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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Allein auf weiter, weiter See

Der Wind nahm zu, und die Männer hißten die Segel auf und begannen, der Insel zuzusteuern. Die Brise füllte die Segel, und der Klüwer legte sich, während das Fischerboot wie ein aufgeschreckter Vogel vom Winde getrieben wurde, zur Seite. Die Sonne ging, durch einen leichten Dunst verschleiert, über dem Lande auf. Das rote Licht flammte auf und erstarb wieder und fächelte die Luft, als ob der Wind selbst der Sonnenschein sei, und verklärte auf Momente die hageren Gesichter der Männer mit fahlem Glanz. Eine bläuliche Wolkengruppe blieb kurze Zeit am westlichen Himmel stehen und ging dann in einer über ihr schwebenden grauen Regenwolke auf. Derartig gestaltete sich der Anbruch und Sonnenaufgang eines verhängnisvollen Tages.

Dan stand am Steuer des Schiffes, und nachdem er den Punkt, der wie ein Geisterboot auf dem Wasser dahingeglitten war, nicht mehr wahrnehmen konnte, blickte er schweigend in das östliche Licht und auf die grünen, vom Morgensonnenschein beschienenen Ufer. Es wurde ihm eine friedliche halbe Stunde des Ausruhens von seinen eignen marternden Gedanken zuteil. Er sah im ruhigen Licht, was er getan, und welch ein Sturm blinder Wut ihn zu der Tat getrieben hatte. »Sicherlich, Gott ist barmherzig,« dachte er in seinem Sinn und wandte alle seine Gedanken Mona zu. Es beruhigte ihn, sich mit ihr zu beschäftigen. Sie war mit seinem Verlangen und Hoffen auf Vergebung und Frieden verflochten. Sie bildete einen Teil seiner Vorstellung von Buße. Seine Liebe für sie bedeutete Vergebung in den Augen des himmlischen Vaters.

Die Männer hatten sich jetzt nach ihrer ersten Bestürzung wieder gefaßt und führten Dans Befehle nicht mehr nur mechanisch aus. Sie hatten das Boot in keiner andern Absicht, als der, ihren Freund zu retten, bestiegen. Natur aber bleibt Natur und ist im besten Falle stets nur ein klägliches Ding, und so waren alle Männer jetzt hauptsächlich von der Idee der Selbstrettung erfüllt. Einer nach dem andern schlichen sie sich nach vorne und setzten sich auf die Ducht und berieten miteinander. Der Wind war voll auf ihr Steuerbord gerichtet, das Großsegel der Jolle war geschwellt, und das Fahrzeug trieb geraden Laufes der Heimat zu. Die Köpfe der halb verwirrten Männer aber durchfuhr wie ein eisiger Windhauch der Gedanke, daß die Heimat ihnen nicht länger eine Heimat sein konnte. Die Stimmen der Mädchen, das Geplapper der Kinder, das Willkommen ihrer Weiber, der eigne glühende Herd – alles dies war nicht länger für sie da. Davy Fähl war hinten bei Dan geblieben, die Männer aber holten ihn nach vorne und begannen ihn auszufragen.

»Erklär' uns mal dies ganze geheimnisvolle Unglück,« sagten sie.

Davy senkte den Kopf und antwortete nicht.

»Du warst bei ihm – was hat er gemacht?«

Der Junge antwortete auch auf diese Frage nicht.

»Heraus damit, du verdammte junge Teufelsbrut,« sagte der alte Billy. »Verdammter Tölpel, kannst du nicht reden?«

»'s ist des Herrn Geheimnis, und ich verrate es nicht,« sagte Davy.

»Du willst nicht, du blödsinniger Taugenichts?«

»Nein, ich will nicht,« sagte Davy beherzt.

»Hör' mal, du Strandlungerer du, glaubst du etwa, daß du deinen alten Onkel, der dich Betteljungen groß gezogen hat, ein Schnippchen schlagen kannst? Was ist in der Hütte drüben vorgefallen?«

»Das ist sein Geheimnis,« wiederholte Davy.

Der alte Billy nahm Davy beim Kragen, als ob er ein zugebundener Sack sei, und schlug ihm mit der andern Hand hart auf den Rücken.

»Weg mit dir, du Teufelsbrut,« sagte er.

Davy nahm den Schlag ruhig hin, bewegte sich aber keinen Schritt und wandte seine großen, leeren Augen seinem Onkel zu.

