Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Wie die Nachricht des Vorgefallenen dem Bischof zu Ohren kam

Der Deemster kehrte sich um und ging in Begleitung von Jarvis Kerrisch davon. Darauf nahmen die beiden Fischer ihre schauerliche Bürde wieder auf und wandten sich Ballamona zu. In einer Agonie blinden Zweifels betrat der Bischof sein Haus. Sein Geist war verwirrt; er setzte sich nieder und versuchte sich zu sammeln. Das Geschehene beunruhigte ihn entsetzlich. Er versuchte eine Erklärung dafür zu finden, es war ihm jedoch unmöglich, seine unzusammenhängenden Gedanken zu sammeln. Seine Sinne schienen abgestorben, und selbst der Schmerz, der Schmerz über Ewans Verlust konnte die große Leere, die zwischen ihm und seiner vollen Erkenntnis der entsetzlichen Tat lag, nicht durchdringen. Er vergoß keine Träne, kein Seufzer kam über seine Lippen. Schweigend, mit einem Ausdruck des Leidens, das in seiner Starre ihm die steinernen Augen und bleichen Lippen gefrieren machte, saß er da. Es schien, als ob alle Lebenskraft wie die letzte Woge einer erschöpften Flut von ihm gewichen sei.

Darauf begannen die Leute von draußen in die Bibliothek hinein- und auf ihn einzustürmen. Sie waren in der höchsten Aufregung und jede Schranke und Förmlichkeit war niedergerissen. Jeder hatte seine Geschichte zu berichten, und jeder seine Vermutung hinzuzufügen. Der eine wiederholte, was der Garnelenfischer gesagt, und wie er die Leiche in der Nähe der als Mooragh bekannten Fischerbucht gefunden hatte. Ein anderer sprach seine Vermutung darüber aus, wie es zugehe, daß die Leiche anstatt zu sinken, an die Küste getrieben sei. Ein dritter drehte seine Mütze zwischen den Händen und sagte: »Es tut mir leid, Mylord, Euch in solchem Kummer zu sehen, und ich würde um nichts in der Welt der Überbringer schlechter Nachrichten sein, wenn ich nur irgendwie gute zu bringen hätte, ich möchte aber darauf schwören, daß, wie die Leute sagen, irgend eine Missetat und ein Verbrechen zugrunde liegen, und es sollte mich sehr wundern, wenn Herr Dan – ich meine, es sollte mich sehr wundern, wenn Herr Dan uns nicht darüber Aufklärung geben könnte –«

Der Bischof unterbrach des Mannes Schwatzhaftigkeit mit einer leichten Handbewegung, und einer nach dem andern gingen die Leute wieder hinaus. Er hatte sie schweigend und mit dem Gesicht eines leidenden Heiligen und kaum hörend, was sie sagten, sprechen lassen. »Ich will es abwarten,« dachte er, »und Gott vertrauen.« Eine große Furcht jedoch hatte sich seiner bemächtigt, und er mußte sein Herz stählen, um sie zu besiegen. »Ich will auf Gott vertrauen,« sagte er Hunderte von Malen zu sich selbst, und in seinem Vertrauen auf seines Gottes Güte versuchte er ruhig und mutig zu bleiben. Aber einer nach dem andern kehrten die Leute mit neuen und allerneusten Nachrichten zu ihm zurück. Bei jeder frischen Tatsache, bei jedem schädigenden Umstand zitterten seine schmalen Lippen, und fuhren seine nervösen Finger durch sein langherabhängendes weißes Haar, und füllten sich seine starren, tiefen, unbeweglichen Augen.

Und nach dem ersten Schmerzenssturm über den Verlust von Ewan dachte er an Dan, und wie traurig Dan sein würde. Er erinnerte sich Ewans Liebe für Dan und Dans Liebe für Ewan. Er rief sich manche Beispiele jener köstlichen gegenseitigen Zuneigung zurück, und in dem idealisierenden Licht jener Liebe versanken alle Torheiten seines Sohnes vor seinen Augen. Das Geschehene mußte Dan mitgeteilt werden, und wenn er es nicht schon wußte, war es das beste, daß er es von den Lippen eines Menschen, der ihn liebte, erfuhr.

So kam es denn, daß dieser edle und tief betroffene Mann, seine eigne, ihm jetzt als ohnmächtig und kindisch erscheinende Härte verdammend, und sein Gelübde, seinem Sohn nie wieder ins Angesicht zu blicken oder mit ihm zu reden, vergessend, einen Boten nach dem alten Ballamona sandte, um Dan auffordern zu lassen, sofort nach Bischofs-Hof zu kommen.

