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Dreiundzwanzigstes Kapitel

»Da! Dal« sagte Kamp plötzlich und wies mit der Hand auf den Schreibtisch des Kommissars.

Über die Bilder des Ermordeten hatte Leuthold die Zeitung gebreitet, die die ersten Nachrichten von Werneuchens Tod brachte. Auf der Hinterseite des Blattes, die jetzt obenauf lag, war in großen Buchstaben der Name Reuschhagen zu lesen. Er bedeckte gerade die Todeswunde.

»Was ist das?«

Sie nahmen das Blatt hoch. Es war die Anzeige, daß Ulrich Reuschhagen, der große weltberühmte Virtuose, heute abend in der Tonhalle ein Konzert gab.

»Ist das –«

»Es ist der Vater!«

»So wird er heute abend sicherlich in das Konzert gehen?«

Kamp zuckte die Achseln. Wer konnte wissen, wie die Zeitungsnachrichten auf Reuschhagen eingewirkt hatten? Rechnete er mit der Möglichkeit, daß man ihm auf der Spur war? Darauf kam es an.

»Er geht in das Konzert!« sagte Gerda. »Er geht ganz sicher in das Konzert! Aber, mein Gott, Sie können ihn doch nicht in dem Konzert seines Vaters verhaften!«

»Weshalb nicht?« sagte der Kommissar. »Jetzt muß er verhaftet werden, wo wir ihn finden.« Er sah nach der Uhr.

»Vielleicht ist Reuschhagen überhaupt schon längst mit seinem Vater zusammen und gar nicht in der Wohnung? Er wird ihn doch wohl in das Konzert bringen? Gnädige Frau, wissen Sie etwas über seine Gewohnheiten in einem derartigen Falle?«

»Er holt ihn aus dem Hotel ab und geht mit ihm zur Tonhalle. Dann wird er im Saal sitzen und nach dem Konzert in das Künstlerzimmer gehen, und dann werden sie alle mit einigen Freunden in eine Weinstube fahren.«

»Sie sind selbst bei solchen Gelegenheiten öfter dabei gewesen?«

»Ja,« sagte Gerda, »sehr oft. In Berlin und auch hier.«

»Es ist also zweifelhaft, ob wir ihn noch in seiner Wohnung finden. Jedenfalls muß auch das versucht werden.«

Sie beschlossen, daß der Kommissar, Wachtmeister Neumann, Kamp und zwei Mannschaften mit Handfesseln zunächst in der Wohnung Reuschhagens versuchen sollten, ihn zu kriegen. Falls er nicht mehr dort war – denn es war inzwischen nach sieben Uhr geworden –, sollte man zur Tonhalle fahren.

»Und Sie, gnädige Frau?«

Der Kommissar gab Kamp einen Wink, durch den er ihn aus dem Zimmer bat.

»Sie müssen mit der Frau zusammen bleiben«, sagte er draußen zu ihm. »Ich traue ihr nicht so völlig, daß ich sie jetzt schon aus den Augen verlieren möchte. Bringen Sie sie in ihre Pension und bleiben Sie bei ihr, bis alles erledigt ist!«

Der Student war damit einverstanden. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie nicht doch noch Reuschhagen einen Wink zu geben versuchte. Aber konnte sie eigentlich noch einen anderen Gedanken haben als das furchtbare Ende ihres Mannes? Schien sie nicht völlig vernichtet auf ihrem Stuhl zu sitzen? Wer würde jemals in diese Frau hineinzublicken vermögen!

Noch heute abend konnte sich alles entscheiden. Er stellte sich Reuschhagen vor, wie er seine Aussage zu Protokoll gab. Was würde man hören? Vielleicht würde er aussagen, daß ihn Gerda nicht einmal, sondern unzählige Male beschworen habe, Werneuchen zu beseitigen oder durch Bensch beseitigen zu lassen? Daß sie, im Einverständnis mit ihm, den unglücklichen Mann nach Regensburg gelockt habe? Aber mußte nicht wieder der Umstand, daß er die Aussage verweigert und Gerda dadurch zum Äußersten getrieben hatte, dagegen sprechen? Vielleicht war es gerade umgekehrt, wie es jetzt, nach Gerdas Aussage, erschien? Vielleicht war Reuschhagen nur das Mittel, dessen sich Gerda bedient hatte, um ihren Mann umzubringen? Vielleicht war es Reuschhagen, der sich im Bann dieser Frau alle Jahre hindurch wand und sich von ihr zu allem, selbst zum Mord, treiben ließ? Und vielleicht betrog sie ihn jetzt gerade um den Siegespreis?

