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Elftes Kapitel

Als Kamp und Elma in der Ettstraße standen, wußte der Student nicht recht wohin. Am liebsten hätte er Elma mit in Werneuchens Villa genommen, um sie, fern von allen Menschen, zuerst einmal zu sich selber kommen zu lassen. In diesem Zustand konnte er sie unmöglich zu ihren Eltern bringen. Wohin aber mit ihr?

Seit Mittag hatten sie beide nichts gegessen, jetzt war es inzwischen halb neun geworden. Vielleicht konnte man sie bewegen, etwas zu sich zu nehmen. Auf seine Frage gab sie keine Antwort, sondern ließ sich willenlos führen. Er schlug den Weg zu einer nahen Weinstube ein, die er kannte. Dort setzten sie sich in eine Nische. Kamp hatte nach all den Aufregungen furchtbaren Hunger und zwang auch Elma, etwas zu bestellen. Sie versuchte zu essen, schob den Teller aber gleich wieder zurück.

»Ich kann nicht!« erklärte sie.

»Liebe Elma!« sagte Kamp und faßte ihre Hand. »Beruhigen Sie sich doch. Glauben Sie mir, ich werde Sie nie verlassen. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Ihnen zu helfen.«

Das war keine Phrase. Kamp überlegte sich bereits im Innern tausend Pläne, wie er ihr helfen könnte. Er nahm sich fest vor, sie, wenn möglich, sogar gegen ihre Eltern zu schützen. Vor allem dachte er sich, in einem halben Jahr sein Examen zu machen und sie zu heiraten, sobald er konnte. Vielleicht konnte man in einigen Jahren soweit sein. Seine Eltern waren wohlhabend und gewiß bereit, ihm einen größeren Zuschuß zu geben. Er überlegte, ob er Elma etwas von seinen Plänen zu Ihrer Beruhigung sagen sollte. Zum Glück unterließ er es. Sie hörte ihm schweigend zu, wie er sie wenigstens seiner lebenslangen treuen Freundschaft versicherte.

Endlich schob sie seine Hand sanft beiseite, als ob sie ahnte, welche Empfindungen sich in ihm regten, und begann plötzlich zu sprechen:

»Wissen Sie, daß Gerda recht hat? Sie sind Ernst Alexanders Freund, aber ich sage Ihnen, es ist entsetzlich!«

Kamp starrte sie fassungslos an. Das in diesem Augenblick aus ihrem Munde zu hören, hatte er nicht erwartet. Sie sprach aus, was er selber soeben auf der Polizeistube in sich zurückgedrängt hatte. Es waren seine eigenen Gedanken, denen sie die ganze Zeit nachgehangen haben mußte.

»Glauben Sie wirklich daran, daß er tot ist?« fragte er, um sie abzulenken.

Sie sah ihn ganz erstaunt an. »Natürlich ist er tot! Er ist ermordet worden! Er hat Gerda geradezu gezwungen, ihn zu ermorden!«

»Gerda?« fuhr Kamp auf. Er glaubte, nicht recht gehört zu haben.

Sie nickte. »Natürlich Gerda! Sie hat ihn durch Bensch ermorden lassen. Ich wußte es von dem Augenblick an, als ich sie vor dem Café sah. Sie hat es getan! Oder glauben Sie etwa an die Komödie mit diesem Herrn Berdelow? Nein, Gerda hat es getan!«

Kamp wußte nicht, was er ihr darauf antworten sollte. Vielleicht hatte die Spannung der letzten Wochen und die Ungewißheit der letzten Tage ihr Denken getrübt. Gleichwohl mußte irgend etwas an ihren Worten wahr sein. Er spürte es deutlich. Er selbst hatte etwas Ähnliches in seinem Inneren gefühlt, das Furchtbare aber nicht einmal zu denken gewagt Nun sprach Elma es nicht nur aus, sondern sie sagte geradezu, daß Gerda recht getan hätte. Ja, das hatte sie gesagt und in dieser Stunde!

Mit einemmal schien dem jungen Studenten die Welt verwandelt zu sein. War dies denn noch die kleine Weinstube, in der er so oft gesessen hatte? Die Möbel, die Wände veränderten ihr Gesicht. Da standen keine gewöhnlichen Stühle und Tische mehr. Er sah den Urstoff, aus dem alles gemacht war. Es war Holz, aus Bäumen, aus grünenden, atmenden Bäumen herausgeschnitten. Aus ermordeten Bäumen! Er sah Menschen, wie sie erbarmungslos durch die Wälder stapften mit Äxten und Beilen, um die Bäume zu morden. Er sah einen Glasbläser in Lumpen, wie er mit röchelnder Lunge die Birne der elektrischen Lampen zu glühenden Blasen auftrieb, bis sie leuchteten. Er sah angstvolle Menschenherden, wie sie Lehm und Ton zu Steinen brannten und zu Mauern schichteten gegen Regen und Sturm.