Eine halbe Stunde später, als es an seine Stubentüre klopfte, richtete der Bischof, in dem Gedanken, daß es sein Sohn sei, sich zu seiner ganzen stattlichen Höhe auf; trotz aller Vorsätze seines mutigen Herzens gelang es ihm jedoch nicht, seiner Aufregung Herr zu werden, und nur mit bebender Stimme brachte er sein »Herein« über die Lippen. Es war jedoch nicht Dan, sondern der mit der Nachricht zurückkommende Bote, daß Herr Dan seit gestern das Haus nicht betreten habe, und daß Pastor Evan, als er zuletzt im Hause gesehen worden sei, nach Herrn Dan gefragt und, nachdem er ihn nicht gefunden habe, ihm nach der Kinnbackenbucht nachgegangen sei.

»Wann war das?« fragte der Bischof.

»Die alte Frauensperson dort im Hause meinte, es möchte etwas nach drei Uhr gestern nachmittag gewesen sein,« sagte der Mann.

Unter der kühlen, äußeren Ruhe, mit der der Bischof den Boten entließ, hätte ein schärferes Auge leicht eine entsetzliche Aufregung gewahren können. Des Bischofs Hand ward eisig kalt und zitterte. Im nächsten Moment wurde er sich seiner Aufregung bewußt und begann, sich Vorstellungen über seinen Kleinmut zu machen. »Ich will Gott vertrauen und abwarten,« sagte er von neuem zu sich selbst. »Nein, ich will nicht reden; ich will Schweigen bewahren. Ja, ich will den Verlauf der Dinge abwarten und dem guten Vater unser aller vertrauen.«

Darauf erscholl ein neues Klopfen an seiner Türe. »Sicher ist das endlich Dan; seine alte Wirtschafterin hat ihn herübergeschickt,« waren seine Gedanken. »Herein!« rief er mit bebender Stimme.

Es war Christopher. Der Deemster hatte ihn mit einem Auftrage gesandt.

»Was also ist es?« fragte der Bischof, dem tauben Mann in das Ohr hineinsprechend.

Christopher stand, ohne zu antworten, sich mit der Hand den zerzausten Kopf kratzend, da, und der Bischof wiederholte seine Frage.

»Es tut uns allen so sehr leid um Euch, Mylord,« sagte Christopher und stockte.

»Was ist es?« wiederholte der Bischof.

»Und es tut mir so leid, der Überbringer eines solchen Auftrages sein zu müssen.«

Des Bischofs bleiches Gesicht nahm eine aschgraue Farbe an, äußerlich jedoch behielt er seine Ruhe.

»Mit welchem Auftrag hat der Deemster Euch hergeschickt, Christopher?«

»Der Deemster – Gott mög' es ihm vergelten – mit Verlaub – hat mich hergeschickt, um Euch zu sagen, daß sie das Leintuch auseinandergerollt und gefunden hätten, daß es ein altes Segel sei, und daß sie aus der darauf verzeichneten Nummer sähen, von welchem Boot es käme und so etwas alles.«

»Von welchem Boot kommt das Segeltuch?« fragte der Bischof, und seine tiefen Augen waren starr auf Christopher gerichtet.

»'s ist ein altes – nun, es ist – um Euch die reine Wahrheit zu sagen – ach, Mylord, was schadet es – was schadet es, wenn es von –«

»Von welchem Boot?« fragte der Bischof ruhig, aber mit erbleichenden, bebenden Lippen.

»'s ist ein altes Jollentreibsegel von der Ben-my-Chree. Ja, ja, ganz gewiß, und es tut mir schrecklich leid, diese schlimme Nachricht zu überbringen.«