Man kam bei dieser Geschichte aus den Vermutungen nicht heraus. Aber mußte nicht die Aussage Reuschhagens die lange gesuchte Klarheit bringen? Wie würde es sein, wenn die beiden, Reuschhagen und Gerda, vor den Gerichtsschranken sich gegenüberstehen würden. Wenn der Musiker ihr zuschrie: »Du, du? Du hast mich ja die ganzen Jahre hindurch gebeten, ihn umzubringen!« Und sie dann weinend das Gegenteil beschwor, als verfolgte arme Frau in ihren Stuhl zurücksank, das Gesicht mit den Händen bedeckte und wieder eine ihrer rührenden, erschütternden Geschichten erzählte? Wie würde das sein? War es etwa nicht möglich, daß es so kam?

»Sie müssen also mit der gnädigen Frau vorausfahren, und wir kommen dann nach«, sagte Leuthold.

Sie gingen wieder hinein.

Gerda hatte sich schon erhoben. Sie stand am Fenster und blickte hinaus. Neumann war wieder in seine Ecke gekrochen und schien in den Anblick der statistischen Tabelle vertieft. Kamp, der ihn jetzt kannte, glaubte aus seinen Zügen herauszulesen, daß er seine Zweifel über die Frau teilte. Das Zimmer war noch voll von der Spannung der letzten Stunden.

»Gehen wir?« fragte Gerda und blickte sich nach Kamp um.

Man sagte ihr, daß der Student sie nach Hause begleiten würde. Sie nickte. Sie hatte es sich schon gedacht.

»Ich muß noch beobachtet werden, nicht wahr?« sagte sie und lächelte ein wenig.

»Um Gottes willen!« beeilte sich der Kommissar ihr zu versichern.

In zwei Minuten saß Kamp mit Gerda im Auto. Sie sprachen kein Wort, bis sie den Sendlinger Torplatz hinter sich hatten.

»Die anderen kommen hinter uns her?« brach Gerda endlich das Schweigen.

»Ich glaube, Sie wollen versuchen, Reuschhagen in seiner Wohnung zu fassen.«

»Er wird schon zu seinem Vater gegangen sein!«

»Nun, man wird sehen.«

Sie waren angelangt. Als sie ausstiegen und Kamp den Kutscher bezahlte, öffnete sich die Tür des Hauses und Reuschhagen kam heraus. Er rauchte eine Zigarette und trällerte vergnüglich vor sich hin. Als er die beiden sah, wurde er formell und grüßte schweigend. Dann ging er die Straße hinunter nach der Stadt zu.

Was macht man jetzt? schoß es dem Studenten durch den Kopf. Ob man versuchen sollte, ihn anzuhalten, bis die Polizisten kamen? Oder sollte man ihn mit Gewalt festnehmen?

»Reuschhagen! Reuschhagen!« rief er hinter ihm her.

Der kehrte sich um, grüßte noch einmal korrekt zurück und ging in verstärktem Tempo weiter.

»Er hat keine Zeit«, sagte Gerda. »Er muß doch rechtzeitig seinen Vater abholen.«

»Glauben Sie, daß er wirklich ins Konzert geht? Rechnet er gar nicht damit, daß er in den Verdacht der Beihilfe zum Morde kommen könnte?«

»Nein, er geht zu seinem Vater. Wer will ihm auch schließlich etwas nachweisen? Der eigentliche Täter ist doch Bensch. Wer will es beweisen, daß Reuschhagen ihn angestiftet hat? Mir läge ja sehr viel daran, daß der Fall völlig geklärt wird. Aber ich glaube nicht, daß es möglich sein wird. Auch wenn man schließlich Bensch findet. Und wenn Bensch vor Gericht aussagt, daß Reuschhagen ihn angestiftet hat, so wird Reuschhagen das Gegenteil behaupten. Man wird nichts beweisen können. Man könnte ebensogut behaupten, daß ich hinter dem Mord als Anstifter stehe.«

»Auch das ließe sich nicht beweisen!« sagte Kamp mit merklicher Betonung.

»Nein«, sprach sie wie in Gedanken vor sich hin, sah dann aber den Studenten auf einmal erstaunt an.

»Sagen Sie, Herr Kamp,« fing sie nach einer Weile wieder an, »glauben Sie auch jetzt daran, daß der Schatten eines Verdachtes mich noch streifen kann? Halten Sie es jetzt noch für möglich, daß ich bei der Ermordung meines – bei der Ermordung Werneuchens irgendeine Rolle gespielt habe?«

Sie war auf dem Treppenabsatz stehengeblieben und sah ihm bei dem Licht der Flurlampe scharf in die Augen.

»Glauben Sie das noch? Sagen Sie kurz nein oder ja.«

Er gab ihr den Blick zurück. »Ich weiß nicht!« sagte er zögernd.

