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Zweites Kapitel

Es war schon dunkel, als Werneuchen in Regensburg ankam. Er kannte die Stadt nicht. Direktor Goldschmidt von der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft sollte im Parkhotel wohnen. Es war gleich bei der Bahn. Fröstelnd ging er über den freien Platz zwischen Anlagen, deren kahle Büsche im Regen raschelten. Der Portier wußte nichts, ein Herr Goldschmidt aus Hamburg war im Hotel nicht abgestiegen. Vielleicht käme er noch mit dem Abendschnellzug. Werneuchen bestellte sich für alle Fälle ein Zimmer, aber er war durch das Ausbleiben Goldschmidts vollkommen niedergeschlagen. Am liebsten hätte er sich auf einen Stuhl niedersinken lassen und nichts mehr getan. Die durch Wochen der Spannung mühsam bewahrte Haltung drohte von ihm abzufallen. Er hätte es vielleicht ertragen, wenn auch diesmal nichts aus seiner Anstellung wurde, und wäre traurig, aber entschlossen nach München zurückgefahren. Aber daß man ihn so einfach in das Hotel einer fremden Stadt bestellte und dort sitzen ließ, das brannte in seinen Nerven.

Mühsam sich zusammennehmend gab er seinen Namen an.

»Werneuchen? Es ist ein Brief für Sie da«, sagte der Portier. Werneuchen öffnete hastig den weißen Umschlag. Herr Goldschmidt teilte ihm mit, daß er ihn gegen halb neun im »Grünen Baum« erwarte. Gott sei Dank! Der Portier wollte ihm die Handtasche abnehmen, aber Werneuchen brauchte sie wegen der darin befindlichen Papiere. Er ließ sich nur die Nummer seines Zimmers sagen und ging hinaus. So hastig, daß er fast gegen einen Mann gerannt wäre, der an der Hoteltür stand und sich schleunigst entfernte.

Die Unruhe wirkte in ihm noch fort. Der Umstand, daß der Direktor ihn nach einem anderen Hotel bestellte, verwirrte die Vorstellungen, die er sich von dem Verlauf des Abends gemacht hatte. Alles beunruhigte ihn jetzt. Mehrmals mußte er sich umdrehen, als ob jemand hinter ihm her wäre. Er hatte das ungewisse Gefühl einer Gefahr, in der er sich befand. Unter einer Straßenlaterne, die kümmerliches Kleinstadtlicht verbreitete, sah er nach der Uhr. Er hatte noch anderthalb Stunden Zeit. Vielleicht nahm er in der Stadt etwas zu sich. Er beeilte sich, um durch die lange und nüchterne Bahnhofstraße zu kommen. Der »Grüne Baum« sollte im Inneren der Stadt sein. »Regensburg!« schwebte ihm vor, »mittelalterliche Straßen, Barockkirchen, ein alter Dom, Zauber süddeutscher Plätze und Märkte.«

Eigentlich wollte er sich die Stadt erst morgen ansehen. Vielleicht mit Gerda zusammen, malte er sich aus, die Regensburg auch noch nicht kannte. Auf einmal mußte er sich fragen, wie er das wissen konnte. Sie waren ja schon so lange auseinander. Was konnte sie alles inzwischen kennengelernt haben! Vielleicht war sie oft in Regensburg. Vielleicht hatte sie einen Geliebten hier. Sonderbar, daß diese Frau jetzt ein Leben führte, von dem er nichts wußte. Und daß es ihr mit ihm ebenso erging. Da war man gegen fünf Jahre verheiratet gewesen, und dann korrespondierte man nur noch durch Rechtsanwälte. Wieder stand jäh die Frage vor ihm, was sie von ihm wollen mochte? Wozu das Geheimnisvolle dieser Begegnung? Ob sie zu ihm zurück wollte? Auf einmal wußte er, daß er diese Möglichkeit in den ganzen letzten Tagen immer wieder erwogen hatte. Nicht, daß er es tun wollte, o nein! Er konnte es gar nicht mehr tun. Er war an Elma gebunden. Aber er wünschte, daß Gerda es wollte. Es war nicht so, daß er sich etwa darauf gefreut hätte, es ihr abzuschlagen. Ja, es würde ihm sogar schwer werden, es ihr abzuschlagen. Aber es war eine Beruhigung, wenn sie jetzt noch an ihm hing. Es hätte ihm gezeigt, daß es doch alles nicht so furchtbar gewesen war, wie er dachte, daß sie dennoch, trotz allem, anders zu ihm stand und gestanden hatte.