Es ist ja gar nicht wahr, dachte er, daß wir in einer komfortablen Weinstube sitzen! Da haben die Menschen unter Ängsten und Morden ja nur das Allernotwendigste zusammengekratzt, um sich gerade noch vor dem Aller-, Alleräußersten zu schützen, und siehe, es langt nicht, es langt nirgends. Überall bricht es hervor. Die Angst und das Morden können nicht aufhören, alle Kreatur bleibt verloren und ausgeliefert Das blasse, dunkle Mädchen vor ihm sprach nur aus, was wahr war. Ohne Anklage, ohne Verteidigung. Sie stellte dieses Unerhörte nur fest, daß eine Frau im Daseinskampf ihren Mann ermorden läßt, und daß sie noch recht daran tut. Und das Seltsame war, daß diese Gedanken den jungen Studenten nicht wie bissige Hunde anfielen, sondern sich eher wie ein mildes, weißes Leuchten von oben auf ihn herniedersenkten. Es war, als sähe er es jetzt zum erstenmal wirklich: So ist das Leben, so muß es sein! Es ging nicht anders! Es war kein Wort weiter darüber zu verlieren! Menschenkampf, Geschlechterkampf! Was sprach man für viele unsinnige Worte darüber. Kampf zwischen Mann und Weib! Ja, es war wirklich so. Sie alle kämpfen um ihr Leben, und Morden ist die eigentliche, die ehrliche Daseinsform.

Nein, nein! Das ist ja alles Unsinn! schrie es in ihm dagegen. Das konnte nicht sein! Er durfte es nicht glauben!

»Sagen Sie,« fing Elma wieder an, »die beiden heirateten doch im Krieg, nicht wahr?«

»Gerda und Werneuchen? Gewiß! Sie heirateten, wenn ich nicht irre, im Jahre 1915.«

»Dann ist es richtig«, sagte sie. »Wissen Sie, weshalb er sie heiratete? Er hatte Furcht, zu fallen. Eine entsetzliche Furcht hatte er, zu fallen. Er hat es mir oft gesagt, obwohl er ja so etwas wie ein Held war. Haben Sie einmal seine Orden gesehen? Keiner hat ihm diese Furcht jemals angesehen. Niemals! Er war sicher ein Held. Aber er hatte entsetzliche Furcht. Und nur, weil er nicht allein sein wollte in seiner Angst, weil er wollte, daß sich noch jemand mit ihm ängstige, ja, daß jemand vielleicht Hunger und Entbehrungen erfährt, wenn er gefallen ist, deshalb allein heiratete er. Deshalb! Und nicht aus Liebe! Verstehen Sie, daß das der erste Schritt war, um eine Frau von sich zu stoßen? Daß keine Frau das aushalten konnte? Verstehen Sie denn das nicht?«

»Liebe Elma!« beschwor Kamp. »Ich weiß nicht, wo Sie hinauswollen. Aber das wollen wir Menschen doch alle, daß jemand an uns gefesselt ist in Leid und Not. Das ist doch menschlich!«

»Nein, nein! Menschlich ist Lieben und Hassen. Er aber liebte nicht. Er hatte nur Angst. Und genau so war es mit mir! Er fühlte, daß er untergehen würde, und da sollten wenigstens noch andere mit ihm untergehen. Glauben Sie mir, im Augenblick, als er ermordet wurde, hat er sich geweidet an dem Gedanken, daß ich nun auch verloren bin. Andere Menschen ziehen aus ihrer Liebe Kraft, den Kampf zu bestehen. Und wenn sie untergehen, dann wollen wir Frauen ja auch mitsterben, mitverloren sein. Aber ein Geschenk muß es sein, kein Zwang! Verstehen Sie das denn nicht? Er aber wollte nur Mitleid, verstehen Sie? Mit-Leiden, Mit-Leiden des anderen. Er wollte uns zum Mitleiden zwingen. Er fesselte uns. Er wollte, daß alle mit ihm gequält würden und Angst hätten.«

»Das ist doch alles Einbildung und Konstruktion!« rief Kamp entsetzt.

Sie sah ihn groß und ruhig an. »Nein, das ist einfach wahr.«

Nach einer Weile fing sie von neuem an: »Wissen Sie, daß ich ein Kind erwarte?«

Er nickte.