»Weg mit dir, du Froschauge,« und der alte Billy erhob seine Hand von neuem.

»Sachte, sachte,« mischte sich Crennell dazwischen, und darauf begannen die Männer, während Davy nach dem Steuer zurückging, ihre Meinungen auszutauschen.

»'s ist ganz klar,« sagte Ned Tere, »sie haben einen Streit und vielleicht einen Zweikampf miteinander gehabt, und er hat ihn natürlich untergekriegt und mehr als das, so ein vierschrötiger Kerl wie er ist, und ein Ochse an Kraft und gerade gewachsen wie ein Heringsrückgrat! Und dann hat er sich zuerst verbergen wollen, nun aber, nach reiflicher Überlegung hält er es für besser, zurückzugehen und es darauf ankommen zu lassen.«

Diese Erklärung des Geheimnisses leuchtete allen ein.

»Für ihn ist's leicht genug, sich aufs hohe Pferd zu setzen,« sagte Ned wieder. Wenn ich des alten Bischofs Sohn wäre, würde ich auch meinen Kurs innehalten und mich nicht verstecken. Wir haben uns selbst nun aber in Gefahr gebracht, ja, das haben wir, und wir gehören nur zu der gewöhnlichen Sorte, das tun wir, und für unsereins gibt's kein gegen den Wind Segeln.«

Dieser Ansicht stimmten viele tiefe Stimmen bei. Sie wären ganz unschuldig und nur von einer freundlichen Absicht getrieben auf die See hinausgefahren, hätten dadurch jedoch gemeine Sache mit dem Schuldigen gemacht, und der schuldige Mann hätte Fürsprache an hoher Stelle, und sie hätten keine. Darauf steckten sie ihre zerzausten Köpfe wieder zusammen.

»Weshalb sollten wir uns nicht auch aufs hohe Pferd setzen?« flüsterte einer von ihnen; was in Begleitung anderer geflüsterten Bemerkungen so viel heißen sollte als, weshalb sie nicht ebenfalls gegen den Wind segeln und sich empören und Dan in Ketten legen und den Kopf des Bootes kehren und auf die See hinausfahren sollten? Dann würden sie irgendwo, irgendwohin segeln können und dem Verbrechen des einen und der Mitschuld aller entfliehen.

»Wartet,« sagte der alte Billy Quillasch, »ich will mit ihm selbst sprechen.«

Dan hatte am Steuer gesehen wie die Männer nach vorne gegangen waren, und ebenfalls hatte er die Seitenblicke wahrgenommen, die einige derselben ihm über die Schulter zugeworfen hatten. Er wußte – er glaubte zu wissen, welcher Gedanke ihre braven Herzen bewegte. Sie dachten – so meinte Dan – daß sie ihn, falls er die Absicht habe, sich preiszugeben, daran verhindern müßten. Sie sollten aber sehen, daß er ein Sühnopfer bringen könne. Sühnopfer? Leerer Trost, erbärmlicher Balsam für eine zerschlagene Seele, aber es war alles, was ihm blieb – alles, alles.

Der alte Quillasch ging nach hinten, näherte sich seitwärts dem Steuer und begann stammernd und auf einem Stück Tau in seinem Munde kauend, ohne seine Augen zu Dan zu erheben, zu sprechen.

»Weshalb sollten wir nicht nach den Shetlands-Inseln fahren?« sagte er.

»Weshalb nach den Shetlands-Inseln?« fragte Dan.

»Nun, weil wir sicher und gut aufgehoben sein würden, sobald wir nur erst einmal dort wären. O ja, ich bin schon vordem dagewesen. Es sind alles arme Leute dort, aber sehr gutherzig; und wie sagt doch das alte Sprichwort: ›Wenn ein Armer dem anderen hilft, lächelt der liebe Gott im Himmel.‹«

Dan glaubte, er könne dem alten Burschen ins Herz sehen. Sein Hals schnürte sich zu, und seine Augen wurden ihm feucht, und er mußte, während er mit einer Hand das Steuer hielt, das Gesicht abwenden. Sie sollten für ihre Treue belohnt werden, diese zuverlässigen Seebären – ja, so wahr ihm Gott helfe.

»Nein, nein, Billy,« sagte er, »davonlaufen wollen wir nicht. Wir gehen zurück, um für unsere Schuld einzustehen.«

Hierauf warf der alte Quillasch ein gutes Teil seiner Zurückhaltung ab.