Er kam an einem kleinen Platz vorüber. Hier bewillkommte mit erleuchteter Tür das Gasthaus »Zum grünen Baum«. Er wollte noch nicht hineingehen. Wieso eigentlich nicht? Direktor Goldschmidt war wahrscheinlich noch nicht dort. Und wenn er dort war, erkannte er ihn nicht. Er konnte sich an einen Tisch setzen und zur Nacht speisen und in einer Stunde dann nach dem Direktor fragen. Aber er ging doch vorüber, merkte sich die Lage und suchte, das Innere der Stadt zu erreichen. Man mußte sich diese alte und prächtige Stadt wohl näher ansehen.

»Regensburg! Regensburg!« sprach er leise vor sich hin und dachte darüber nach, welche innere Verbindung er mit dieser Stadt hatte. Natürlich, er hatte sie in der Schule gelernt und von ihr gehört. Dort gab es einen Strudel und dort floß der Regen in die Donau. Aber das war es nicht. Es gab da noch eine ganz persönliche Verbindung zwischen ihm und der Stadt, er wußte nur nicht, welcher Art sie war. Aber er hatte ein Gefühl, als ob er einmal in Regensburg gelebt hätte, vielleicht in einem früheren Dasein. Es gibt solche dunkle Erinnerungen, die aufsteigen, man weiß nicht, woher.

Er schritt an dem Dom vorüber, der riesengroß in das Dunkel wuchtete. So groß, daß er die oberen Ränder des Daches und der Türme nicht mehr sah. Wie an einem Gebirge ging er vorüber, das oben in den Wolken verschwand. Nur wenige Menschen waren zu bemerken. Dann aber kam er in eine enge, steile Straße, die voller Leben war. Auch das hatte er einmal schon alles gesehen. Vielleicht war es aber nur die Ähnlichkeit mit einer anderen Stadt. Rechts und links führten schwarze Straßenschluchten in ein ungewisses Dunkel, hinauf und hinab. Er ging nach rechts, kam durch Tore und Zwergplätze, die wie aus Stein geschnitten waren, und schließlich zu der großen Brücke, die über den Strom führte. In der Dunkelheit hörte er die Wasser gurgeln. Lichter schwammen längs der Ufer und versanken in der Tiefe. Jenseits der Brücke lag eine neue Stadt mit Mauern und Türmen. Er kannte das alles, als ob er es in einem Traum gesehen hatte. Über die Brücke gingen nur wenige Menschen. Ganz klein sahen sie vor der hohen Mauerbrüstung aus, die die Brücke einfaßte. Über der Mitte des Stromes blieb er stehen und sah sich um. Eigentlich wollte er ein Experiment machen, nämlich feststellen, ob er auch den Ausblick von der Brücke nach der Stadt zu wiedererkennen würde. Ehe er sich umblickte, konnte er sich nur ungefähr ein Bild von aufsteigenden Dächern und Toren machen, wie es in solchen alten Städten eben aussieht. Aber als er nun wirklich sah, da war es wieder, als hätte er alles längst gekannt: die Mauerwehren längs der Ufer, den kleinen Brückenplatz unten und dieses gebirghafte Emporwachsen der Steinmassen, das Hochspringen der Dächerrücken, den unheimlich-traulichen Laternengang in das Innere der Stadt. Alles kannte er wieder.

