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Drittes Kapitel

Otmar Kamp war es nicht unangenehm, in dem hübschen Landhaus Werneuchens einige Tage allein zu verbringen, und er überraschte sich bei dem Wunsch, daß der Freund recht lange fortbleiben möchte.

Das Häuschen lag ein wenig abseits des Dorfes an einem kleinen Bach, der am Garten vorbeifloß. Im Grunde war es eigentlich nicht mehr ein durchaus behaglicher Aufenthalt. Von außen freilich machte das Häuschen sich nett und wohnlich. Es war nach norwegischer Art mit Holz bekleidet und von wildem Wein umrankt. Man hätte ein glückliches Familienidyll darin vermuten können. Der Garten aber war verwahrlost, und die meisten Zimmer hatten keine Möbel mehr. Gerda hatte ihre Aussteuer und die Möbel der Kinder vor mehr als einem Jahr fortschaffen lassen, da an keine Rückkehr mehr zu denken war und sie sich in der Wohnung ihrer Eltern einige Zimmer behaglich einrichten wollte. Weil auch Werneuchen das Häuschen in der nächsten Zeit räumen mußte, befand man sich seit Monaten eigentlich schon mitten im Umzug. Frau Gerda hatte nur das Allernötigste für die Wirtschaft dagelassen. Die Köchin geriet bei jeder Mahlzeit über fehlende Tiegel, Kasserollen und Teller in Verzweiflung. Eine andere wäre bei solcher Wirtschaft wohl einfach davongelaufen. Auguste aber war eine alte treue Seele, noch aus den Zeiten von Werneuchens Eltern. Man hatte sie vor einem halben Jahr dem bedrängten Sohn für die Übergangszeit zur Verfügung gestellt.

Wirklich eingerichtet waren nur noch die beiden Zimmer des Hausherrn. Otmar Kamp schlief auf der Chaiselongue des Arbeitszimmers und wusch sich in der Badestube. Einen Arbeitsplatz hatte er sich aus Gartenmöbeln in der Nische des sonst ausgeräumten Wohnzimmers zusammengebaut. Seine Bücher lagen auf dem Fußboden umher, seine Kleidungsstücke teils im, teils auf dem Koffer. Nun bezog er während Werneuchens Abwesenheit natürlich dessen Zimmer.

Schon am ersten Abend breitete er sich behaglich mit seinen Papieren auf dem großen Schreibtisch aus und hatte sich Ernst Alexanders Bett frisch überziehen lassen. Noch gerade vor Ladenschluß war er auf den glücklichen Gedanken gekommen, sich eine Flasche Rum aus der Stadt mitzunehmen. So arbeitete er nach Herzenslust und hatte die Aussicht, einmal wieder in einem richtigen Bett und in einem nicht von Tabakrauch gefüllten Zimmer zu schlafen. Seine Arbeit ging über Erwarten gut vorwärts. Am liebsten hätte er es so vier Wochen fortgetrieben.

Den nächsten Abend wollte er in der gleichen Weise verbringen. Tagsüber war er in München gewesen, hatte Vorlesungen gehört und auf der Bibliothek gearbeitet. Außergewöhnlich früh fuhr er nach Hause, um möglichst ausgiebig die Ruhe und Behaglichkeit des schönen Arbeitszimmers zu genießen. Er war in bester Stimmung. Das Wetter hatte sich aufgeklärt. Im Westen brach sogar die Abendsonne überraschend aus den Wolken und ließ die beiden weißen Kirchtürmchen grell und lustig aufleuchten.

Vom Bahnhof, der auf einer Anhöhe lag, ging er, eine Melodie vor sich hinträllernd, in das Dorf hinunter, das noch vollkommen ländlichen Charakter hatte. Ging durch eine lange schmutzige Straße, auf der Hühner und Katzen umherliefen, dann auf einem schmalen Steig über das Flüßchen, das Ufer entlang und wieder zum Dorf hinaus. Durch eine lange Kastanienallee erreichte man endlich das Grundstück Werneuchens. Man brauchte vom Bahnhof aus etwa eine Viertelstunde.