»Sie halten es für möglich?«

»Ja!« sagte er mit schärferer Betonung. »Ich halte es auch für möglich, daß Sie eben noch mit dem Gedanken gekämpft haben, Reuschhagen zu warnen. Als er an uns vorüberging, überlegten Sie sich, ob Sie nicht warnen sollten. Sagen Sie es offen, gnädige Frau!«

Sie sah ihn entsetzt an.

»Sind Sie verrückt?« fragte sie dann.

In diesem Augenblick kam unten ein Auto vorgefahren, und sie hörten die Polizisten hinaufkommen. Es waren vier. Vornweg stiegen Leuthold und Neumann die Treppe hoch. Hinter ihnen kamen zwei Männer, ebenfalls in Zivil.

Kamp verständigte sie, daß Reuschhagen eben an ihnen vorbei in die Stadt gegangen wäre.

»So müssen wir ihn also im Konzert verhaften!«

»Wenn er wirklich dort ist!« warf Kamp ein. »Vielleicht hat er schon Verdacht geschöpft. Vielleicht – –«

Er wollte sagen, daß ihm Gerda auch vielleicht einen Wink gegeben hatte, unterdrückte es aber noch im letzten Augenblick. Sie hatte seinen angefangenen Satz verstanden und warf ihm einen Blick zu. Was für einen Blick? fragte sich Kamp. Wie ein gehetztes Tier oder wie eine feindliche Schlange? Er konnte ihn aber bei der schwachen Treppenbeleuchtung nicht deuten. Vielleicht aber war alles Unsinn, was er sich zusammengefaselt hatte, und es verhielt sich genau so, wie Gerda es darstellte. Weshalb verfolgte er diese Frau mit seinen Zweifeln? Elmas wegen! schoß es ihm durch den Kopf. Er wollte, daß sie schuldig war, um Elma von ihr zu lösen. Deshalb! Aber vielleicht bin ich wirklich verrückt! Vielleicht sehe ich wie Werneuchen überall Gespenster!

»Wir müssen also damit rechnen, daß wir Reuschhagen nicht im Konzert vorfinden. Dann wird er jedenfalls noch einmal in seine Wohnung zurückkehren. Wir müssen sie also unauffällig bewachen. Also müssen wir einen Mann unten im Hausflur postieren, der ihn hereinkommen läßt, und zwei Mann oben, die ihn empfangen. Dann wäre ich dafür, daß Herr Neumann sich mit Herrn Kamp – Herr Kamp, würden Sie das im Interesse der Sache tun? – in die Tonhalle begibt und Reuschhagen dort festzunehmen versucht Möglichst unauffällig! Und die gnädige Frau begibt sich jetzt wohl am besten in ihr Pensionat. Und, gnädige Frau, verzeihen Sie, wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Pensionat bis auf weiteres nicht verlassen würden, damit wir Ihnen Nachricht zukommen lassen können.«

»Ja,« sagte Gerda, »ich verstehe!« Sie öffnete mit dem Schlüssel die Tür der Pension, in deren Höhe man sich gerade befand.

Kamp brannte darauf, mit ihr hineinzugehen, um Elma zu sprechen. Aber Gerda hatte die Tür schon hinter sich zugezogen und geschlossen. Sie tat es mit einer Betonung, als wollte sie für immer den Trennungsstrich zwischen sich und ihm ziehen, der ihr jetzt noch zu mißtrauen wagte. Er stand mit den Beamten draußen.

»Kommen Sie bitte doch noch einmal bis zu der Mansarde hinauf, forderte Leuthold ihn auf. »Sie sind ja heute nachmittag schon oben gewesen und kennen die Tür.«

Sie stiegen die fünfte Treppe hoch. Wie er darauf kam, war ihm unerfindlich. Vielleicht war es nur die allgemeine unheimliche Stimmung des Treppenhauses oder die Erinnerung daran, wie er heute nachmittag hier hinaufgegangen war. Jedenfalls legte er auf einmal den Finger an den Mund und gebot Stillschweigen. Die Männer verstanden sofort und wurden unhörbar. Hier oben brannte kein Licht mehr. Einer der Polizisten ließ seine Taschenlampe leuchten. Da lag die Tür, die zu Reuschhagens Wohnung führte. Genau wie am Nachmittag war es. Das Porzellanschild mit dem Namen schimmerte im Halbdunkel. Von unten drangen die Töne eines abgespielten Klaviers und die Fetzen einer Unterhaltung herauf. Sie hielten einige Sekunden still.