»Sehen Sie, das war es, was er von Anfang an gewollt hatte: nicht mich und sich glücklich machen, sondern mich an sein Unglück fesseln für immer. Ich sollte ihm nicht mehr entrinnen. Nicht ein bißchen liebte er mich. Ich sollte nur mit ihm untergehen!«

»Das ist ja Wahnsinn!« schrie Kamp. »Das ist nicht wahr! Das bilden Sie sich ein. Ich weiß, daß er Sie liebte! Er wollte für Sie und das Kind arbeiten und kämpfen, nachdem ihm alles andere genommen war!«

»Nein, Otmar! Werneuchen wollte untergehen und mich mitreißen! Das fühlt eine Frau doch! Wissen Sie, worüber ich nachgedacht habe, als ihr glaubtet, daß ich ganz hin wäre vor Schmerz? Ich habe darüber nachgedacht, weshalb ich nicht um ihn trauern kann. Weshalb ich nicht vor Weh nach ihm vergehe. Ich habe mich nur wundern müssen, daß ich ihn selbst in dieser Stunde nicht mehr liebte. Ich wußte das alles ja nicht, aber jetzt, da sein Tod ohne Zweifel war, brach es plötzlich in mir auf. Ich kann ihn nicht mehr lieben, weil er mich nicht geliebt hat. Wenn er mich wirklich geliebt hätte, hätte er nicht sterben können.«

Auf einmal sah sie ihn mit großen, glühenden Augen an. »Aber ich will nicht untergehen! Ich will nicht! Ich will keine Angst mehr haben! Hören Sie, Otmar, ich will ins Leben zurück! Helfen Sie mir!«

Sie sprach ganz leise, aber aus ihren Worten brach ein wilder Fanatismus. Hatte sie im Fieber gesprochen? Hatte sie den Verstand verloren? Kamp wußte nichts mehr. Er wußte in diesem Augenblick nicht einmal, ob Werneuchen sie wirklich geliebt hatte. Vielleicht war es wirklich nur seine Einsamkeit gewesen, die ihn zu ihr getrieben hatte. Vielleicht hatte er sie wirklich mit allen Mitteln an sich fesseln wollen? Hatte sie recht? Die furchtbare Aufregung, in der sie sich befand, mochte die oberen Schichten ihres Bewußtseins abgehoben und die tiefen, verborgenen Untergründe bloßgelegt haben. Das lebte alles im Menschen: Liebe und Angst durcheinander. Und wenn es wirklich so war, wie Elma sagte, auch dann hatte sie recht und unrecht zu gleicher Zeit. Was mußte Werneuchen gelitten haben! Seine Gestalt stieg vor ihm auf, mit dem leisen, ironischen Lächeln um den Mund, das die Abgründe überdeckte und doch nicht verbarg. Wie mußte ihm die Verzweiflung zugesetzt haben, ehe er seine Einsamkeit nicht mehr aushalten konnte und sich in fremdes Schicksal einkrallte! Armer Werneuchen! Arme Elma! Arme Gerda! O ihr armen, armen Menschen alle! Was habt ihr euch quälen müssen!

»Er hat Sie geliebt!« sagte Kamp voller Wärme, und er wußte, daß auch das in jedem Falle die Wahrheit war.

»Hat er mich geliebt?« Sie sah ihn an wie ein verendendes Wild. »Sagen Sie das doch nicht! Haben Sie doch Mitleid mit mir! Wenn ich wüßte, daß er mich geliebt hat, ich müßte ja wahnsinnig werden vor Schmerz! Ich könnte es nicht aushalten!«

Er fürchtete, daß sie aufschreien würde. Doch sie sank wieder still in sich zusammen und weinte leise vor sich hin. Was sie auch sagen mochte, sie jedenfalls liebte ihn mit jeder Faser ihres Wesens. Ja, sie liebte ihn! Und alles vorher war nur ein Zucken vor dem großen Schmerz gewesen.

Ja, sie liebt ihn! dachte Kamp ein ganz klein wenig traurig.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie dürfen nicht wahnsinnig werden«, sagte er ernst. »Sie müssen wieder stark und froh werden!«

»Stark und froh?« Sie lächelte und sah ihn unter Tränen an. Wie ein ungläubiges Kind sah sie ihn an, dem man ein unwahrscheinliches Märchen erzählt. Da wußte er, daß sie über das Schlimmste hinaus war.

Plötzlich stand sie auf. »Kommen Sie. Ich will nach Hause!«

»Nach Hause?« fragte er erstaunt. »Sie sehen verweint aus. Man wird Sie ausfragen.«

»Nein, ich gehe gleich in mein Zimmer, ich bin sehr müde. Mir ist, als habe ich alles nur geträumt und muß mich auf die andere Seite legen, um weiter zu schlafen.«

Sie gingen. Draußen blieb sie auf einmal stehen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Jetzt braucht er sich nicht mehr so furchtbar zu quälen! Ich glaube, er hat seit langem auf diese Zeit gewartet!«

Dann schwieg sie den ganzen Weg über. Erst als sie in die Tram stieg, drückte sie Kamp die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen!«

Er sah ihr lange nach, wie ihr blauer Mantel immer undeutlicher wurde.

»Ich danke Ihnen!« wiederholte er stumm für sich. Hatte sie alles verstanden, was er ihr hatte sagen wollen?

Er dachte darüber nach.


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