Als er sich dem Häuschen näherte, merkte er zu seinem Erstaunen, daß das Arbeitszimmer erleuchtet war. Die Köchin stand vor der Gartentür und hielt bereits nach ihm Ausschau. Seit zwei Stunden saß ein unbekannter Herr drinnen und wartete auf ihn. Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, daß Kamp aus der Stadt Besuch erhielt, diesmal aber wollte ihn ein unheimliches Gefühl beschleichen. Er hatte die meisten seiner Bekannten gerade auf der Universität gesprochen und konnte sich nicht vorstellen, wer um diese Zeit etwas von ihm haben wollte. Wahrscheinlich hing die Sache mit Werneuchen zusammen. Von dieser Seite pflegten fast immer unangenehme Überraschungen zu kommen.

Im Klubsessel saß ein großer starker Mensch mit glattrasiertem Gesicht. Er hatte den Mantel anbehalten und den schwarzen steifen Filzhut auf die Chaiselongue gelegt. Als er sich jetzt langsam erhob und in ganzer Größe aufrichtete, mußte Kamp unwillkürlich daran denken, daß außer der alten Auguste weit und breit kein Mensch in der Nähe war. Dieser riesenhafte Mann war unbedingt Herr der Lage. Das drückte sich unabweisbar in seiner Art aus, wie er, kaum noch auf Höflichkeit haltend, aufstand, den Rauch der Zigarre, die er sich angesteckt hatte, ausströmen ließ und sein Gegenüber anblickte. Seine Manieren waren denkbar schlecht. Sein Gesicht hatte einen brutalen Ausdruck. Kamp nahm zunächst an, daß der Besucher von Herrn Müller, dem Käufer des Hauses, mit irgendeiner Bestellung geschickt worden war.

Der Fremde kam jedoch von Werneuchen aus Regensburg und brachte einen Brief als Legitimation mit. Kamp riß hastig den Umschlag auf. Die Entscheidung war noch nicht gefallen. Ernst Alexander konnte nur mitteilen, daß sich die Sache bisher überraschend gut anließ. Er wäre mit dem Direktor Goldschmidt in jeder Beziehung einig geworden. Mit den schriftlich vereinbarten Bedingungen hätte es seine Richtigkeit. Er solle, bei sechshundert Mark monatlich und Tantieme, die Propaganda für den Bezirk Hamburg und die Aufsicht über die dort arbeitenden Herren übernehmen. Er selbst hätte nicht etwa Reisen und Besuche zu machen, sondern eben nur die Oberaufsicht.

Das alles war offenbar in Eile mit einem schlecht angespitzten Bleistift geschrieben.

»Aber um etwas muß ich Sie noch bitten, lieber Kamp. Sie wissen, daß ich ein Mensch bin, der gezwungen ist, stets mit vierfacher Sicherheit zu arbeiten, weil mir alles fortläuft, was ich nicht ganz fest in den Händen habe. Es wäre mir daher lieb, wenn ich den Leuten gleich die fünftausend Mark Kaution übergeben könnte. Die Firma ist nämlich schon mehrmals mit Bewerbern hereingefallen, die nachher das Geld nicht auftreiben konnten. Ich habe nun wegen der Anstellung nichts Schriftliches in Händen, und wer weiß, ob mir nicht im letzten Augenblick jemand mit den gezückten fünf Tausendmarkscheinen zuvorkommt. Denn Bargeld lacht bekanntlich. Sicher ist sicher!

So füllen Sie also den Blankoscheck, den ich Ihnen hinterließ, mit fünftausend Mark aus und übergeben Sie ihn Herrn Direktor Erkner. Er fährt morgen früh nach München, will einen Tag dort bleiben und uns dann nach Hamburg nachkommen. Denn hören und staunen Sie! Auch ich fahre morgen abend gleich nach Hamburg weiter, um alles an Ort und Stelle zu prüfen und fest zu machen. Wir sehen uns also einige Tage nicht. Meine Hamburger Adresse teile ich Ihnen oder Elma mit, sobald ich dort angekommen bin, falls ich nicht selbst in einigen Tagen zurück bin. Grüßen Sie Elma, der ich sofort von Hamburg schreibe.«

