sollte.

»Sie lieben sie?«

»Das ist hier ganz unwesentlich«, sagte Kamp schroff. »Aber ich muß Fräulein Elma sprechen.«

»So kommen Sie!«

Frau Diepenbroich ging voraus. In diesem Augenblick öffnete sich die Ateliertür und der Professor steckte seinen Kopf hindurch.

»Wollen Sie schon gehen?« fragte er.

»Herr Kamp will nur Elma guten Tag sagen«, erklärte sie.

»Schön, schön!« sagte der Maler und zog sich wieder zurück, tun weiterzuarbeiten. Er hatte sein Tagespensum noch nicht völlig erledigt.

Man mußte durch das Eßzimmer gehen und dann durch den langen Gang, an dem die Schlafzimmer lagen. Frau Diepenbroich schritt voran. Kamp sah an den Bewegungen ihrer starken, ein wenig vom Oberkörper abstehenden Arme, was in ihr vorging. Sicher überflog sie ihr bisheriges Leben, ob es aufwiegen konnte, was ihr diese Stunde an Angst und Aufregung eintrug. Vor Elmas Tür hielt sie ein wenig an, horchte und klopfte.

Nichts antwortete. Sie klopfte noch stärker, und als auch jetzt noch keine Antwort kam, öffnete sie eine kleine Spalte, um vorsichtig hineinzuschauen. Diese Bewegung war unendlich rührend. Kamp schöpfte einige Hoffnung aus ihr und dachte, daß diese Mutter vielleicht doch ihrer Tochter beistehen konnte. Er brachte sein Gesicht in Ordnung, um bei Elma einzutreten.

»Mein Gott!« schrie Frau Diepenbroich auf einmal. »Sie ist fort!«

Kamp stellte sich neben sie und sah in das Zimmer hinein. Auch in diesem verlassenen Zustand rührte es ihn. Das also war der Raum, in dem seit Wochen und Monaten die schwersten Seelenkämpfe ausgetragen wurden! Wieviel Tränen hatte dieses weiße Kopfkissen erstickt! Wieviel verzweifelte Blicke waren durch dieses Fenster in den halbdunklen Hof gefallen!

Die Mutter stand verlegen vor dem leeren Bett und deckte es zu.

»Mantel und Huf sind auch fort!« Sie wies auf den Kleiderhaken. »Sie hat sich völlig angezogen und ist fortgegangen.«

»Um Gottes willen!« rief Kamp nun auch. »Seit wann ist sie fort?«

»Siegward! Siegward!« rief die unglückliche Frau nach ihrem Mann.

»Bitte, seien Sie ruhig, gnädige Frau!« redete Kamp ihr zu, obwohl seine Stimme zitterte.

»Herr Kamp! Lieber Herr Kamp! Bitte, ich beschwöre Sie! Sagen Sie mir, was geschehen ist! Ich will alles wissen!«

Kamp rang mit sich. Durfte er in diesem Augenblick sprechen? Vielleicht war Elma nur ein wenig an die Luft gegangen und wollte zurückkehren und ihr Geheimnis weitertragen. Aber es war unwahrscheinlich, daß es sich so verhielt. Das leere Zimmer starrte ihn wie ein verzweifeltes Gesicht an.

»Ihre Tochter«, sagte er mit unsicherer Stimme, »war seit langem mit Herrn Werneuchen verlobt, und Herr Werneuchen ist vor vier Tagen in Regensburg ermordet worden.«

»O mein Gott!« Frau Diepenbroich schrie auf. »Werneuchen ermordet! – Und Elma ist – –?«

Der Student neigte stumm den Kopf.

»Herr Kamp! Liebster Herr Kamp! Wo ist sie? Sagen Sie mir alles! Ist Elma – –?«

»Sie ist seine Witwe«, sagte Kamp leise.

Die Mutter stürzte sich auf das Bett und suchte es zu umklammern. Ihr Rücken schütterte unter inneren Stößen. Sie stand diesem Augenblick hilflos gegenüber. Sie wollte ihr Kind wiederhaben und wagte das Verlorene nicht zurückzufordern. Kamp stand ratlos neben ihr. Er wußte nicht, was Elmas Verschwinden bedeuten sollte. Hatte sie mit allem ein Ende gemacht? Er fühlte nur, daß sie in diese Wohnung nicht mehr zurückkehren würde. Was hatte er selber noch hier zu tun? Er sah auf die verzweifelte Frau, die sich nicht zu fassen wußte.