»Vielleicht habe ich einmal irgendwo im Theater eine ganz ähnliche Kulisse gesehen«, dachte er. »Weshalb sollte ein kluger Regisseur nicht auf die Idee kommen, dieses als Kulisse zu benutzen. Und wenn ich recht nachdenke, könnte ich noch in meinem Gedächtnis die Handlung herausbringen.«

Dann ging er weiter. Er hatte immer noch Zeit, in den »Grünen Baum« zurückzukehren, und sogar noch etwas zu essen, bevor er den Direktor traf. Jenseits des Stroms verlor er sich rechts in ganz kleinen Gassen, die wie zum Spaß gebaut erschienen. Er ging eine lange dunkle Mauer entlang, mit einem leisen Schauder im Herzen, der ihm sonderbar wohltat. Links von sich glaubte er ein altes Kloster zu erkennen, obwohl die wenigen armseligen Laternen nur ein ungewisses Licht hergaben. Auf einmal ließen ihn die Häuser frei, und er stand wie auf einer spitzen Landzunge, rings von Wasser umgeben. Hier strömte der Regen in die Donau, wie er es gelernt hatte. Wie am Gestade eines Meeres war es, als ob nun gleich das Land zurückweichen und das freie Meer sich auftun müßte. Der Anblick der Wassermassen, die so dunkel daherrollten, erschütterte ihn auf eine ganz eigene Weise.

Obwohl es allmählich spät wurde, konnte er sich nicht sogleich entschließen zurückzugehen. Der kalte Regen fiel noch immer, aber er lehnte sich gegen einen Bretterzaun und versank in den Anblick der Fluten, die unaufhaltsam an ihm vorbeistrudelten. Er genoß das graue Licht, das über den Wassern lag, und den fernen Widerschein der Lichter, die aus den Häusern der Stadt ins Tiefe sanken, immer tiefer sanken und doch immer noch zitternd sichtbar blieben. Ihm war, als hätte diese dunkle Ecke zeit seines Lebens auf ihn gewartet. Am liebsten wäre er hier stehengeblieben bis in alle Ewigkeit. Er hatte Angst vor der Unterredung, die in der Stadt auf ihn wartete, und selbst vor der Begegnung mit Gerda. Ihm war, als ob ihm an dieser Stelle nichts geschehen könnte, als ob er hier, wo der Himmel sich mit den unendlich strömenden Wassern berührte, über die Hetze seines Lebens hinausgehoben war.

Eine Viertelstunde stand er hier, ehe er sich auf den Rückweg machte. In kürzerer Zeit, als er gedacht, schob er sich wieder am jenseitigen Ufer durch die dunkle Schlucht eines Torbogens in die Gasse, die aufwärts führte, ging an den Schatten des Doms vorüber und stand in dem erleuchteten Eingang des »Grünen Baums«.

Der Portier zeigte auf einen Herrn im Eßsaal. »Herr Direktor Goldschmidt sitzt dort!« Werneuchen gab sich einen Ruck und trat mit elastischem Schritt an den Tisch heran.

Der Direktor sah sehr anders aus, als Werneuchen sich vorgestellt hatte. Bei weitem nicht so furchteinflößend, wie es seiner Wichtigkeit für Ernst Alexanders Leben zugekommen wäre. Ein kleiner sächselnder Herr mit einem runden Bäuchlein über schmächtigen Schenkeln, mit grauem Zwickelbart und goldner Brille, saß in seinem grauen Anzug vor einem deutschen Beefsteak und einem Bierhumpen. Und dennoch schien der Mann Werneuchen irgendwie unheimlich, gerade durch die Gutmütigkeit, die von ihm ausströmte. Es erschien Werneuchen auf eine beklemmende Art grotesk, daß das Schicksal diese Gestalt annehmen konnte.

Goldschmidt ließ ihn Platz nehmen und forderte ihn auf, sich etwas zu bestellen. Er freute sich, daß auch Werneuchen noch nicht zur Nacht gegessen hatte. Sein Mitdirektor Erkner wäre leider heute abend verhindert, und so müsse Herr Werneuchen mit ihm allein vorliebnehmen. Aber gleich im voraus müsse er ihm sagen, daß heute abend eine endgültige Entscheidung noch nicht fallen würde. Erkner und er müßten noch dem Generaldirektor in Hamburg berichten, in dessen Händen das letzte Wort läge.