Otmar Kamp las diesen Brief mit gemischten Gefühlen. Schon bei Werneuchens Abreise war es ihm vorgekommen, als ob die Angst des Freundes auch ihn befallen habe. Im Augenblick, da er den Brief zu Ende gelesen hatte, stand ihm die Möglichkeit eines furchtbaren Verbrechens vor Augen. Merkwürdigerweise schlug gerade der unheimliche Eindruck des Fremden diesen Verdacht ein wenig nieder. Er überflog die Gestalt mit einem forschenden Blick. Der Mann stand in nachlässiger Haltung da, die geradezu Nichtachtung ausdrückte, und schien den langen blonden Studenten kaum zu beachten. Nein, dachte Kamp, so ungeschminkt stellt sich das Verbrechen nicht vor einen hin. Wenn dieser Kerl ein Verbrecher wäre, würde er sein wahres Wesen besser zu verbergen suchen. Ein wenig kam er sich auch mit seinen Befürchtungen lächerlich vor. Es war sicher alles sehr harmlos. Dieser Herr war früh aufgestanden, tagsüber in Geschäften herumgelaufen und wartete jetzt zwei Stunden vergeblich auf ihn, während er selber vielleicht noch wichtige Gänge zu erledigen hatte. Der Mann mochte innerlich vor Aufregung kochen, daß ihn diese Geschichte mit der Kaution eines übereifrigen Bewerbers um eine kleine Sechshundertmark-Stellung soviel Zeit kostete.

»Sie haben also gestern mit Herrn Werneuchen über seine Anstellung verhandelt?« fragte Kamp, um zunächst überhaupt etwas zu sagen.

»Nein,« sagte der Fremde, »ich nicht. Das war ein anderer Herr.«

»So ist also Herr Werneuchen mit Herrn Direktor Goldschmidt nach Hamburg gefahren?«

»Ich glaube.«

Dieser Mann war sicher nur ein subalterner Beamter. Daß man ihn Direktor nannte, mochte irgendwie eine Anerkennung für besondere Tüchtigkeit sein. Diese Feststellung beruhigte Kamp wieder. Gleichwohl wurde er das Gefühl nicht los, daß er persönlich wegen des Blankoschecks in Gefahr schwebte. War dieser Mensch vertrauenswürdig genug, daß man ihm eine so große Summe anvertrauen konnte? Vielleicht war Kamp selber, in dessen Tasche der Scheck sich befand, viel mehr gefährdet als Werneuchen? Wer wußte überhaupt, wie dieser Mann zu der Firma stand? Werneuchen hatte ihn offenbar gar nicht gesehen.

Auf einmal hatte Kamp geradezu Angst vor diesem Menschen, und er machte dem Freund innerlich Vorwürfe, daß er ihn in diese Lage gebracht hatte. Andererseits fand er es wieder lächerlich, sich in eine Räubergeschichte hineinzuphantasieren. Er war unentschlossen, wie er sich zu verhalten hatte. Vielleicht trat dieser Mann, während Kamp den Scheck ausfüllte, hinter ihn und sah ihm beim Schreiben über die Schulter. Bei seinen seltsamen Manieren konnte man davon überzeugt sein, daß er es tun würde. Dem Studenten stand die Szene deutlich vor Augen: Er sitzt am Tisch und schreibt. Der Unheimliche hinter ihm liegt fast auf der Rückenlehne des Sessels, so daß er den Atem über seine Haare hinstreichen fühlt. Ohne scharf und unhöflich zu sein, kann man ihn nicht entfernen. Und wozu auch? Vielleicht will der Mann sich nur von dem Vorhandensein einer richtigen Blankounterschrift überzeugen? Man kann nichts dagegen einwenden. Vielleicht schlägt er einem aber auch im nächsten Augenblick den Schädel ein?

Jedenfalls war es Kamp klar, daß er diese Szene unter allen Umständen vermeiden wollte. Wer aber konnte wissen, wozu der Besucher fähig war, wenn Kamp sich weigerte, den Scheck herauszugeben? Auf einmal fiel ihm die Ausrede ein, daß er den Scheck nicht bei sich hätte. Der größeren Sicherheit wegen hätte er ihn in München Fräulein Elma Diepenbroich, einer Freundin Werneuchens, übergeben. Er war sehr stolz auf diese Ausrede. Nun würde der Mann ihn nicht mehr umbringen, da er doch den Scheck nur durch ihn erhalten konnte.