Christopher ging hinaus, und der Bischof blieb einige Minuten furchtbefangen stehen. Andere Tatsachen hatten ihn tief beunruhigt, diese letzte aber schien für den Moment sein festes, ruhiges Vertrauen, daß Gott alle Dinge zum Besten wenden würde, zu erschüttern. Er hatte einen langen und scharfen Kampf zu bestehen. Er versuchte sich einzureden, daß diese neue Tatsache nichts auf sich habe. Ewans Tod war unumstößlich, und daß er ihn auf verbrecherische Weise gefunden, schien nicht weniger sicher und entsetzlich. Daß aber seine Leiche in ein einstmals zu Dans Fischerboot gehöriges Segel gewickelt war, schien ihm kein genügender Grund für die in dem Innern anderer Leute Gestalt gewinnende, entsetzliche Anklage. War die Idee überhaupt denkbar? O nein, nein, nein! Es würde aller gesunden Vernunft, allem Vertrauen in die väterliche Liebe eines Gottes im Himmel entgegen sein. Wenn auch das Segel von der Ben-my-Chree kam, diese Tatsache sagte noch nicht, woher die Leiche kam. Und selbst wenn es ganz sicher wäre, daß die Leiche von dem Dan gehörigen Fischerboot in die See gesenkt war, so würde es doch noch des Beweises bedürfen, daß Dan selbst an Bord des Bootes gewesen sei.

Mit derartigen armseligen Ausreden versuchte der Bischof die grausamen Tatsachen, wie sie eine nach der andern auf sein Gehirn einstürmten, abzuschwächen. Er versuchte sich seiner eignen Scham zu schämen und seine eignen verurteilenden Gedanken zu verurteilen. »Ja, ich will Gott vertrauen,« sagte er immer von neuem zu sich selber; »ich will abwarten und dem guten, barmherzigen Vater vertrauen.« Wo aber war Dan? Der Bischof war gerade zu dem Entschluß gekommen, die ganze Insel nach seinem Sohn absuchen zu lassen, als sich plötzlich ein großer Lärm wie von vielen eifrig durcheinander sprechenden und schnell sich nahenden Stimmen erhob.

Eine Minute später wurde seine Bibliothektüre ohne Rückhalt und Förmlichkeit wieder geöffnet, und eine zusammengewürfelte Menge von Dorfbewohnern kam in sein Zimmer marschiert. Der kleine Jabez Gahn als Anführer trug einen Rock und Hut vor sich in der Hand.

So kalt der Tag auch war, die Leute waren erhitzt und schienen sich eifrig den Kopf über etwas zu zerbrechen, und ihr dampfender Atem durchdrang in langen Strömen das stille Gemach.

»Seht, Mylord, was wir oben auf der Spitze des Orrisdale gefunden haben,« sagte Jabez und streckte dem Bischof den Rock entgegen, während einer der hinter ihm stehenden Männer ihm den Biberhut abnahm.

Der Rock war ein langer schwarzer Tuchrock mit Schößen und übergeklappten Manschetten.

Der Bischof sah auf den ersten Blick, daß es der Rock eines Geistlichen war.

»Überlaßt es mir, diesen Rock wieder zu erkennen, Mylord, ich selbst habe ihn angefertigt,« sagte Jabez.

Dem Bischof schwindelte, und der Schweiß brach ihm auf der Stirne aus, seine Würde und moralische Stärke verließen ihn jedoch nicht.

»Ist es meines armen Ewans Rock?« fragte er, seine Hand nach ihm ausstreckend, der Ton seiner Stimme jedoch war der des hoffnungslosen Jammers und nicht der Frage.

»Ja, das ist er, Mylord,« sagte Jabez, und darauf begann der kleine Schneider eine ganze Reihenfolge von Erkennungszeichen herzuzählen, die hauptsächlich auf dem vorzüglichen Schnitt und der vorzüglichen Arbeit beruhten. Der Bischof jedoch gebot dem Schneider mit einer Handbewegung Schweigen.

»Ihr fandet ihn auf Orrisdale Head?« fragte er.

Und einer der Männer drängte seinen Kopf durch die Schultern der vor ihm Stehenden durch und sagte –

»Ja, Mylord, nicht zwanzig Meter von der Klippe, und ich fand noch etwas anderes daneben.«

In diesem Moment machte sich noch ein anderes Geräusch außerhalb der Bibliothektüre und eine Stimme hörbar, die sagte –

»Aus dem Wege hier, Ihr alten Schwatzbasen, mit Euren schlimmen Nachrichten, und froh noch dazu seid Ihr, sie überbringen zu können!«

Es war Christopher, der mit einem neuen Auftrag, aber nicht vom Deemster, sondern von sich selbst, nach Bischofs-Hof zurückgekehrt war. Er bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge, bis er sich dem Bischof von Angesicht zu Angesicht gegenüberbefand, und dann sagte er –

»Der Deemster hat schließlich doch den Doktor von Ramsey holen lassen, und der gelehrte Mann sagt, das Genick ist gebrochen, und es war ein Fall, der den jungen Pastor tötete, und durchaus nichts Schlimmeres, nein, durchaus nicht.«

Die großen, traurigen Augen des Bischofs schienen trotz ihrer Starre bei Christophers Worten zu strahlen; in der nächsten Sekunde jedoch ließ der Mann, der gerade gesprochen hatte, seine Stimme wieder vernehmen, und danach überzog ein tieferes Dunkel als vorher des Bischofs Gesicht.

