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Neunzehntes Kapitel.
Wie Dan von Ewan gefunden wurde

Ewan schritt wie ein Mensch, dem der Verstand stille steht, daher. Alle seine Sinne waren abgestumpft. Er konnte nicht ordentlich sehen, nicht hören, nicht denken. So sehr er sich auch bemühte, er konnte seine Gedanken nicht sammeln.

Ein über das andere Mal kam er auf den Bibelvers zurück, den er am Morgen für seinen nächsten Predigttext ausersehen hatte. Es war die Geschichte Esaus, der, nachdem er seines Erstgeburtsrechtes beraubt worden war, im Herzen sagte: »Ich will meinen Bruder Jakob töten,« wie Jakob vor dem Zorn seines Bruders zu Laban floh, wie nach vielen Jahren Esau die Tochter Ismaels heiratete, und Jakob in das Land Edom kam; wie Jakob in seiner großen Furcht vor Esau demselben Geschenke aus der Fülle, mit der Gott ihn gesegnet hatte, sandte, und wie Jakob seine Augen aufhob und Esau erblickte und ihm entgegeneilte, ihn umarmte, ihm um den Hals fiel, ihn küßte, und wie sie beide miteinander weinten.

Ewans Augen sahen die Ziegen und Lämmer, die Widder und die Kamele das heiße, üppige Gras zur Seite des Jordans müde durchschreiten; dann plötzlich verschwand alles dies, und er fand sich an dem düstern Wintertage allein, mit dem dumpfen Getöse der dunklen See vor sich und den düsteren daherjagenden Schneewolken über sich. Die heftige Aufregung lähmte alle seine Sinne. Er konnte weder seine Gedanken auf die Aufgabe, um derentwillen er kam, konzentrieren, noch dieselbe aus seinem Gehirn verbannen. Aufgabe? Was war es gleich? Einen Augenblick glaubte er es zu wissen, und dann schienen ihm die Augen aus dem Kopf zu treten. »Verliere ich den Verstand?« fragte er sich, und sein Kopf begann zu schwindeln.

Er wanderte weiter; eine wilde Gewalt trieb ihn. Endlich erreichte er das alte Ballamona. Sein eigenes Wohnzimmer im Hause war das kleine mit Regalen versehene Stübchen, das über das Marschfeld auf die See hinausblickte – dasselbe, das Gilcrist Mylreas Studierstube gewesen, ehe er fortgegangen und als Bischof heimgekehrt war.

Ewan jedoch wandte sich mechanisch einem anderen Teil des Hauses zu und betrat einen mit Gewehren und Hirschgeweihen, Angelruten und Körben, mit einem mit roten Buchstaben gezeichneten Nachtwächterknüppel, losen Netzen und sogar einigem Sattelzeug behangenen Raum. Ein Hund, ein brauner Schäferhund, lag schlafend vor dem Feuer, und über dem Kaminsims tickte eine allmächtige Uhr.

Dan jedoch war nicht in seinem Zimmer. Darauf kam es Ewan unklar in die Erinnerung zurück – wie war es seinem Gedächtnis nur so lange entfallen? – daß Dan, als er ihm auf der Straße begegnete, nicht dem Hause, sondern dem Dorfe zugeschritten war. Zweifelsohne, der Mann war auf dem Wege nach der von ihm besuchten, gemeinen Schenke gewesen.

Ewan verließ Ballamona und wandte sich den »Drei Beinen von Man« zu. Er durchschritt die Felder, die der Bischof von dem Pastoracker für seines Sohnes landwirtschaftlichen Beruf abgetrennt hatte. Im Weiterschreiten zog der vernachlässigte Zustand des Landes und der Saaten seine Aufmerksamkeit auf sich. In einem Gehege lagen die vertrockneten Stiele der letzten Kohlernte verfault am Boden; auf einer Weide lag ein an der Egelkrankheit gestorbenes Schaf, und sechs oder sieben andere vom Rest der Herde schleppten ihre ausfallende Wolle mit sich über das spärliche Gras entlang.

Ewan verließ das Feld und schlug den an Bischofs-Hof vorüberführenden Fußsteig ein, und als er den das Feld einschließenden Zaun überstieg, hörte er den Bischof mit irgend jemand auf dem Wege in Unterhaltung.

»Wie hoch beläuft sich der Rest meiner Schuld, Herr Looney, für die auf meines Sohnes Pachtung errichtete Scheune?« fragte der Bischof.