Werneuchen mußte sich Mühe geben, um nicht zusammenzusinken. Wenn er eine Absage bekommen hätte, würde es auf ihn nicht so niederschmetternd gewirkt haben wie diese Verlängerung der Ungewißheit. Das wäre sehr schlimm, meinte er, denn er müsse sich doch einrichten und hätte auch andere Angebote. Daß er dieses gesagt hatte, bereute er gleich wieder, denn vielleicht zog man ihm, dem Glücklichen, der noch andere Angebote hatte, einen armen Teufel vor, der sonst nichts besaß. Er wollte das Wort zurücknehmen, würgte daran, brachte es aber nicht über die Lippen, weil er einen schlechten Eindruck zu machen fürchtete.

Herr Goldschmidt beruhigte ihn. Letzten Endes käme es doch auf seinen Bericht an, und wahrscheinlich würde er gut berichten können. Ja, er könnte ihm die Stelle so gut wie versprechen, nur daß er ihm eben nicht das allerletzte Wort sagen dürfte. Aber es wäre ja so gut wie sicher, obwohl natürlich für den Posten eine lange Reihe von Bewerbern vorhanden wäre.

»Bitte«, sagte Werneuchen mit reservierter Offiziersmiene. »Aber vielleicht können Sie mir wenigstens sagen, ob ich wirklich, ganz ehrlich gesprochen, für den Posten in engste Wahl komme.«

»Ganz ehrlich gesprochen, Herr Werneuchen, so stehen Sie in allerengster Wahl. Aber wir haben natürlich auch mit anderen Herren verhandelt, und nun werden wir nach Hamburg zurückfahren, uns dort die Sache noch einmal gründlich überlegen und Ihnen dann sofort, wenn Sie es wollen, telegraphisch, Antwort zukommen lassen.«

»Meinen Sie, Herr Direktor, daß ich den Posten erhalten werde?«

»Das glaube ich Sie schon«, sächselte der Direktor, zuckte aber gleich darauf wieder mit seinen Achseln. Werneuchen sah, daß er aus dem Mann nichts Näheres herausbringen würde, und lehnte sich mit einem Seufzer in den Stuhl zurück.

»Nun müssen wir uns einmal über das Geschäftliche klar werden«, fuhr Herr Goldschmidt fort. Werneuchen reckte sich auf, als ob er für nichts in der Welt interessierter wäre, als für die Organisation der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft. Der Direktor setzte ihm seine Stellung auseinander: Werneuchen sollte die Aufsicht über die Propaganda und die dort arbeitenden Herren im Bezirk Hamburg erhalten. Es war also ein »großer« Posten. Kundenbesuche hatte er selber nicht zu machen, aber man erwartete von ihm unbedingte Zuverlässigkeit, schneidiges Auftreten gegenüber den ihm unterstellten Herren – das Wort »schneidig« machte sich in Herrn Goldschmidts sächselnder Aussprache besonders markant – und organisatorische Fähigkeiten.

Während er redete, überschlug Werneuchen seine Chancen. Man wollte offenbar, wie es nach der Schilderung Goldschmidts aussah, einen Offizier in die Organisation hineinhaben. Werneuchen traute sich selber zu, über dem Durchschnitt seiner einstigen Kameraden zu stehen. Aber er hielt es bei seiner scharfen Menschenkenntnis nicht für ausgeschlossen, daß dieser Herr Goldschmidt einen ganz richtigen Durchschnittsoffizier mit Rücksichtslosigkeit und »Schneid« suchte. Einen, wie Werneuchen es nicht war. Dann gab er seinerseits zum besten, was er sich als sein Organisationsprogramm zurechtgelegt hatte, möglichst in preußischen Offizierston fallend, aber so, wie man ihn einem Vorgesetzten gegenüber gebraucht, und forschte im Gesicht des kleinen grauen Männchens ängstlich nach der Wirkung seiner Worte. Er schien zu gefallen, Herr Goldschmidt taute sichtlich auf. Aber sobald er selbst es bemerkte, zog er sich wieder zurück und verschanzte sich hinter unverbindlichen Redensarten. Werneuchen hatte das Gefühl, daß man mit ihm spielte wie die Katze mit der Maus. Manchmal wollte er aufspringen und dem Mann ihm gegenüber ins Gesicht schreien: »Machen Sie mich doch nicht zum Narren! Ich sehe es ja, Sie wollen mich gar nicht!« Dann wieder schien es ihm, als ob der kleine Direktor nur ein wenig vor sich selber in seiner Machtfülle erglänzen wollte und im Grunde ein gutmütiges Tier war. Wahrscheinlich wartete er nur darauf, daß man »das Geschäftliche« hinter sich brachte und in die angenehmere Region der unanständigen Witze hineinsegelte.