»Herr Dan,« sagte er, »wir sind auf die See herausgekommen, Euch aus dieser Klemme zu helfen, und weil wir miteinander unsere Arbeit und unsere Mahlzeiten geteilt haben, und weil ein Freund dem andern beistehen soll; nun aber sind wir ebenfalls in das Verbrechen verwickelt, das sind wir, und was Euch bevorsteht, steht uns bevor, und das Gericht wird nicht wissen, daß wir unschuldig wie neugeborene Kinder sind; und deshalb muß ein jeder von uns für sich selbst, und Gott für uns alle sorgen.«

Darauf verstand ihn Dan – wie hatte er nur ihrer Lage gegenüber so blind sein können?

»Ihr verlangt also, daß ich umlegen soll; ist es so?« fragte er.

Der alte Quillasch nickte gesenkten Auges mit dem Kopfe.

»Ihr glaubt, daß Ihr mit mir gefangen genommen werdet?«

Der alte Quillasch murmelte eine verlegene Bejahung. »Nun, ja, als Mitschuldige an dem Verbrechen,« fügte er hinzu.

Diese Worte brachten Dans mutiges Vorhaben ins Wanken.

»Seid unbesorgt, Billy,« sagte er; »ich werde für Euch sprechen.«

»Und was würde uns das nützen? Nichts. Haben wir nicht versucht, die Leiche zu versenken?«

»Das ist wahr.«

Es war eine entsetzliche Lage. Der kalte Schweiß brach in großen Tropfen auf Dans Stirne aus. Was hatte er getan? Er hatte diesen braven Burschen erlaubt, ihr Schicksal mit dem seinen zu verknüpfen. Sie waren nun wohl oder übel an ihn gebunden. Er konnte freilich ihre Unschuld beteuern, was aber würde sein Wort gelten? Und er hatte keine Beweise. Sie hatten versucht, sein Verbrechen zu verheimlichen, sie konnten es nicht verheimlichen. Gott hatte es nicht gewollt, daß es verborgen bleiben sollte. Und nun, wenn er, um seine Seele zu retten, sein Leben hergeben wollte, welches Recht hatte er, das Leben dieser Männer ebenfalls preiszugeben? Die braven Burschen hatten Frauen und Kinder ihrer wartend. Sühnopfer! Leere Heldentat, sich mit dem Blute von fünf treuen Burschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, ihm geholfen zu haben, freikaufen zu wollen. Er hatte sich in die stolze Rüstung der Selbstaufopferung gekleidet, ein gerechter Gott aber, der in das Herz der Menschen blickt und den Stolz verachtet und in den Staub wirft, hatte ihn derselben beraubt.

Dans Seele war in einem Tumult. Was sollte er tun? Auf der einen Seite winkten Liebe, Ehre, Mona, ja selbst das ewige Leben, und auf der andern Seite waren fünf unschuldige Männer. Die Qual jenes Augenblicks war entsetzlich. Sühnopfer? Gott wollte es nicht zulassen.

Dans Hand ruhte auf dem Steuer, sein Arm aber war kraftlos, weil sein Herz unentschlossen war. Das Fischerboot lag etwa drei Meilen westlich von der Jurby-Landspitze vor dem Wind. In einer halben Stunde würde es in die Bucht einlaufen. Nun oder nie mußte er handeln. Was sollte er tun? Was? Was?

Dann, in diesem Moment des entsetzlichsten Zweifels, der den Vorsatz eines willensstarken Mannes hätte zunichte machen können, gab die Natur selbst die Antwort.

Urplötzlich machte der Wind einer Totenstille Platz. Darin erkannte oder glaubte Dan zu erkennen, daß Gott für die Männer und wider ihn sei. Er sollte kein Sühnopfer bringen. Nein! Seine stolze Selbstaufopferung würde nicht angenommen werden.

Dans willenlose Hand fiel vom Steuer, und er warf sich auf seinen alten Platz bei den Luken nieder. Die Männer blickten sich gegenseitig ins Gesicht, und ein unheimliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Segel klappten untätig, die Männer tuchten sie auf, und das Boot trieb südwärts.

Die Gezeit hatte noch nicht eingesetzt, jede Bootslänge südlich trieb das Boot einen Faden weiter in die See hinaus. Dies war, was die Männer wünschten, und sie versammelten sich im unteren Raum und gaben sich hoffnungsvollerer Stimmung hin.