»Sieben Pfund, fünf Schilling, Mylord,« antwortete der Mann, »und ich bin schon sehr um das Geld in Verlegenheit, Mylord, und drei Monate warte ich nun schon darauf.«

»Das tut Ihr, Herr Looney. Ihr würdet schon lange Euer Geld haben, wenn ich es nur irgend hätte auftreiben können.«

Darauf trat Stille zwischen den beiden ein, und Ewan wollte gerade weiterschreiten, als er den Bischof hinzufügen hörte –

»Hier – hier – nehmt die.« Ein klirrendes Geräusch wie von Schlüsseln und Petschaften und einer Uhrkette begleitete die Worte. »Es war meines alten Vaters letztes Geschenk, weiter hatte er mir nichts zu geben – Gott segne sein Andenken! – und ich habe nie geglaubt, mich von ihr trennen zu müssen – aber hier, nehmt und verkauft sie und bezahlt Euch davon, Herr Looney.«

Der Mann schien zurückzutreten.

»Eure Uhr!« sagte er. »O, nein, nein, nein! O, und wenn ich nie bezahlt würde, nie, so ist Patrick Looney doch nicht der Mann, der Euch die Uhr aus der Tasche ziehen möchte.«

»Nehmt sie – nehmt sie! Weshalb nicht, mein guter Mann« – und des Bischofs Stimme schien dem Versagen nahe –. »Ihr solltet es nicht ablehnen, Euch von Euerem Bischof die Tageszeit bieten zu lassen.« Und darauf erscholl ein erzwungenes, in einen Seufzer ersterbendes Lachen.

»Außerdem hat mein abnehmendes Gedächtnis das Aufziehen und Tragen des alten Dinges schon lange als eine große Last empfunden. Nehmt, es wird meine Schuld an Euch auslöschen.«

Ewan ging mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Weshalb mußte er gerade diese Unterhaltung anhören? Sollte sie ihn in seinem Vorhaben bestärken? Es schien, als ob ein übernatürlicher Einfluß dabei im Spiele sei. Dies war jedoch nicht die einzige Unterhaltung, die an diesem Tage sich seinem Ohr aufdrängte. Als er die »Drei Beine von Man« erreichte, hielt ein Frachtwagen vor der Türe. Ewan betrat die Hausflur. Die alte Katze zählte die Kreidestriche im Innern der Schranktüre wagrecht und senkrecht zusammen, und der Fuhrmann saß an einem runden Tisch und gab einige tolle Streiche aus Castletown zum besten.

»›Laßt uns die Nachtwächter überfallen und ihnen ihre Laternen wegnehmen,‹ sagte der vielleicht 'n wenig angeduselte Hauptmann, und dabei wollte er sich totlachen; und hinunter ging es doch wohl unter großem Geschrei, einer immer toller als der andere, und dem roten Jemmy und dem dunklen Johnny bei Nacht und wie sie alle heißen die Laternen und Schläger doch wohl entrissen, und im Umsehen wieder fort. O, es war 'n Spaß.«

Der Fuhrmann lachte bei dieser Erzählung mit lauter Stimme.

»War das, als Herr Dan drüben in Castletown zum Abschluß seines Übereinkommens wegen der Landwehr war?«

»Ach, ja, Weib, und 'n schönes Stück Geld hat's ihn gekostet. Am nächsten Morgen machten der rote Jemmy und der dunkle Johnny sich nach dem Schloß hin auf, der Hauptmann faßte sie aber ab und ›ich will's nicht leugnen,‹ sagt' er, ›'s war 'n tolles Stück,‹ sagt' er, ›und hier nehmt dies, Jemmy,‹ sagt' er, ›und verliert kein Wort weiter d'rüber.‹«

»Und wie viel hat er sich's kosten lassen, die Nachtwächter zu besänftigen?«

»Drei Pfund, sagt man. Ach, ja, Weib, Weib, großmütig, sehr großmütig. Es ist kein Funken von Geiz im Hauptmann.«

Das Blut strömte Ewan zu Herzen. Die nächste Minute hatte er nach Dan gefragt und von dem alten schnurrbärtigen, nach jeder Silbe niederknixenden Weib in Erfahrung gebracht, daß Herr Dan der Bucht zugehend gesehen worden sei, der Kinnbackenbucht unter Orris Head zu.