»Gnädige Frau!« sagte er leise. »Ich gehe!«

Sie rührte sich nicht. Vielleicht wollte sie mit der ganzen Welt in der ihre Tochter unglücklich geworden war, nichts mehr zu tun haben.

»Ich gehe!« wiederholte er noch einmal. Sie sah zu ihm auf.

»Gehen Sie zu ihr?« fragte sie stockend.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo sie ist.«

Frau Diepenbroich sprang auf. »Meinen Mantel! Meinen Hut!« rief sie. »Ich muß sie suchen!«

»Bleiben Sie ruhig, gnädige Frau!« sagte er. »Ich werde sie suchen. Ich finde sie vielleicht noch am ehesten.« Aber es erschütterte ihn, daß sie nun doch nach Elma verlangte. »Ich werde alles aufbieten, um sie zu finden. Seien Sie überzeugt davon!«

Sie stand regungslos da und blickte an sich herab. Man sah, daß sie ihrer Ohnmacht gegenüber diesen verwickelten Zustände innewurde. Sie wußte nicht, wo sie ihre Tochter zu suchen hatte. Sie hätte nichts tun können als sinnlos herumzulaufen. Sie sah ihren ungeschulten Körper an, der nicht zu laufen und Treppen zu springen gelernt hatte, und ihre Kleidung, die überall hindern mußte. Ganz verlegen stand sie da, und an ihrem Blick wurde dem Studenten auf einmal die Tragik der Mütter dieser Generation klar, die an dem Leben der neuen Zeit keinen Anteil hatten und mit ihm doch durch ihre Kinder verbunden waren.

»Gnädige Frau«, sagte er sanft und führte ihre Hand an seine Lippen. »Ich werde sie finden und gebe Ihnen Nachricht.«

»Werden Sie sie wiederbringen?«

Er zuckte die Achseln. Sie sank wieder vor dem Bett zusammen und wußte nicht, was sie wünschen sollte. Er ging leise hinaus.

Ohne sich von dem Professor zu verabschieden, zog er sich im Korridor an und ging die Treppe hinunter. Wohin? dachte er fortwährend. Wenn ich sie wirklich lieb habe, muß ich es doch erraten? Vielleicht hat sie wirklich ein Ende gemacht. Oder sie ist zu jemandem gegangen, dem sie vertraut? Zu mir vielleicht? dachte er zweifelnd. Er hoffte, daß sie zu ihm gegangen wäre. Er wünschte es inbrünstig. Aber er glaubte es nicht. Aber vielleicht rief er doch zu Hause an. Vielleicht saß sie schon da und wartete auf ihn?

Er ging in einen Zigarrenladen, um zu telephonieren. Als er eintraf, wußte er auf einmal, wo sie war. Natürlich, sie war zu Gerda gegangen! Dennoch fragte er bei Auguste an, ob jemand gekommen wäre. Er sah nach der Uhr. Wenn sie den letzten Zug genommen hatte, konnte sie schon in der Villa sein.

Sie war aber nicht dort. Er hatte es gewußt. Wo fand er Gerda? Wer konnte ihm Gerdas Adresse geben? Reuschhagen! sagte er sich. Reuschhagen würde wissen, wo sie wohnt. Sie mußte doch noch in München sein, da er sie erst gestern gesehen hatte! Wie gut, daß er gestern nacht in Werneuchens Kalender Reuschhagens Adresse gefunden hatte. Er rief ein leeres Auto an und sagte die Nummer der Lindwurmstraße.

In einer kleinen Viertelstunde hielt er vor einer Mietskaserne, kaum hundert Schritte vor dem Café, wo sich am vorhergehenden Tage fast genau um dieselbe Zeit so Wichtiges ereignet hatte. Wieder stand er in dieser langen öden Straße. War es hier eigentlich schöner als bei Berdelow & Hahn? mußte er denken, und zugleich packte ihn ein Schauder, daß er heute schon wieder hier stand. War das nicht merkwürdig, daß diese Straße ihn anzog? Daß er immer wieder hierher zurückkehrte? Die Kriminalbeamten suchten das Mordnest auf der anderen Seite der Stadt, in der Gegend der östlichen Fabriken. Ihn aber trieb es hierher. Welche unheimliche Macht war dahinter, daß er heute schon wieder in diese Gegend mußte? Weil hier die Fäden zusammenliefen? Weil hier der Mittelpunkt der furchtbaren Begebnisse lag? Gerda kann nicht weit von hier wohnen! fühlte er.