»Eine subalterne Existenz!« knurrte Werneuchen in sich hinein, schamvoll, daß sein Leben diesem Menschen ausgeliefert war. Aber es konnte ebensogut sein, daß ein kleiner grausamer Kobold vor ihm saß und sich an seiner Verlegenheit weidete. – Weshalb nur der andere Direktor nicht da war!

Aber Herr Direktor Erkner hatte eine ihm befreundete Familie in der Stadt, bei der er wohnte und mit der er abends ins Theater gegangen war. Er wollte sich dann sofort zu Hause hinlegen, weil er, entgegen ihrem ursprünglichen Plan, am nächsten Morgen mit dem Berliner Nachtzug nach München fuhr. »Hätten wir das gleich gewußt, hätten wir Sie nicht nach Regensburg zu bestellen brauchen, Herr Werneuchen. Herr Erkner hätte sich dann in München mit Ihnen verabredet.« So war also diese ganze Reise eigentlich überflüssig gewesen!

Goldschmidt hingegen wollte am nächsten Abend nach Hamburg zurückfahren. »Vielleicht kommen Sie gleich mit, Herr Werneuchen, und stellen sich unserm Generaldirektor vor?«

Im Augenblick war Werneuchen dabei. Es war wirklich das beste, wenn er sofort mit nach Hamburg fuhr. Er brauchte dann keine entsetzliche Wartezeit durchzumachen. Der Gedanke, nach München zurückzukehren und dort auf die entscheidende Depesche lauern zu müssen, schien unerträglich. Viel besser war es, in ständiger Bewegung zu sein, die Nacht durchzufahren, zu sprechen, zu unterhandeln, bis man die Entscheidung in Händen hatte. Wenn er nur die Kaution bei sich gehabt hätte! Wie anders stand er in Hamburg da, wenn er die fünftausend Mark prompt auf den Tisch legen konnte.

Sie sprachen hin und her. Herr Goldschmidt stritt es nicht ab, daß fünftausend hingelegte Mark einen gewissen Eindruck machen. Er betonte die Solvenz der Firma. Aber man wäre schon mehrfach mit Herren hereingefallen, die nachher das notwendige Geld doch nicht besaßen. Übrigens könnte Herr Erkner ja das Geld aus München mitbringen, da er morgen hinführe. Man kam überein, daß Werneuchen Herrn Erkner einen Brief an Otmar Kamp mitgäbe, auf Grund dessen Kamp Herrn Erkner den ausgefüllten Blankoscheck auslieferte.

Einen Augenblick war Werneuchen erschrocken. Alle Bedenken fielen ihm ein, die Kamp gegen dieses Stellenangebot ins Treffen geführt. Wollte man ihm nur die fünftausend Mark abjagen? War dieser Direktor Goldschmidt vielleicht ein Gauner? Er sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ein beweglicher Spießbürger saß ihm gegenüber, eine Seele von Mann, dessen Augen unter der Einwirkung des fünften Glases Bier bereits lustig zu schwimmen anfingen. Aber selbst wenn dieser Mensch ein gerissener Gauner war, so wollte Werneuchen in diesem Augenblick lieber ein Ende mit Schrecken, irgend etwas Tolles, als weiter dieses aufreibende Warten und Bangen ertragen.

»Gut!« sagte er. »Ich gebe Herrn Erkner den Brief an meinen Freund mit. Ich kann ihn gleich schreiben. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, ihn ihm zu übergeben.«

Aber Herr Goldschmidt traf seinen Kollegen nicht mehr. Er wollte sich morgen früh ausschlafen und dachte keineswegs daran, wegen des Briefes früh aufzustehen und zum Berliner Nachtzug zu gehen.

»Zu dem Berliner Zug muß ich selber gehen,« sagte Werneuchen, »da ich einen Bekannten mit ihm erwarte.«

Wieder stand ihm Gerdas Bild lebhaft vor Äugen.