»Ich selbst war es, Mylord, der den Rock und Hut gefunden hat; und ein Stückchen näher an die Klippe hinan fand ich dieses und dieses; und dann den Abhang weiter hinunter – vielleicht zehn Fuß tiefer – sah ich dies in einem grünen Gras- und Binsenbüschel stecken, und auf allen Vieren kroch ich hinab und holte es heraus.«

Während des Sprechens hatte der Mann sich bis zur ersten Reihe durchgedrängt und hielt in der einen Hand einen Gürtel oder etwas, was wie zwei zusammengeschnallte und mit einem Messer aufgeschlitzte Gürtel aussah, und in der andern Hand zwei Dolche hoch.

Ein großes Entsetzen befiel beim Anblick der Waffen alle Versammelten. Des Bischofs Antlitz trug noch seine ruhige Erhabenheit, sein Atem jedoch ging schwer und geängstet.

»Gebt es mir,« sagte er mit eindrucksvoller Ruhe, worauf der Mann die Gürtel und Dolche in des Bischofs Hände legte. Dieser blickte aufmerksam auf sie herab und bemerkte, daß die eine Schnalle von Silber und die andere von Stahl war.

»Hat irgend jemand sie erkannt?« fragte er.

Ein Dutzend Stimmen antwortete sofort, daß es zwei Gürtel der neu zusammengetretenen Landwehr seien.

Denselben Moment fielen dem Bischof einige auf der Rückseite der Schnalle eingekratzte Buchstaben in die Augen. Er setzte seine Brille auf und untersuchte die Zeichen näher. Als er damit fertig war, konnte er nur krampfhaft aufatmen, und aller Lebensmut schien in einem Augenblick auf seinem Gesicht zu ersterben. Seinen kraftlosen Fingern entsanken der Gürtel und die Dolche, die mit einem klirrenden Geräusch auf den Tisch fielen.

Ein Todesschweigen hatte während einiger Momente im Zimmer gewaltet, und dann sagte der Bischof mit erzwungener Ruhe, »Ihr könnt gehen,« und blieb stumm und bewegungslos stehen, während die Leute, ihre schauerlichen Schätze zurücklassend, aus dem Zimmer hinausgingen.

Das Herz des Bischofs schien zu Eis erstarrt. Er versuchte die entsetzlichen Vermutungen, die sich ihm aufgedrängt hatten, zusammenzureimen, sein Geist jedoch schweifte ab und konnte sich nicht sammeln. Ewan war zuletzt der Bucht zugehend gesehen worden; er war tot; er war durch einen Sturz getötet; seine Leiche war in einem alten Segel der Ben-my-Chree ans Land gespült; sein Rock und Hut waren auf der Spitze von Orrisdale Head aufgelesen worden, und daneben hatten zwei Waffen und zwei Gürtel gelegen, von denen der eine Dan gehörte, dessen Name auf ihm eingekratzt war.

Die grausame Verkettung der Umstände, die sich jeden Moment enger um ihn schürzte, schien des Bischofs großes, ruhiges Vertrauen auf die Güte seines Schöpfers zu erstarren.

»O, mein Sohn, mein Sohn!« rief er, nachdem er allein gelassen war. »Wollte Gott, ich wäre gestorben, ehe ich diesen Tag erleben mußte! O, mein Sohn, mein Sohn!«

Nach einer Weile gewann er jedoch seine Selbstbeherrschung wieder und sagte: »Ich will auf Gott vertrauen; Er wird das Dunkel lichten.«

Dann brach er in kurzes, krampfhaftes Beten aus, als ob er durch geistige Inbrunst die Erstarrung, die sein Gottvertrauen zu zerstören drohte, hinwegtreiben wollte. – »Herr, höre meine Stimme! Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, und verstoße deinen Knecht nicht im Zorn, denn ich bin in Trübsal.«

Der kurze Wintertag schien kein Ende nehmen zu wollen, nun aber hatte die Dunkelheit begonnen, ihn zu umfangen. Der Bischof zog seinen Mantel an und setzte seinen Hut auf und machte sich nach Ballamona auf den Weg. An Alter hatte er nur gerade seine besten Jahre überschritten, die schwere Sorge mancher Jahre jedoch hatte seine Hauptkräfte aufgezehrt, und er schwankte, wie er daherschritt, hin und her. Nur sein festes Vertrauen, daß Gott sich Seines Knechtes in der Stunde der Not erinnern würde, verlieh seinen zitternden Gliedern Halt.

