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Vierzehntes Kapitel.
Im Kampf gegen das Schicksal

Soweit es den Deemster betraf, war der Tod von Ewans Frau der Anfang vom Ende. War sie nicht unter dem Dache vom neuen Ballamona gestorben? War es nicht der allermerkwürdigste Zufall, daß sie dort und nicht in ihrem eignen Hause sterben mußte? War sie nicht bei der Entbindung gestorben? Deuteten nicht alle mit ihrem Tod in Zusammenhang stehenden Umstände auf die Macht eines unaufhaltsamen Schicksals hin? Vor über zwanzig Jahren hatte das Weib, die Kerrisch, die Mutter von Mally Kerrisch, das Haus verflucht und gesagt, kein neues Leben, es sei denn, daß der Tod es begleite, würde in dem Hause seinen Einzug halten.

Seit über zwanzig Jahren hatte der Deemster sein Bestes getan, diese Weissagung zu verlachen und zu vergessen. Wer war er denn, daß er beim Niesen eines alten Weibes sich der Furcht hingeben solle? Was war er denn, wenn er nicht einmal Herr seines eignen Geschickes war? Und doch, was hatte sich zugetragen?

Seit über zwanzig Jahren hatte ein gewisser, beunruhigender Gedanke ihn vollständig ausgefüllt, ihm alle seine wachen Stunden verbittert und selbst während des Schlafes als ein dumpfes Gefühl der Angst ihm das Gehirn bedrückt. Auf der Richterbank, im Sattel, bei Tische, beim einsamen Winterfeuer, während einsamer Sommerspaziergänge, nie hatte dieser eine hartnäckige Gedanke ihn verlassen. Und nichts als der Tod schien imstande zu sein, ihn von ihm zu befreien.

Oft hatte er ihn verlacht, mit seinem langen, nicht enden wollenden, nervösen Lachen; die Schlinge jedoch hatte sich um ihn verengt. Alles schien in Erfüllung zu gehen. Zuerst war seine Frau bei Monas Geburt gestorben, und nun nach einem Zwischenraum von zwanzig Jahren starb das Weib seines Sohnes bei der Geburt ihres Kindes. Während dieses Zeitabschnittes war er in seinen eignen Augen ein kinderloser Mann geworden. Seine Erwartungen auf den Sohn, auf den allein er alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, waren gescheitert, das von ihm erbaute Haus war nichts als ein widerhallendes Gewölbe; das Vermögen, das er gesammelt, nur eine leere Seifenblase. Er war verflucht, Gott hatte der Stimme des Weibes Gehör geschenkt, die Tatsachen waren unverkennbar, mochten die ungläubigen Toren lachen, soviel sie wollten.

Als der Deemster vor zwanzig Jahren zu der Erkenntnis gelangt war, daß er der Sklave einer ihn beherrschenden Idee sei, hatte er versucht, das ihn überschattende Schicksal abzuwenden. Er hatte die Hütte auf dem Abhang gekauft und das Weib, die Kerrisch, auf die Landstraße geworfen, und aufs strengste alle Äußerungen des Aberglaubens, die ihm als Richter zu Ohren kamen, unterdrückt.

Mit dergleichen öffentlichen Kundgebungen des Unglaubens wollte sich die ihn verfolgende Idee indes nicht unterdrücken lassen. Von Natur war er nie wohlwollend gewesen, nun aber bemächtigte sich seiner ein unüberwindlicher Menschenhaß. Dies war zu der Zeit, als seine Kinder, Ewan und Mona, im traulichen Nest in Bischofs-Hof weilten. Äußerte damals irgend ein Mensch den Namen der beiden Kerrisch in des Deemsters Gegenwart, so zeigte er Gereiztheit, spitzte dabei jedoch die Ohren, damit ihm keine Silbe von dem, was über sie gesprochen wurde, entginge. Er kannte ihre ganze Geschichte. Er wußte, daß das Mädchen Mally am Tage von Ewans Taufe von der Insel entfloh; er wußte, mit welchem Schiff sie segelte; er wußte, wo sie sich in England niederließ; er wußte, wann ihr Kind geboren ward, und wann sie aus Furcht vor dem unerfüllten kirchlichen Bußakt (der sie hier auf Erden von jeder Gemeinschaft der Kinder Gottes und im Tode von jeder Hoffnung auf Erlösung ausschloß) und von dem unwiderstehlichen Gedanken getrieben, ihre Buße an dem Orte ihrer Schande zu verrichten, mit ihrem Kinde an der Brust nach der Insel zurückgekehrt war.