»Um so besser! Sie können Erkner nicht verfehlen. Wer fährt denn schon um die Zeit von Regensburg mit diesem Zug nach München! Und Erkner ist gar nicht zu verkennen.«

Werneuchen ließ sich Papier und Tinte kommen und setzte in Eile den Brief auf, Kamp erklärend, wie die Sache stand und warum er die Kaution sofort brauchte. Würde er die Stellung bekommen? Diese Frage ging ihm während des Schreibens ständig durch den Kopf. Ja! sagte ihm eine Stimme, der sofort hundert andere Stimmen Nein! entgegenschrien. Seine Feder rasselte über das Papier. Nur keinen Augenblick mehr darüber nachdenken müssen! Wenn nur erst diese Nacht vorüber wäre, in der er vor Ungewißheit doch nicht schlafen konnte. Dann, am Morgen, gab er Herrn Erkner auf dem Bahnhof den Brief, empfing Gerda, brachte mit ihr irgendwie den Tag hin. Dieser Tag würde so ausgefüllt sein mit Erzählen und Besprechen, daß er wie im Flug vorübereilen mußte. Dann kam die Nacht auf der Eisenbahn, und dann der Besuch bei dem Generaldirektor. Die Zeit war herrlich besetzt bis zur fallenden Entscheidung. So war es richtig!

Während er schrieb, trommelte Herr Goldschmidt neben ihm auf der Tischplatte den Hohenfriedberger Marsch und pfiff dazu. Die Gesprächspause machte ihn müde. Er sehnte sich nach seinem Bett.

»Das ist kein richtiger Abschied!« dachte Werneuchen und bestellte zwei Kognaks, um das Wohlwollen des Gewaltigen nicht einschlafen zu lassen. Die Kognaks waren das Richtige. Auch Herr Goldschmidt bestellte noch zwei, dann stand er auf, um in sein Zimmer zu gehen. Am nächsten Abend wollten sie sich am Berliner Schnellzug treffen.

Als er auf die Straße trat, hatte es aufgehört zu regnen. Dunkle Wolkenmassen wurden über den Himmel gerissen. Dazwischen kam hier und da ein Stern zum Vorschein. Im ersten Stockwerk des Hotels ging ein Licht an. Werneuchen sah, wie Herr Goldschmidt ans Fenster trat und die Jalousien herabließ. Er war schon in Hemdsärmeln. Werneuchen wunderte sich, daß ihn dieser Anblick irgendwie beruhigte. Goldschmidt folgte ihm also nicht. Zu seinem Erstaunen merkte er, daß er etwas Ähnliches befürchtet hatte. Wer war Herr Goldschmidt? Einer, der Inserate erließ und fünftausend Mark Kaution verlangte. Weiter wußte er nichts. Aber Herr Goldschmidt wußte von ihm, daß er einen Brief mit einer Anweisung auf fünftausend Mark in der Tasche trug. Aber diesen Brief hatte Werneuchen Herrn Goldschmidt doch persönlich übergeben wollen, und Herr Goldschmidt hatte ihn zurückgewiesen. Oder war das nur eine Finte?

Natürlich war das alles Unsinn! Herr Goldschmidt war ein braver Spießbürger. Aber Werneuchen belauschte sich doch, wie er noch eine Weile vor dem Hause stehenblieb und das Licht hinter dem Fenster beobachtete. Endlich erlosch es, Herr Goldschmidt war schlafen gegangen. Aber vielleicht trat er jetzt gleich aus dem Hause, um Werneuchen nachzueilen und ihn in der dunklen, menschenleeren Bahnhofstraße von hinten zu überfallen? Werneuchen mußte über seine Hirngespinste lächeln, und doch blieb er noch eine ganze Weile stehen, ehe er weiterging. Aber er bog nicht nach rechts in die Bahnhofstraße, sondern ging links in die Straßenschlucht hinein. Vielleicht war das eine Vorsichtsmaßregel gegenüber dem unheimlich harmlosen Goldschmidt? Aber es war wohl nur – Werneuchen war sich dessen nicht ganz sicher –, weil ihn jene einsame Stelle am Zusammenfluß der Ströme geheimnisvoll anzog. Er ging an kleinen Laternen vorüber, sah das matte Licht des Flusses glänzen und in der Ferne die Silhouetten der Häuser jenseits des Stroms. Auf der langen Brücke, die bis zur Mitte der Donau anstieg, war kein Mensch zu sehen. Auf der Höhe machte er halt und sah sich um. Wie eine tote Geisterstadt lag Regensburg. Die Dächer und Türme schoben sich dunkel übereinander und türmten die Kulisse gegen den ungewissen Himmel. Nur ein einzelner Spaziergänger lehnte am Anfang der Brücke seine schwarze Gestalt über die steinerne Brüstung und sah ins Wasser hinab.