Während seines Ganges begann er, wegen seines ihn so tief packenden Mangels an Gottvertrauen, sich Vorwürfe zu machen. Dies beruhigte ihn etwas, und er schritt rüstiger weiter. Er redete sich vor, daß die Tatsachen, wie überraschend sie auch immer sein mochten, doch noch zu wenig überführend wären und nichts anderes als Ewans Tod bewiesen, als er urplötzlich sich bewußt wurde, daß vor ihm auf dem Wege, rund um das Eingangstor von Ballamona herum eine Menge Weiber und Kinder sich angesammelt hatten, die alle aufgeregt und weinend des in ihrer Mitte stehenden Leichenbeschauers Fragen beantworteten.

Es war Quäl der Raufbold, derjenige, der ohne des Bischofs Einsprache keinen Heller aus seines Vaters Nachlaß erhalten haben würde.

»Und wann ist Euer Mann auf die See hinausgegangen?« lautete seine Frage.

»Gestern um die Flutzeit,« antwortete eines der Weiber; »und mein Mann sagte zu mir, ›Liza‹, sagte er, ›halt mir ein paar Kartoffeln und gesalzenen Hering zum Abendbrot bereit,‹ sagte er; ›wir werden so gegen zwölf Uhr zurück sein,‹ sagte er; aber nicht sehen lassen hat er sich, und die ganze Nacht bin ich für ihn aufgeblieben.«

»Sie sind aber an Land gewesen und wieder hinausgegangen,« sagte eine andere Frau.

»Woher wißt Ihr das, Mutter Quillasch?« fragte der Leichenbeschauer.

»Weil ich mir den Gang nach der Bucht gemacht und dort in der Hütte einen Korb mit Kabeljau und Rochen gesehen habe,« antwortete die Frau.

Darauf trat der Bischof an das Eingangstor heran, und der Leichenbeschauer erklärte ihm die Angst der Weiber und Kinder.

»Seid Ihr es, Frau Corkell?« fragte der Bischof eine ihm nahestehende Frau.

»Ach, ja, Mylord.«

»Und Ihr, Frau Tere?«

Die Frau knickste; der Bischof nannte sie eine nach der anderen bei Namen und streichelte den bloßen Kopf eines kleinen Mädchens, das sich weinend an den Mantel seiner Mutter anklammerte.

»Dann ist es also die Ben-my-Chree, die seit der Hochwasserzeit gestern vermißt wird?« fragte der Bischof in leisem Flüsterton.

»Ja, so ist's, Mylord.«

Bei dieser Antwort wandte der Bischof sich plötzlich, ohne ein weiteres Wort zur Seite, öffnete das Tor und schritt den Pfad hinauf.

»O, mein Sohn, mein Sohn,« jammerte er blutenden Herzens, »du hast meine Tage mir verkürzt! Welch eine Schande hast du über mich gebracht! O, mein Sohn, mein Sohn!«

Vor der Haustür von Ballamona stand ein offener Karren mit niedergelassenem Schwungbrett, und das Pferd stampfte den Kies, der einmal – bei einer ganz anderen Gelegenheit – mit Blythebread Festkuchen. Bestreut war. Die Haustüre stand offen, und ein Lichtstreif fiel auf das unruhige Pferd draußen. Der Bischof betrat das Haus und fand alles für das eilige Abendbegräbnis vorbereitet. Auf nebeneinander gestellten Stühlen stand wie eine längliche Kiste ein roher Eichensarg und von dem Deckenbalken gerade darüber hing eine kleine Öllampe herab. Zu jeder Seite der Halle standen drei oder vier Männer mit Fackeln und Laternen, die nur des Anzündens warteten. Der Deemster ging aus seinem eigenen Zimmer drüben aus und ein und ihm folgte in geschäftiger Eile Jarvis Kerrisch. Nahe dem Sarge stand der Hilfsprediger der Parochie, der Vater der Frau des Verstorbenen, und in dem Rahmen der Türe, die nach der Halle hinausführte, stand Mona weinend mit dem Kinde des Toten im Arm.