Kamp winkte den Kommissar und den Wachtmeister herbei. Sie traten leise an die Tür. Weshalb tue ich das bloß? fragte er sich selber, aber es war, als ob eine unsichtbare Stimme ihn trieb: er drückte auf die Glocke. Nichts rührte sich im Innern. Natürlich nicht. Reuschhagen war ja nicht zu Hause. Er klingelte noch einmal. Im Innern hörte man das schnarrende Geräusch. Und jetzt knackte eine Diele und leise, ganz leise Schritte tappten heran. Er legte das Ohr an die Türfüllung und hörte wieder jenes leise Atmen drinnen. Da war doch jemand! Sie hielten den Atem an.

Kamp pochte gegen die Tür. »Zum Donnerwetter, Reuschhagen! Machen Sie doch auf! Ich höre ja, daß Sie zu Hause sind! Machen Sie doch auf! Hier ist Otmar Kamp. Ich muß Ihnen etwas sagen!«

Aber innen blieb alles still. Nur war es, als ob ganz leise eine Tür geschlossen würde und wieder die Diele knarrte. Sie schlichen sich leise hinunter.

»Dort oben ist jemand!« sagte Leuthold. »Vielleicht hat er eine kleine Freundin bei sich, die nicht zu öffnen wagt? Oder ein Freund schläft auf seinem Sofa?«

»Ich weiß nicht«, sagte Kamp, »aber es ist so unheimlich, daß es heute nachmittag schon genau so war.«

»Es kann aber auch eine Gehörshalluzination sein, denn das Geräusch war doch ganz leise! Nun, was es auch ist, wir werden die Tür bewachen. Jetzt gehen Sie in die Tonhalle!«

Kamp und Neumann setzten sich in das Auto und rasten die Straße hinunter. Wenn der Beginn des Konzertes sich um eine Viertelstunde verspätete, konnten sie noch zur Zeit kommen. Aber es hatte bereits angefangen. Die Saaltüren waren geschlossen, und von innen kamen die Töne eines Klaviers. An der Kasse konnten sie aber noch Karten erhalten.

»Wissen Sie,« sagte Kamp, »wir wollen uns vollkommen trennen. Nehmen Sie diese Karte in der achten Reihe, und ich nehme die in der vierten. Ich werde in der Pause versuchen, Reuschhagen anzusprechen. Natürlich dürfen wir jetzt auch nicht zusammen hineingehen.«

Er sah auf dem Programm, daß das Konzert mit einer Beethoven sehen Sonate begann. Er wollte nach dem ersten Satz hineinschlüpfen. Neumann sollte erst nach der ganzen Sonate eintreten.

Es war sonderbar, wie unsicher der Wachtmeister in diesem ihm unbekannten Milieu sich bewegte. Es störte ihn, daß er die Situation nicht überschauen konnte. Er hatte keinen Begriff von Sonaten und Pausen und Künstlerzimmern und mußte sich auf die Leitung des Studenten verlassen. Kamp brannte darauf, Reuschhagen zu sprechen. Vielleicht gab ihm ein Wort Aufschluß über alle seine Fragen. Er wollte ihn in der Pause anreden und über seinen Eindruck der Zeitungsmeldungen von Werneuchens Ermordung befragen. In der Pause würde Reuschhagen ja nicht zu seinem Vater in das Künstlerzimmer gehen.

Neumann war mit allem einverstanden. Eine Verhaftung im Saal gedachte auch er zu vermeiden. Vielleicht fand man in der Pause Gelegenheit dazu. Jedenfalls wollten er und Kamp nicht ein Wort miteinander sprechen, falls Reuschhagen, wie es natürlich war, sie beobachtete. Wenn die Verhaftung bis zum Schluß des Konzerts noch nicht erfolgt war, wollten sie beide zum Künstlerzimmer gehen und Reuschhagen dort abfassen. Daß er dort sein würde, war als sicher anzunehmen.

Als der erste Satz vorüber war, klemmte sich Kamp durch die halbgeöffnete Tür mit anderen Nachzüglern herein und blieb an der Wand zwischen den Stehplätzen stehen. Von hier konnte er den Saal am besten überschauen. Auf der vordersten Reihe, direkt unter dem Podium, saß Adalbert Reuschhagen neben einer Dame. Er hatte einen Smoking an und sah dreifach ausgeputzt aus. Gerade drehte er sich um und sah strafend zu den Zuspätkommenden herüber, die sich zwischen den Reihen drängten. Nein, dieser Mensch dachte nicht daran, daß er in einer Gefahr schwebte. Er war sicher, an ihn konnte nichts herankommen. Den Studenten bemerkte er zwischen den Stehenden nicht.