Danach hatte er sie und ihr Leben täglich verfolgt. Sie war wieder in der Netzweberei von Kinvig, dem Peeltowner Netzmacher, beschäftigt worden und wohnte bei ihrer Mutter in der Hütte am Abhange, und dort zog sie ihren Jungen, Jarvis Kerrisch, wie sie ihn getauft hatte, groß. Wenn irgend jemand unter kaltherzigem Lachen mit dem Finger auf sie wies; wenn irgend jemand Teilnahme heuchelte und unter Kichern sagte: »Der erste Fehltritt, Mally, Dirne, wird immer vergessen;« wenn irgend jemand des Deemsters Namen nannte und unter verständnisvollem Augenplinken sagte, »mich wundert nur, daß Ihr nicht einmal seines Weges geht und 'n Auge auf ihn werft;« wenn irgend jemand, nachdem sie ein neues Kleidungsstück: ein Kleid, einen Schal oder ein Stückchen farbigen Bandes, wie sie es in früheren Tagen gern trug, von ihrem spärlichen Lohn gekauft hatte, zu ihr sagte: »Lieber Himmel! Ich dachte, es würde Euch keine Ruhe lassen, bis Ihr oben gewesen und Euch dem alten Geizhals gezeigt hättet« – der Deemster wußte es alles. Er sah die frische, verwegene Dirne von zwanzig in die verwelkte Schlumpe von dreißig Jahren, der das Leben keine Hoffnung, keine Freude und nur ein einziges Bindeglied bot, herabsinken.

Und der Deemster wurde gewahr, daß seine alte boshafte Gesinnung täglich in ihm wuchs; soweit es jedoch sein äußeres Verhalten betraf, nahmen die Verhältnisse von dem Tage an, da er die am Wege kämpfenden Jungen, Dan Mylrea und Jarvis Kerrisch, überrascht hatte, eine bestimmte Wendung. Es war das erstemal, daß er den Jungen Jarvis gesehen hatte. »Wer ist er?« hatte er gefragt, und das alte Weib, die Kerrisch, hatte ihm geantwortet: »Kennt Ihr ihn nicht, Deemster? Habt Ihr nie ein Gesicht wie das seine gesehen? Nicht, wenn Ihr in den Spiegel blickt?«

Es bedurfte keines zweiten Blickes in den Spiegel, um zu sehen, wessen Sohn der Junge sei.

Der Deemster ging nach Ballamona heim und dachte über die stürmische Begegnung nach. Er konnte den lebenden Vorwurf, der dieses Knaben Gegenwart, innerhalb weniger Meilen von seinem eignen Hause, für ihn war, nicht länger ertragen, und eine Eingebung, der kein edlerer Beweggrund als beschämter Stolz zugrunde lag, führte ihn am Abend allein und zu Fuß nach der Hütte der Kerrisches zurück. Die Hütte lag an einem einsamen Platz oben am Abhang einer kahlen Heide mit der dunklen See im Vorder- und den purpurnen Hügeln im Hintergrunde, und eine freie Wagenspur führte zu ihr. Eine Bleimine, als die »Kreuzader« bekannt, war vor vierzig Jahren dort in Betrieb gewesen. Der Schacht war noch offen und jetzt mit dunklem, faulem Wasser fast bis zur Oberfläche gefüllt. Eine dachlose Mauer zeigte, wo das Triebwerk gestanden hatte, und an dieser Mauer zog sich ein langer, strohbedeckter Gerätschuppen mit einer Türe und einem kleinen Fenster darin hin. Dies war die Hütte; und ehe Frau Kerrisch ihr weniges, wackliges Hausgerät, nachdem es auf des Deemsters Befehl auf die Straße geworfen war, nach dort brachte, hatte der Schuppen nie als Wohnung gedient.

Die Türe war offen, und der Deemster trat ein. Eine der Frauen, die alte Kerrisch, saß auf dem Stuhl neben dem Feuer (es war ein sprühendes Haselstrauchfeuer) und schnitt einige Reste grünen Gemüses in den vom eisernen Haken des Schornsteins herabhängenden Suppentopf. Die andere Frau, Mally, war mit einer Arbeit in dem dunklen, als Schlafstätte dienenden Winkel beschäftigt, den eine an die hölzerne Bucht eines Pferdestalles erinnernde Holzwand von dem Wohnzimmer trennte. Der Knabe schlief schon, und seine ruhigen Atemzüge tönten aus dem dunklen Winkel heraus.

»Frau Kerrisch,« sagte der Deemster, »ich bin bereit, den Jungen auf mich zu nehmen und zu erziehen, ihn, wenn er soweit ist, in ein Geschäft eintreten zu lassen und ihm, wenn er selbst sich einmal niederlassen will, behilflich zu sein.«

Frau Kerrisch hatte sich mit einem harten Ausdruck im Gesicht steif von ihrem Stuhl erhoben.