Und wie nur während der Nacht die glänzendsten Sterne in ihrer ganzen Pracht zu sehen sind, so leuchtete in der Nacht dieser großen Prüfung des Bischofs Gottvertrauen wieder strahlend auf und vertrieb alle seine schlimmen Ahnungen. Er trat an Mona, deren trübe Augen in Teilnahme auf sein Gesicht gerichtet waren, heran und berührte mit seinen trockenen Lippen ihre Stirne.

Dann blickte er in seinem eigenen tiefen Schmerz und mit dem auf ihm ruhenden düsteren Schatten auf die Kleine in Monas Armen, herab, wie sie strampelnd und gurrend in wilder Freude über das ergötzliche Schauspiel des Begräbnisses ihres Vaters mit ihren kleinen Fäusten in der Luft herumfocht, und seine Augen füllten sich, als er über ihren zukünftigen Lebenslauf nachdachte, mit Tränen.

Sobald der Deemster von des Bischofs Anwesenheit im Hause unterrichtet war, rief er den Leichenträgern zu, sich fertig zu halten, und darauf traten die sechs Männer an den Sarg heran.

»Thorkell,« sagte der Bischof ruhig, und die Träger hielten während er sprach inne, »diese Eile, mit der du unsern teuren Ewan beiseite schaffen willst, ist ungehörig, weil sie unnötig ist.«

Der Deemster blubberte statt aller Antwort nur einen Ausruf der Verachtung heraus, und der Bischof ergriff von neuem das Wort.

»Du weißt jedenfalls, daß keinerlei kirchliche Verordnung und kein staatliches Gesetz hierüber besteht. Daß eine ans Land getriebene Leiche denselben Tag beerdigt werden soll, ist nichts anderes als ein alter Gebrauch.«

»Dann soll dem alten Gebrauch gemäß gehandelt werden,« sagte Thorkell entschieden.

»Seit fünfzig Jahren ist es nicht geschehen,« fuhr der Bischof fort; und in diesem Falle ist es der Vernunft und der Achtung, die wir dem teuren Toten schulden, ins Gesicht geschlagen.«

Hierauf erwiderte der Deemster einfach: »Die Leiche gehört mir, und ich werde mit ihr nach meinem Gutdünken verfahren.«

Sogar den sechs mit ihren Händen den Sarg haltenden Trägern verging der Atem bei diesen Worten; der Bischof aber antwortete ohne irgend welchen Ärger zu zeigen:

»Und der Kirchhof gehört mir, und ich habe ihn für die Kirche und für die Gemeinde Gottes zu verwalten, und wenn ich die Beerdigung überhaupt zulasse, so geschieht es nur, weil ich über das Grab unseres teuren Sohnes keinen Wortstreit haben will.«

Der Deemster spie auf die Diele und befahl den Trägern, die Leiche hinauszutragen. Darauf hoben die sechs Männer den Sarg von den Stühlen auf und schoben ihn in das vor der Türe stehende Fuhrwerk. Die Leidtragenden traten auf den Kiesweg hinaus, und diejenigen von ihnen, die Fackeln und Laternen trugen, zündeten diese draußen an. Der hundertste alte Psalm wurde gesungen, und nachdem seine letzte Note in die Nacht hinaus verklungen war, rumpelte das federlose Fuhrwerk den Weg hinab. Hinter demselben paarten sich die Leidtragenden je zu zweien, mit dem Deemster allein hinter dem Wagen und dem Bischof als letztem von allen.

Mona blieb einen Augenblick in der offenen Türe der Halle stehen, die jetzt, abgesehen von dem pappelnden Kind in ihrem Arm, einsam, verlassen und trostlos dalag. Sie sah den Zug durch das Eingangstor in den Kirchhofsweg einbiegen. Darauf ging sie ins Haus zurück, zog ihren Fenstervorhang zur Seite und blickte den sich fortbewegenden Lichtern nach, bis die Träger stille standen, und dann wußte sie, daß die Leidtragenden um ein offenes Grab versammelt waren, und daß die Hälfte alles dessen, was ihr in dieser trüben Welt teuer gewesen war, dieselbe für immer verlassen hatte.


 << zurück