Aber es war nicht einmal Reuschhagen, was Kamps Aufmerksamkeit sogleich auf sich lenkte. Es war der berühmte Virtuose, der auf dem Podium saß, die Hände im Schoß, und darauf wartete, daß wieder Ruhe eintrat. Welch ein Gesicht, mußte Kamp denken. Das Gesicht eines Knaben fast. Unschön, unregelmäßig, mit fast niedriger Stirn unter buschigem Haar, das tief in das Gesicht hineinwuchs. Mit einem eckigen Hinterkopf, auf dem die Haare abstanden. Der seltsame Kopf saß auf einem langen ungelenken Körper, der Mühe hatte, seine Gliedmaßen, diese viel zu langen Arme und Beine, unterzubringen. Unter Augenbrauen, die fast fehlten, blickten zwei Augen hervor, die wieder die eines Knaben waren, weich, träumerisch. Und doch ging ein ungeheurer Eindruck von der ganzen Gestalt aus. Kamp sah es sofort: dieser Mann machte sich nichts aus seinem Ruhm. Er ruhte nicht auf erworbenen Lorbeeren, er stand jedem Augenblick des Lebens neu und unbelastet gegenüber und mußte es Immer von neuem und von Grund aus bewältigen. Eine unglaubliche Frische hatte dieser Mann an sich. Die ganze Frische eines noch jungen Menschen, aber mit dem Können und der Kraft des Alters. Nichts besonders Feierliches war in seiner Art, und dennoch stand der ganze Saal in seinem Bann.

Mit einemmal mußte Kamp sich fragen, ob dieser Ulrich Reuschhagen nicht die Macht war, die Gerda an seinen Sohn gebunden hielt. War es vielleicht der Bannkreis dieses Mannes, der sie die ganzen Jahre nicht losgelassen und immer wieder zu Adalbert zurückgezwungen hatte? War es diese abgehobene Atmosphäre, die sie festhielt, um deretwillen sie sogar den kleinen Schwätzer ertrug, weil er die Brücke zu dieser Welt bildete? Ihm fiel ein, wie sie auf dem Polizeibüro gesagt hatte, daß sie oft, in Berlin und in München, unter denen gewesen war, mit denen Ulrich Reuschhagen nach seinen Konzerten in einer Weinstube zusammen saß. Waren es vielleicht solche Abende, die sie alles vergessen ließen, was ihr von dem Sohn widerfahren war? Dachte sie vielleicht jetzt in ihrer Pension voll Sehnsucht an diesen Saal, an Ulrich Reuschhagen, suchte sich fern in die Atmosphäre dieses Menschen zu schwingen?

Das, ja das konnte sein! Das war möglich! Nichts bürgerlich Moralisches, aber solche Wünsche, gerade diese Wünsche traute Kamp der unglücklichen Frau zu. Vielleicht war ihr alles sonst im Leben gleichgültig, und sie lebte nur auf, wenn Ulrich Reuschhagen am Flügel saß, oder auch sein Sohn ihr die Welt dieses Großen vortäuschen konnte. Er dachte daran, wie er Gerda kennengelernt hatte: wie sie in dem Saal der kleinen Dorfwirtschaft auf einem Stuhl saß, den sie sich aus einem Winkel hervorgezogen hatte, und dem Spiel Reuschhagens zuhörte. Vielleicht war das die Lösung ihres Lebensrätsels!

Ulrich Reuschhagen begann wieder zu spielen. Kamp mußte sich sagen, daß er ein solches Klavierspiel noch nie gehört hatte. Die Sätze der Beethovenschen Sonate wogten vorüber. Mit ungelenken eckigen Bewegungen verließ Ulrich Reuschhagen das Podium, beachtete nicht den Beifallssturm, blieb eine Weile draußen, kam wieder, setzte sich mit leichter Verbeugung sofort an den Flügel und tauchte in die Welt Schuberts. Ein goldener ewiger Knabe, aber mit der Kraft eines Riesen. Selbst an diesem mit Spannung geladenen Tag vergaß Kamp minutenlang, weshalb er hier saß. Und wenn es ihm einfiel, dachte er zunächst an die Frau, die jetzt In ihrem Pensionszimmer saß und vielleicht mit jeder Faser ihres Herzens hierher verlangte und wußte, daß sich in dieser Atmosphäre gleich etwas Furchtbares ereignen würde.

In der Pause war keine Gelegenheit, an Adalbert Reuschhagen heranzukommen. Er mußte sogleich in das Künstlerzimmer zu seinem Vater gegangen sein. Wenn doch der Platz in der ersten Reihe leer bliebe! mußte Kamp denken. Wenn doch Reuschhagen mißtrauisch geworden wäre und sich entfernt hätte, um niemals wieder aufzutauchen! Aber es war nicht. Kurz bevor der Meister auf das Podium kam, setzte sich der Sohn mit wichtigen Bewegungen auf seinen Platz. Kamp war nicht auf seinen Stuhl gegangen, weil er beide Reuschhagens von dem Stehplatz aus besser sehen konnte. Auch Neumann bemerkte er jetzt vornan stehend. Adalbert konnte nicht mehr entkommen. Mit einem Sprung wäre der Beamte bei ihm gewesen.