Wieder kam ihm das alles unheimlich bekannt vor. Er kannte die Szenerie in allen Einzelheiten wieder. Nach einer Weile ging er weiter. Ihn umfingen die Gassen, die kaum für Menschen gedacht schienen, so klein und spielzeughaft waren sie. Wieder lagen zur Linken die grauen Umrisse des Klosters. Die lange dunkle Mauer kam und bog dreimal scharf um die Ecke, und dann stand er wieder auf jener spitzen Landzunge, an der von zwei Seiten die Wasser unübersehbar vorübergurgelten. Wie unzählige Köpfe mit Brust und Schultern hob es sich aus dem grauen Gewoge, schwoll vorwärts und sank zurück, um wieder aufzutauchen. Jahrhunderte und Jahrtausende strömten hier vorüber. Ihn beruhigte die Unendlichkeit des Bildes, er fühlte sich über die Jagd seines gehetzten Daseins hinausgehoben. Wie ein Tier, dachte er, das in die Einsamkeit des Dickichts flüchtet.

Auf einmal fühlte er, wie die Ungewißheit seines Schicksals, die nun wieder tagelang anhalten würde, an ihm zehrte. Heute abend wollte er den Vertrag in der Tasche haben, und nun war es wieder nichts gewesen als Aussichten. Nun ging es wieder weiter mit Reisen und Besprechungen und Demütigungen. Jetzt erst merkte er, wie müde er war, da er so ganz allein in der Nacht und an den Strömen stand. Weshalb warf er nicht alles von sich und tauchte unter? Vielleicht nicht in diese Wasser hinein, was schon das beste gewesen wäre, aber in eine andere Landschaft, in einen anderen Beruf, in andere Gegenden, in Amerika, wo man nichts von ihm wußte. Weshalb wurde er nicht irgendwo Bergmann oder Steinklopfer? Weshalb zerriß er nicht die Bande, die ihn mit dem Leben so vieler Menschen verknüpften!

Auf einmal, da er wieder an seine Lage dachte, an Gerda und Elma und die Kinder, kam die Angst über ihn, daß er hier so allein inmitten der Finsternis stand. War da nicht der Schritt eines Menschen hinter ihm gewesen? Er drückte sich ganz dicht an den Zaun. Nein, es war alles still, nur die Wasser gurgelten unaufhörlich vorüber, oder eine Wasserratte hatte in ihrem Loch rumort. Er blieb dennoch eine ganze Minute gegen den Zaun gepreßt stehen und wagte kaum zu atmen. Gesichter tauchten vor ihm auf mit gräßlichen Grimassen. Er sah Herrn Goldschmidt vor sich, wie er mit den Fingern den Hohenfriedberger Marsch auf der Tischplatte trommelte. Unwillkürlich griff er nach dem Brief an Kamp. Er sah Gestalten huschen. Er hätte schreien mögen. Wenn er jetzt mit einem gellenden Schrei die Nacht zerriß, konnte ihn das vielleicht retten? Aber das war ja alles Unsinn! Seine Nerven waren in den letzten Wochen erbärmlich geworden. Daß er nur morgen nicht laut aufweinte, wenn er zum erstenmal seit Monaten Gerda wiedersah! Er mußte nach Hause, noch einige Stunden schlafen, ehe er aufstand und zum Bahnhof ging. Wenn nur am Zaun nicht diese dunklen Pfähle gewesen wären, die wie lauernde Gestalten aussahen.

Er drehte sich um und ging in das Dunkel der Gasse zurück.


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