Der »Direktor« sah ihn mißtrauisch an. Kamp erklärte schnell, daß der Besuch dadurch keine Zeit zu verlieren brauche. Er würde morgen in die Stadt fahren, das Geld, wenn er wolle, gleich von der Bank abheben und ihm mittags einhändigen. Abends könne Herr Erkner dann weiterfahren.

»Sie haben den Scheck wirklich nicht hier?« fragte der Mann, und es schien Kamp, daß ein deutliches Drohen in der Stimme lag.

»Gewiß nicht! Das Haus ist so abgelegen. Man kann nicht wissen. Ich hatte den Scheck heute früh eingesteckt, es schien mir aber ratsam, ein so wichtiges Papier nicht mit mir herumzutragen. Zufällig traf ich Fräulein Diepenbroich und bat sie, den Scheck in der Stadt aufzuheben.«

»Können Sie die Dame nicht telephonisch erreichen?«

»Leider nein«, log Kamp weiter und bemühte sich, das auf dem Tisch liegende Telephonbuch mit keinem Blick zu streifen. Wenn er ein Verbrecher ist, dachte er, wird er mich jetzt nach ihrer Adresse fragen und dann wie von ungefähr im Fernsprechverzeichnis nachblättern. Er hätte gefunden: Siegward Diepenbroich, Professor, Kunstmaler, Agnesstraße 182. Das mußte sein Mißtrauen von neuem erregen, denn es war unwahrscheinlich, daß ein so seltener Name zweimal in München vorkam.

»Wo wohnt die Dame?« fragte Erkner.

»Sie hat ein Zimmer in der Theresienstraße«, log Kamp weiter. »Ich weiß nicht einmal die Nummer, aber ich kenne das Haus.«

Der Mann brummte etwas vor sich hin. War er vielleicht nicht zufrieden? Kamp lag im Augenblick sehr viel an der Zufriedenheit des unheimlichen Menschen, der ihn mit einer Handbewegung fortwischen konnte.

»Ich hole dann also am Vormittag gleich das Geld, und wir treffen uns um ein Uhr auf dem Promenadenplatz vor der Dresdner Bank. Recht so?«

Der Mann nickte. »Wann geht der nächste Zug nach der Stadt?«

Kamp sah nach der Uhr. »In einer halben Stunde!«

Der Besucher griff nach Hut und Stock. Kamp machte ihn darauf aufmerksam, daß er noch gut zehn Minuten Zeit hätte, obwohl er ihn je eher je lieber losgeworden wäre. Der »Direktor« achtete nicht auf den Einwand, sondern schickte sich zum Gehen an. Kamp begleitete ihn bis an den Gartenzaun.

»Ein schönes Grundstück!«

»Leider hat Herr Werneuchen es verkauft.«

»Guten Tag!« sagte der Mann kurz, ohne auf Kamps Worte einzugehen. Er rührte kaum mit der Hand an die Hutkrempe, als er fortging. Kamp sah ihm nach und mußte den Kopf schütteln. Der Mann hatte ganz den Gang eines »schweren Jungen«. Wieder suchte Kamp sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß ein Verbrecher sich besser maskieren würde. Gleichwohl war er sehr aufgeregt.

Als der Fremde fort war, ging Kamp durch alle Räume des Hauses. Er stand noch so sehr unter der Einwirkung des Besuches, daß er nicht gleich Licht zu machen wagte. Aus dem Fenster des Wohnzimmers, wo seine Bücher und sonstigen Sachen lagen, sah er vorsichtig hinaus, ob er den Unheimlichen vielleicht noch erblicken konnte. Auf einmal sah er ihn draußen stehen. Ganz unbeweglich stand er da und schaute zu dem Haus herüber. Kamp hätte ihn nicht bemerkt, wenn nicht in dem Augenblick, da er hinaussah, der Mond hinter einer Wolke hervorgekommen wäre. Wenigstens fünf Minuten sah Kamp ihn dort stehen. Dann, als es Zeit war, zur Bahn zu gehen, trottete er langsam davon. Er wollte also doch abfahren.

Der Student konnte nur mühsam den Gedanken niederringen, daß ihm seine Ausrede, den Scheck nicht bei sich zu tragen, das Leben gerettet habe. Dann erst dachte er wieder an Werneuchen. Er las noch einmal kopfschüttelnd den Brief, den dieser seltsame »Direktor« gebracht hatte.


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