Kamp bemühte sich, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Aber es wollte ihm nicht mehr gelingen. Er fühlte die peinliche Szene von Reuschhagens Verhaftung herannahen. Wie ein Verräter kam er sich vor dem großen Virtuosen vor, der sich von keinem Unheil umlauert fühlte. Er zerbrach sich den Kopf, wie man alles einrichten konnte, um dem Vater nicht weh zu tun. Konnte man Reuschhagen festnehmen, ehe er das Künstlerzimmer betrat? Aber mußte denn der Vater nicht sofort alles erfahren? Sollte er seinen Sohn vermissen? Würde er nicht sofort nach ihm fragen? Kamp konnte nicht mehr zuhören. Wie würde jetzt alles kommen?

Das Programm war zu Ende. Man klatschte, man raste. Die hinteren Reihen stiegen auf die Stühle. Man drängte nach vorn. Adalbert Reuschhagen stand zwischen den Klatschenden eingezwängt. Noch eine letzte Frist gab es: der Künstler erschien, setzte sich wieder und gab den zweiten und letzten Satz der Waldsteinsonate zu. Die meisten hörten ihn stehend, auch Adalbert stand, die Hände in den Hosentaschen, nickte manchmal, wenn ihm etwas gefiel. Kamp sah, wie der Wachtmeister im Gedränge die Tür zu gewinnen suchte, durch die Reuschhagen hindurch mußte.

Es war so seltsam, dieses Konzert als Abschluß des aufregenden Tages, als Abschluß der ganzen letzten Tage, und vielleicht als Abschluß einer Begebenheit die sich über Jahre und Jahre hinzog. Mußte auch nicht in dem Leben des großen einsamen Menschen dort oben auf dem Podium dieser Abend einen furchtbaren Einschnitt bilden?

Jetzt war das Rondo vorüber. Noch einmal rauschte der Beifall auf. Noch einmal stand Ulrich Reuschhagen auf dem Podium und verneigte sich. Die meisten wandten sich zum Gehen, der Saal entleerte sich langsam. Vorne waren die Bänke schon leer. Nur Adalbert Reuschhagen stand mit einigen Damen in Unterhaltung. Kamp sah, wie Neumann an der Tür wartete. Aber Reuschhagen ging nicht durch die Tür. Mit einem Satz sprang er auf das Podium und ging in das Künstlerzimmer hinein. Hatte er Wind bekommen? Man brauchte es nicht anzunehmen. Es konnte lediglich in der Absicht geschehen sein, auf dem schnellsten Wege zu seinem Vater zu kommen.

Kamp und der Wachtmeister warfen sich einen Blick zu. Der Student hatte verstanden: Neumann wollte ebenfalls über die Bühne in das Künstlerzimmer vordringen. Kamp sollte von außen herum gehen, um Reuschhagen den dortigen Ausgang abzuschneiden. Er ging über die Garderoben und dann die kleine Treppe hinauf in den Raum, wo der Meister sein mußte. Eine Menge Menschen gingen vor ihm in die Höhe. Er sah in das Künstlerzimmer hinein. Ulrich Reuschhagen ragte dort mit durchgeschwitztem Kragen und munterem Gesicht und teilte Händedrücke aus. Der Sohn stand in der Nähe und sprach eifrig auf einige Zuhörer ein. Die Tür zum Saal war im Hintergrunde halb offen. Kamp sah den Wachtmeister hinter ihr warten. Von vorn strömten noch immer neue Menschen hinein, um dem Meister zu danken.

Dachte Reuschhagen wirklich nicht an Fliehen? Wenn er nun plötzlich hier herausging, sollte Kamp sich ihm entgegenwerfen? Oder sollte er den Mörder Werneuchens entweichen lassen? Er ging noch einmal die Treppe hinunter und holte seine und Neumanns Garderobe. Es herrschte noch starkes Gedränge. Er mußte minutenlang warten, ehe er die Sachen herausbekam. Wenn Reuschhagen sich in dieser Zeit entfernte, so mochte er es tun. Aber Kamp ging die Treppe wieder hoch und hatte oben noch das gleiche Bild. Den Virtuosen, wie er Händedrücke austeilte, und den Sohn, wie er auf eine Gruppe von Menschen einredete.