Ewan verließ die Schenke und schlug den nach der Bucht führenden Pfad ein. Welch ein geheimnisvoller Einfluß waltete über seinem Schicksal, daß er unter allen Männern zwei derartige Unterhaltungen anhören mußte, und gerade heute und zu dieser Stunde. Die vernachlässigten Äcker, der verarmte alte Bischof, der unbekümmerte Verschwender, alles stieg in einem verwirrenden Nebel vor Ewans Seele auf.

Der Pfad nach der Kinnbackenbucht führte an dem ein wenig außerhalb des Dorfes gelegenen Schlachthof vorüber. Ewan hatte oft des Schlächters niedrigen Wagen mit Schafen oder mit Kälbern auf der Straße vorbeifahren sehen. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß dieser Wagen mit einem toten Ochsen darin, dicht vor ihm her fuhr, und daß der am Kopfe des Pferdes schreitende Fuhrmann mit einem andern neben ihm gehenden Manne in tiefer Unterhaltung war. Trotzdem seine Sinne gänzlich verwirrt waren, konnte er außer in den Zwischenpausen, während der [er] sein Gehör ihn in Stich zu lassen schien, der Unterhaltung beider Männer folgen.

»Ja, ja, man sollt's nicht glauben – die armen Tiere zu töten, weil sie beim Klang der Mittagsglocke stille standen! Und fünfzehn Jahre sind sie daran gewöhnt gewesen! Ja, ja!«

»Er ist kein Christenmensch, und damit ist ihm nicht zu nahe getreten.«

»Christenmensch? Christenmensch, sagt Ihr? 'n rohes Vieh ist er, sage ich! Des alten Bischofs Sohn? Ja, ja!«

Stückweise, kaum hinhorchend und die Worte nur gerade hörend, wie man in schlaflosen Nächten mit verwirrtem Gehirn das Ticken der Uhr in Zwischenräumen hört, erfuhr Ewan die Geschichte des grausigen Vorganges bei dem Pflugwettbewerb, nachdem er die Wiese verlassen hatte.

»Christenmensch? Christenmensch? jawohl!« wiederholte einer der Männer mit einem bitteren, spöttischen Lachen. »Mir will scheinen, als ob es kein allzu großes Verbrechen wäre, solchen Christenmensch ebenso zu behandeln, wie er die armen stummen Geschöpfe behandelt hat.«

Ewans Schläfe pochte zum Zerspringen, und ein entsetzlicher Aufruhr tobte in seinem Hirn. Ein wilder Gedanke schloß alle übrigen aus. Weshalb hatte er drei derartige Unterhaltungen gehört? Es gab nur eine Antwort auf die Frage – er war von einer übernatürlichen Macht als Instrument für einen bestimmten Zweck ausersehen. Es war unwiderruflich festgesetzt, eine höhere Gewalt, der er als blindes Werkzeug diente, hatte ihm die furchtbare Aufgabe auferlegt. Ja, so war es – so war es!

Ewan eilte vorwärts, an dem Wagen vorüber und hörte die Stimmen der Männer zu einem unverständlichen Murmeln hinter sich verhallen. Die nächsten Minuten waren den entsetzlichsten Betrachtungen geweiht. Seine pochende Schläfe schien die Haut über seiner Narbe krampfhaft zu spannen. Er gedachte seines jungen, im Grabe ruhenden Weibes und des Schreckens, der sie unter die Erde gebracht hatte. Er durchlebte von neuem die namenlose Erinnerung jenes Momentes in der Bibliothek von Bischofs-Hof, als er, um die Ehre eines Fälschers zu retten, vor Gott und Menschen gelogen hatte. Dann gedachte er des grauen Hauptes des edlen alten Mannes, des heiligsten der Heiligen, des zärtlichsten aller Väter, des vor Scham und vernichteter Hoffnung bis zum Staube erniedrigten Bischofs. Und nachdem sein Gemüt sich in diese marternden Gedanken hineingearbeitet hatte, erinnerte er sich von neuem des Entsetzlichen, das sein Vater, der Deemster, ihm vor einer Stunde erzählt hatte, und vor dem alles übrige verstummte.

Ewan fing an zu laufen, und während des Laufens schien ihm alles Blut ins Gehirn zu steigen, und tausend verwirrte und unklare Vorspiegelungen ihm vor Augen zu tanzen. Plötzlich wurde er gewahr, daß er den steilen Pfad zur See, der in der Kinnbackenbucht endete, eingeschlagen hatte. Ehe er es sich versah, befand er sich im Gespräch mit Davy Fähle und erkundigte sich nach Dan. Er bemerkte, daß er kaum seiner Stimme Herr war.