»Überlegt es Euch, Weib, überlegt es Euch und antwortet nicht übereilt,« sagte der Deemster.

»Wir müßten schon gewaltig um 'n Teller Suppe und 'n Bissen zu essen in Verlegenheit sein, ehe wir irgend etwas von Euch annehmen würden, Deemster,« antwortete das alte Weib.

Des Deemsters forschende Augen warfen unter ihren buschigen Brauen einen schnellen Blick im Raum herum. Es war ein Ort der Armut, fast des Schmutzes. Als Fußboden diente die nackte, hartgetretene Erde, das Dach bestand aus einfachem Stroh, das hier und dort, um es an seinem Platz zu halten, durch eine in die zerbrochenen Sparren geschobene Latte, oder einen herabhängenden Heubüschel versichert war.

»Es geht Euch schmählich arm, Weib,« sagte der Deemster, und darauf kam Mally selbst aus dem Schlafwinkel heraus. Ihr Gesicht war bleich und abgezehrt, und ihre trüben Augen hatten ihren hellen Glanz verloren; es war ein Antlitz ohne einen einzigen Hoffnungsstrahl darauf.

»Schweigt, Mutter,« sagte sie, »laßt uns hören, welch einen Vorschlag der Deemster zu machen hat.«

»Vorschlag? Vorschlag?« fuhr es der alten Frau heraus. »Du solltest meines Erachtens genug von des Deemsters Vorschlägen haben.«

»Seid ruhig, Mutter,« sagte Mally, und dann sich an den Deemster wendend, fragte sie: »Nun, Sir, was ist es?«

»O, sehr nett und erstaunlich höflich zu solch 'nem Teufel wie der da, nur zu, Dirne, nur zu,« sagte das alte Weib, ihre Hand und ihr Haupt im Zorn gegen Mally erhebend.

»Mutter, dies ist meine Sache, sollte ich meinen – was ist es, Sir?«

Die Wut der alten Frau über die Langmut ihrer Tochter war indes nicht zu bändigen.

»Seht da,« sagte sie, »meine eigne Tochter entblödet sich nicht, mir vor Fremden vorzuwerfen, daß ich keinen Heller mein eigen nenne und zu keiner Arbeit mehr tauglich bin und nur noch am Krückstock herumhumpeln und vielleicht Ordnung im Hause schaffen kann und über nichts mehr mitzureden habe – und was sonst noch, ja, was sonst noch, Dirne?«

Der Deemster erklärte seine Absicht. Sie bestand darin, daß der Junge Jarvis ihm gänzlich überlassen werden und keinerlei Beziehung mit seiner Mutter und Großmutter aufrechterhalten solle, und daß unter der Bedingung der Deemster für ihn und seine Zukunft sorgen wolle.

Frau Kerrisches Wut kannte keine Grenzen. »Meine Güte!« rief sie, »meine Güte, meine Güte!« Mally jedoch lauschte dem Vorschlag des Deemsters und überlegte ihn sich. Sie war an Leib und Seele gebrochen und rechnete mit ihrer Armut. Ihre Mutter war durch Rheumatismus arbeitsunfähig und konnte nichts mehr verdienen, und ihre eigne Arbeit wurde stückweise beim Netzeweben bezahlt – so und soviel für ein hundert Meter langes und zweihundert Maschen tiefes Netz – woran sie mechanisch von acht Uhr früh bis acht Uhr abends arbeitete, und das ihr etwa vier bis fünf oder sechs Schillinge die Woche eintrug. Und wenn der Mangel sich einstellte, mußte ihr Junge darunter leiden. Sie antwortete nicht sofort, und nach einigen Augenblicken wandte sich der Deemster mit den Worten: »Überlegt es Euch, überlegt es Euch,« der Türe zu.

»Hurra! Hurra!« rief das alte Weib, in der Entrüstung ihrer unbändigen Seele spottend, von ihrem Stuhle aus.

»Seid ruhig, Mutter,« sagte Mally, und die ihr aus den Augen blickende Verzweiflung schien sich jetzt auch ihrer Stimme mitgeteilt zu haben.

Das Ende war, daß Jarvis Kerrisch drei Jahre in Liverpool auf die Schule geschickt wurde, um dann als Lehrling in das Geschäft der Gebrüder Benas von der Goree Piazza, vorgeblich afrikanische Kaufherren, in Wahrheit aber englische Geldwucherer, einzutreten. Jarvis ließ sich den Verlust seiner Mutter nicht kümmern und schrieb ihr natürlich niemals; dagegen richtete er zweimal im Jahre einen sorgfältig stilisierten Brief an den Deemster, worin er ihn als »Geehrter Herr« anredete, und sich als »Hochachtungsvoll ganz gehorsamst« unterzeichnete.