Es dauerte etwa zehn Minuten, dann verließen die meisten den Raum und gingen fort. Nur einige besonders nahe Freunde standen herum. Der Wachtmeister hinter der Tür hatte sich noch nicht gerührt. Jetzt band sich Ulrich Reuschhagen unter Scherzworten einen neuen Kragen um. Eine junge Dame hielt ihm den Frack, pflanzte sich vor ihm auf und knotete den Schlips zusammen. Es war klar, daß die Anwesenden erst mit dem Meister selbst fortgehen würden. Da trat Neumann unauffällig zur Tür herein, nahm Reuschhagen ein wenig zur Seite und flüsterte ihm einige Worte zu. Der junge Musiker sah ihn erstaunt an. Hatte er wirklich keine Ahnung? Neumann wies ihm einen Augenblick lang das Kriminalistenabzeichen vor. Nun fuhr ihm doch ein eisiger Schrecken über das Gesicht.

Da drehte Ulrich Reuschhagen sich um und sah seinen Sohn mit einem fremden Manne stehen. Er ging näher.

»Was gibt es?« fragte er.

Kamp hörte, wie Adalbert dem Vater einige Worte zuwarf. Sie kamen zu dritt aus dem Zimmer. Der Meister warf die Tür hinter sich zu. Nun standen sie auf dem oberen Treppenabsatz zusammen: Vater und Sohn, und hinter ihnen Kamp und der Wachtmeister.

»Adieu, Vater!« sagte Adalbert. Es klang ganz heiter, wie er es sagte.

»Es wird doch nichts sein, mein Junge?«

»Doch, Vater, etwas Schlimmes! Etwas sehr Schlimmes! Gerda Werneuchen!« Wie so ganz anders sah Adalbert Reuschhagen aus, als er vor dem Vater stand.

Der Alte hatte sofort begriffen. Seine Züge schmolzen merkwürdig zusammen. Ein ungeheures Weh ergoß sich über sein Gesicht.

»Junge!« sagte er. »Gehst du von mir?«

»Ich gehe von dir, Vater! Habe Dank für – alles!«

»Junge! Junge!«

Der Alte nahm den Sohn und umarmte ihn. Hierbei sah das Gesicht Adalberts schon wieder aus, als mache er sich im Innern über den gefühlvollen alten Herrn lustig. Ulrich Reuschhagen aber preßte ihn in wehem Schmerz an sich, küßte ihn auf Mund und Stirn. Er hatte begriffen, daß er für immer Abschied von seinem Kind zu nehmen hatte. Er hielt den Jungen umschlungen. Aber vielleicht umarmte er nur das Idealbild, das er sich von einem Sohn gemacht hatte und das nun in alle Winde zerstäubte.

»Leb' wohl, Adalbert!«

Er ließ ihn los. Sein Gesicht war seltsam alt geworden.

»Rasch meine Sachen! Ein Auto!« herrschte er den blonden Studenten an. Er selbst klammerte sich an die Treppe. Es war ihm unmöglich, in das Künstlerzimmer hineinzugehen, Kamp machte die Tür auf. Zehn fragende Augen starrten ihn an.

»Was ist los?«

»Etwas mit dem Sohn«, stammelte er. »Der Meister will seine Sachen haben!«

Man reichte ihm Hut, Mantel und Stock. Niemand fragte ihn mehr und niemand folgte ihm, als er hinauseilte. Man wollte den Meister draußen nicht stören. Kamp reichte ihm die Sachen. Er nahm sie und ging wortlos die Treppe hinunter. Nicht einen Blick mehr warf er auf den Sohn, der bleich neben dem Kriminalbeamten dastand.

Als der Alte verschwunden war, sagte Reuschhagen: »Kommen Sie!« und ging langsam die Treppe voran. Es war wohl noch der Bannkreis des Vaters, der ihm Haltung gab.

Sie saßen im Auto. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, zog Neumann die Handfesseln hervor, um sie ihm anzulegen.

»Wozu eigentlich?« fragte Reuschhagen.

Im Nu hatte er einen Revolver aus der Tasche gezogen, hielt ihn gegen die Schläfe und drückte ab. Der Knall zersprengte fast den kleinen Raum und füllte ihn im Handumdrehen mit Rauch und Gestank, Der Kutscher hielt mit einem Ruck.

»Bis zur Laterne!« rief Neumann.

Sie rissen die Türen auf, zerrten das Gesicht ans Licht. Ein wenig Blut sickerte unter der linken Schläfe hervor, das war alles. Sie sahen in ein eisiges, schweigendes Antlitz ohne Ausdruck. Selbst die Augen hatte der Tote geschlossen. Neben der Laterne stand auf einmal Ulrich Reuschhagen mit dem breiten Hut und dem schwarzen Mantel. Er beugte sich über das Gesicht des Toten, sah einen Augenblick hinauf und ging schweigend davon.