»Er ist in der Hütte am Strand, Sir,« sagte Davy und fuhr in seiner Arbeit fort, einen krummen, alten Nagel aus einer von der letzten Flut ans Land gespülten harzigen Tannenplanke gerade zu klopfen. Nach einem Moment hielt Davy inne und schaute dem jungen Pastor kopfschüttelnd und etwas vor sich hinmurmelnd nach. Dann warf er den Hammer nieder und folgte ihm langsam.

Ewan schritt weiter. Seine Ungeduld war nun fieberhaft. Er malte sich seine Begegnung mit Dan aus – trinkend, rauchend, lachend, ein Bein über das Ende des Tisches hängend, die Mütze schief auf dem Kopf, mit rotem Gesicht, verschwommenen Augen und brennenden Lippen – so würde er ihn finden.

Es begann zu dunkeln, die Schneewolke stand nun sehr niedrig am Himmel, die Seevögel schrien unten am Rande des Wassers, und das tiefe Brausen der See selbst schallte vom Strande unten und von den dahinter befindlichen Klippen zu ihm her.

Ewan sah die Hütte und schritt auf sie zu. Als er ihr nahe gekommen war, glitt er aus und fiel. Beim Aufrichten bemerkte er, daß er in der Dämmerung über einige um einen Holzblock herumliegende Spähne gestolpert war. Davy hatte das von der See herangespülte Treibholz zur Feuerung klein gehauen. Ewan sah das Beil zwischen den losen Spähnen liegen. In der nächsten Minute hatte er es ergriffen. Wie er in jedem Ereignis dieser entsetzlichen Stunde einen geheimnisvollen Einfluß übernatürlicher Mächte zu erkennen glaubte, legte er sich diesen Zufall auf dieselbe Weise wie die vorhergehenden aus. Bis dahin hatte er nur an die Tat, die ihm auferlegt war, selbst gedacht; keinen Moment an die Art und Weise, wie er sie vollbringen solle. Nun aber war das Beil ihm in die Hand gespielt. So war alles also unwiderruflich entschieden.

Und nun endlich stand er mit fliegendem Atem, dem Beil in der Hand, mit aus den Höhlen tretenden Augen, geschwollenen, harten Stirnadern außerhalb der Hütte. Jetzt, o Gott! jetzt nur Kraft für einen Augenblick, für einen kleinen Augenblick, jetzt, o jetzt!

Dem ginsterbedeckten Dache entstieg blauer Rauch; die dunkle kleine Türe war geschlossen. Drinnen war Dan, Dan, Dan; und während Ewans junges Weib im Grabe lag und Ewans Schwester schlimmer als gestorben, und der gute Bischof zugrunde gerichtet war, saß Dan trinkend und lachend mit kaltem und totem Herzen hier drinnen!

Ewan hob die Klinke, riß die Türe auf und trat ein.

Himmlischer Vater, was zeigte sich ihm? Auf dem Boden der Hütte in einer Ecke des kleinen Raumes brannte ein niedriges Feuer von Ginster, Torf und Holzblöcken, und neben diesem Feuer lag Dan lang ausgestreckt auf einem Strohlager, mit dem Kopf auf einer Rolle alter Stricke, eine Hand unter dem Kopfe, die andere leicht auf der Brust ruhend, sanft schlafend wie ein Kind, da.

Ewan blieb einen Augenblick schaudernd und bestürzt stehen. Der Anblick des hilflosen seiner Gnade preisgegebenen Dan entnervte seinen Arm und vertrieb das Fieber aus seinem Blut; es schien eine überwältigende Gewalt von dem schlafenden Manne auszugehen, und der Schlaf hielt ihn mit seiner eigenen Unantastbarkeit umhüllt.

Das Beil entsank Ewans machtlosen Fingern, und er bedeckte sein Gesicht. Wie ein Ertrinkender im Momente des Todes sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sehen soll, so sah Ewan die ganze Vergangenheit, die glückliche Vergangenheit – die Vergangenheit der Liebe und Unschuld, von der Dan ein Teil war – vor sich auferstehen.

»Ist es wahr?« dachte er, »verliere ich den Verstand?« und er fiel auf die an der Wand stehende Bank nieder. Darauf folgte ein Augenblick der Bewußtlosigkeit, und während dieses Augenblickes schien er wieder an den Wassern des Jordans zu wandeln, und die Lämmer und die Widder und die Kamele das lange Gras durchschreiten, und Esau und Jakob sich um den Hals fallen und miteinander weinen zu sehen.


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