Mit zögernden Schritten ging er in das Haus. Er besann sich, daß Reuschhagen eine Wohnung im vierten Stock haben sollte. Wieso ihm das auf einmal einfiel, wußte er nicht, aber er glaubte, es irgendwo gehört zu haben. In Werneuchens Kalender war nur die Hausnummer angegeben. Aber vielleicht wohnte er überhaupt nicht mehr hier?

Der Treppenflur überraschte ihn. Er war nicht so ärmlich, wie er gefürchtet hatte. Überhaupt schien das ganze Haus einigermaßen neu zu sein. Aus der letzten Zeit vor dem Kriege. Drei Treppen hoch befand sich eine Pension, die das ganze Stockwerk auf beiden Seiten einnahm. »Chambre garnies und Pensionat« war auf einem Schild zu lesen. Eine Menge Visitenkarten war mit Reißzwecken an die Türe geheftet. Eine Kunstgewerblerin, ein Ingenieur und zwei Studenten stellte Kamp im Vorübergehen fest. Die vierte Treppe ging bereits auf den Speicher. Oder war oben eine Mansardenwohnung eingebaut? An einer kleinen Tür befand sich ein Briefkasten und ein Porzellanschild mit dem Namen Reuschhagen.

Kamp wartete lange vor dieser Tür, ehe er sich entschließen konnte, auf die Klingel zu drücken. Von unter her kamen die Klänge eines Klaviers und die Fetzen einer erregten Unterhaltung, die irgendwo auf einer Hintertreppe geführt wurde. Er suchte zu lauschen, ob jemand in der Wohnung war, konnte aber nichts hören. Vielleicht war Reuschhagen nicht zu Hause? Was dann? Endlich klingelte er. Man hörte deutlich das Schnarren der Glocke im Inneren. Doch nichts erfolgte.

Natürlich, er wird im Café sitzen! dachte er. Hatte die Kellnerin nicht gesagt, daß er dort täglich seinen Kaffee trinkt und Zeitungen liest? Vielleicht waren sogar Gerda und Elma dort? Er hätte gleich daran denken können. Dennoch drückte er noch einmal auf den Knopf der Klingel. Einen Augenblick glaubte er drinnen den schweren schlurfenden Schritt eines Mannes zu hören, der sich der Türe näherte. Kein Zweifel! Innen knarrte eine Diele. Er hielt den Atem an, um zu lauschen und legte das Ohr gegen die Bretter. Drinnen atmete jemand.

»Reuschhagen!« rief er. »Machen Sie doch auf! Ich bin's, Otmar Kamp! Ich höre doch, daß Sie zu Hause sind!«

Nichts regte sich mehr. Der Musiker wollte ihm offenbar nicht öffnen. Nur der Atem hinter der Tür ging ganz leise auf und nieder. Kamp wurde wütend. »Zum Donnerwetter!« Er schlug mit der Faust gegen die Tür, drückte auf die Glocke, bis der schnarrende Ton vor Erschöpfung aussetzte.

Reuschhagen mußte wohl den Lärm benutzt haben, um sich von der Tür zurückzuziehen, da Kamp hörte, wie innen eine Tür vorsichtig geschlossen wurde. Dann war alles still. Von unten aus dem Pensionat drangen wieder die Töne eines Klaviers und sprechende Stimmen herauf. Es war nichts zu machen! Reuschhagen wollte nicht öffnen.

Was sollte er nun tun? Wie konnte er Gerdas Adresse erfahren? Außer über Reuschhagen wußte er keinen Weg. Mißmutig und unentschlossen stieg er die Treppe hinunter. Er wollte es noch einmal mit dem Café versuchen. Vielleicht hatte er sich doch getäuscht, und es war in der Tat niemand in der Wohnung gewesen.

Vielleicht wußte man in dem Pensionat etwas von dem Musiker? Wie, wenn er es hier versuchte? Er hielt im dritten Stockwerk an und überlegte, ob er läuten sollte. Während er noch unschlüssig dastand, wurde die Tür von innen geöffnet, und Gerda Werneuchen trat in Hut und Kostüm heraus. Sie wollte an ihm vorbei. Offenbar hatte sie ihn nicht erkannt.

»Gnädige Frau!« rief er.

Sie stutzte. »Herr Kamp?«

Die beiden standen sich gegenüber.

»Sie suchen Fräulein Diepenbroich? Ja, die ist bei mir. Kommen Sie!«

Sie ging voran und führte ihn in ihr Zimmer. Er wunderte sich, wie freundlich sie ihn begrüßte. Offenbar hatte ihr Elma von ihm erzählt.


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