Mally sah sich in ihrer Rechnung betrogen. Wenn sie ihre Armut bei ihrem Entschluß in Betracht gezogen hatte, so war es ebensowohl um ihres Knaben willen gewesen. Er würde derselben gänzlich enthoben sein, wenn sie sich nur zur Trennung entschließen konnte. Sie entschloß sich zu diesem Opfer und gab ihren Sohn fort und blieb als eine gebrochene und kinderlose Frau zurück. Dann erst erkannte sie, welchen Preis sie gezahlt hatte. Der Junge war der Gegenstand ihrer Schande, aber ebensowohl der Gegenstand ihres Stolzes gewesen. War sie vorher ein hoffnungsloses Weib, so war sie nun ein gebrochenes dazu. Ganz allmählich fiel sie der Faulheit und dem Trunk anheim, und ehe der junge Jarvis in seinem gefältelten Vorhemde auf dem Stuhl in der Goree Piazza saß und ehe der Flaum sich auf seinen hageren Wangen zu zeigen begann, war seine Mutter ein verlorenes und verkommenes Weib.

Doch immer war der Deemster noch nicht Herr seines Schicksals. Als Ewan seine Hoffnungen betrogen und sich der Kirche geweiht und ohne seine Einwilligung und Kenntnis geheiratet hatte, erschien es ihm, als ob die Kette sich allmählich fester um ihn schlänge. Darauf ging er zum zweiten Male allein und am späten Abend nach der Hütte an der Kreuzader hinüber.

»Frau Kerrisch,« sagte er, »ich bin bereit, Euch jährlich einhundertundzwanzig Mark zu bewilligen, und ich werde sie in drei Zwanzigmarkscheinen im Frühling- und Herbsttermin auszahlen,« und damit legte er seine erste Zahlung auf den Tisch, und war, ehe die rheumatische alte Frau sich in ihrem Stuhle umwenden konnte, verschwunden.

Der Deemster hatte gerade seinen dritten Besuch in der Hütte bei der Kreuzader und seine zweite Zahlung gemacht, als der Tod von Ewans jungem Weib wie ein Donnerschlag auf ihn herniederfuhr und seine ganze Seele erschreckte. Tage und Nächte lang ging er, bis ins tiefste Mark erschüttert, wie ein geprügelter Hund umher. Zwanzig Jahre lang hatte er der Naturgewalt widerstanden; mit seinem langen, unaufhaltsamen Lachen hatte er sie abends beim Schlafengehen und morgens beim Aufstehen verlacht; er hatte Aberglauben bei andern verspottet und ihn, wo er nur gekonnt, bestraft; er war der Richter der Insel, und diejenige, deren Mund ihm sein Schicksal verkündet hatte, war nur ein auf der Lebensbahn elend zugrunde gegangenes Weib; die Naturgewalt ließ sich jedoch nicht länger verleugnen. Das Haus über seinem Haupte war verflucht – verflucht für ihn, für seine Kinder und Kindeskinder.

Diese Idee wurde das drohende Schreckgespenst des Deemsters. War ihm kein Ausweg geblieben, das über ihm hängende Schicksal abzuwenden? Keiner? Den Deemster bewegte, während er das Leben eines Verdammten führte, diese Frage Tag und Nacht. Endlich fiel ihm ein Plan ein, der ihm Frieden zu bringen versprach, einen armseligen, elenden, äußeren Frieden, und er ging nicht länger wie ein geprügelter Hund einher. Sein Vorhaben war ein sonderbares; es war das letzte, das die Vernunft ihm hätte eingeben, aber das erste, das sein böser Schicksalsgeist erhofft haben könnte – es war der Entschluß, nach Liverpool zu schreiben und Jarvis Kerrisch kommen zu lassen, um ihn als seinen Sohn in Ballamona aufzunehmen.

Durch die Ausführung dieses Vorhabens legte sich die Hand des Schicksals schwer auf ihn; er konnte ihr jedoch nicht widerstehen und schien sich als williger Sklave ihrer Macht zu unterwerfen; er machte es wie Saul, der, nachdem der Geist Gottes von ihm gewichen, und ein böser Geist sich seiner bemächtigt hatte, den gesalbten Sohn Jesses kommen ließ, auf daß er ihm auf der Harfe vorspiele und ihn vom Throne verdränge.


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