»Wir wollen ihn in seine Wohnung bringen«, sagte Neumann.

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Unten im Hausflur trafen sie auf den Sipomann, der als Wache ausgestellt war. Er half ihnen die Leiche heraustragen. Sie die fünf Treppen hinaufzuschaffen, waren sie zu wenige. Kamp ging hinauf, nm Hilfe zu holen. In der Tür des Pensionats standen Gerda und Elma. Sie hatten das Auto kommen hören.

»Er ist tot!« sagte Kamp.

In Gerdas Augen hatte er es aufblitzen sehen. Mit einemmal fiel ihm ein, wie Reuschhagens Tod auf sie wirken mußte. Es war sein Schuldbekenntnis gewesen. Niemand konnte nunmehr behaupten, daß sie ihn zu seinem Verbrechen angestachelt hatte. Sein Tod wischte jeden Verdacht von ihrer Gestalt fort. Nur ihm, Kamp, würde nun niemand mehr Antwort auf seine Frage geben. Nie würde er erkennen, ob sie Werneuchens Tod gewollt hatte, oder ob er ihr nur gelegen kam, oder ob sie um ihren Mann im Herzen trauerte. Nie mehr würden ihn nun, wenn er an sie dachte, Werneuchens Worte verlassen: »Sie wird ihre Rolle als Witwe herrlich spielen!« Aber vielleicht wußte Werneuchen selbst nicht, ob er damit einmal recht haben würde.

Der Kommissar kam mit leisen Bewegungen die Treppe heruntergeschlichen und beschwor sie, still zu sein.

»Der Mensch da oben ist wieder hinter der Tür!« sagte er. »Ist Reuschhagen gefangen?«

Kamp flüsterte ihm das Vorgefallene zu. Leuthold nickte. Neumann kam ebenfalls schon die Treppe herauf.

»Wir müssen die Wohnung aufbrechen. Es hilft nichts.«

Sie gingen leise hinauf. Wer mochte dort hinter der Wand stehen? Mit lautlosen Bewegungen schlich sich der Student an die Tür. Kein Zweifel, dort atmete jemand. Kamp drückte auf den Klingelknopf. Wieder hörte man das Schnarren der Schelle im Innern.

»He, Reuschhagen! Machen Sie auf! Ich höre doch, daß Sie zu Hause sind!«

Keine Antwort kam. Kamp hämmerte mit Fäusten gegen die Tür.

»Reuschhagen, he!«

Nichts rührte sich im Innern. Nur der Atem rasselte ein wenig heftiger.

»Nun, dann müssen wir das Mädchen etwas erschrecken!« sagte Leuthold und kommandierte: »Los!«

Eine Fackel flammte auf. Lange Schatten stoben zur Decke empor. Eine Axt krachte gegen die Türfüllung. Splitter flogen. Die Lichtkegel zweier Taschenlaternen kreuzten sich in einem dunklen Loch. Eine große schwarze Gestalt stand da, aufrecht, mit erhobenen Armen. Kamp stürzte auf sie zu. Wer war das? Von einem Faustschlag getroffen, taumelte er zurück.

»Bensch!« schrie er entsetzt.

Ein Wirrwarr von ringenden Leibern, herabsausenden Fäusten. Die Gestalt knickte in die Knie, ächzte und schlug dröhnend zu Boden. In den unteren Stockwerken wurden Türen aufgerissen. Rufe platzten nach oben. Auf einmal war Helle von elektrischem Licht, eine Tür tat sich auf. Kamp sah alles wie im Nebel. Habe ich einen Schlag bekommen? dachte er. Das Zimmer begann sich zu drehen. Oder vielleicht war es nur, weil zuviel auf ihn eingestürmt war? Er sah, wie Reuschhagens Leiche durch die Tür gebracht wurde. Er sah, wie Elma vor dem gefesselten Bensch stand und ihn anstarrte. Dann schlugen seine Gedanken über ihm zusammen. Alles verging in einem seltsamen Brausen.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Sofa in Gerdas Zimmer und blinzelte mit den Augen in eine Stehlampe, die auf dem Tisch brannte. Gerda und Elma saßen auf Stühlen daneben. Er war neugierig, was sie tun würden, und beobachtete sie eine Weile. Aber sie saßen nur still und sahen vor sich hin. Wie lange hatten sie schon so gesessen? Wie kam er hierher? Aber dann besann er sich auf alles. Er räusperte sich. Die beiden sahen auf. Er merkte, daß er ein nasses Tuch auf dem Kopf hatte.

»Ist Bensch gefangen?«

Ja, Bensch war gefangen und bereits in das Gefängnis transportiert.


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