Dan lag bei den Luken, hilflos und hoffnungslos, hagerer und bleicher als zuvor. Ein geisterhaftes Feuer brannte in seinen Augen, und eine entsetzliche Seelenqual begann, sich seiner zu bemächtigen. Ein Hexensabbat, ein Teufelsgelage hatte in seinem verwirrten Hirn seinen Anfang genommen. Es schien, als ob er schon das Geschöpf einer andern Welt sei. In einem Zustand wilder Wahnvorstellungen sah er sich selbst kalten Angesichtes in den Himmel hinausstarrend tot auf Deck liegen, und die Männer um sich herum damit beschäftigt, das Segeltuch und die Gewichte heraufzubringen; er wußte wohl zu welchem Zweck, sie wollten ihn darin in die See versenken.

Dann breitete sich ein Schleier über seine Augen, und als er erwachte, wußte er, daß er geschlafen hatte. Er hatte seinen Vater und Mona im Traum gesehen. Sein Vater war sehr alt, sein weißes Haupt gebeugt, und sein ruhiger, heiligengleicher Blick auf ihn gerichtet gewesen. Monas Antlitz hatte einen glücklichen Ausdruck getragen, ihre ganze Erscheinung von Frieden gesprochen. Der Traum stand frisch und beglückend und friedenbringend in Dans Erinnerung, als er auf seinem Platz auf Deck erwachte; er erschien ihm wie Sonnenschein, wie Vogelgesang und wie der Duft frisch geschnittenen Grases. Gab es im Himmel keinen Tau für verschmachtete Lippen, keinen Balsam für die Seele eines verfluchten Menschen?

Stunden vergingen. Der Tag nahte sich. Ein vorübergehender Atemzug bewegte hier und da die See, und darauf war alles wieder stummer, toter, regungsloser Friede. Vor den Ohren der Fischer tönte nur das schwache Plätschern der sich kräuselnden Flut, und so trieben sie weiter, weiter, weiter.

Wunderbar und sehr rührend war der Umschwung der Gefühle bei den Männern. Erst hatten sie über die Windstille frohlockt, nun aber hatte eine andere Empfindung die Oberhand bei ihnen gewonnen. Der Tag war zum Erfrieren kalt. Tod, langsamer, sicherer, unbarmherziger Tod starrte ihnen ins Angesicht. Täuschung war unmöglich. Dann wäre der Tod zu Hause dem Tod auf dieser verlassenen See doch vorzuziehen! Alles andere, alles andere, nur nicht dies blinde, stumme Ende, dies Absterben Glied für Glied aus dem bewegungslosen Meer. Die Dunkelheit noch einmal sinken, die Sonne wieder auf- und untergehen, und die Finsternis zunehmen zu sehen und noch von nichts anderm als von der unveränderten See umgeben und von nichts anderm als vorn leeren Himmel überdacht zu sein, und nur das Auge Gottes, in dessen rächender Hand Wind und Wetter lagen, auf sich ruhen zu wissen – lieber als das, sterben, eines schnellen, gerechten oder ungerechten Todes sterben.

So bemächtigte sich ihrer die Verzweiflung und vertrieb alle Furcht, und wo keine Furcht ist, da ist keine Barmherzigkeit.

» Share yn olk shione dooin na yn olk nagh nhione dooin,« sagte der alte Billy, und dies alte Manx-Sprichwort sagt: »Besser das Unheil, das wir kennen, als das Unheil, das wir nicht kennen.«

Mit dergleichen armseligen Vorspiegelungen betrogen sie sich selbst, und änderten sie ihre Absicht, und trösteten sie ihre blutenden Herzen.

Der kalte, rauhe Wintertag näherte sich schnell dem Sonnenuntergang, und noch bewegte sich kein Lüftchen. Vergoldet durch die dunstumhüllten Sonnenstrahlen bildete das Wasser gen Westen hin einen Hintergrund von verschwommenem Rot. Das Fischerboot war nahezu zehn Meilen südlich getrieben. Wenn es noch zwei weitere Meilen trieb, mußte es von der südöstlichen Strömung, die unterhalb Contrary Head floß, ergriffen werden. Dieser Gedanke, daß der Zufall sie in den Hafen von Peeltown hineintreiben möchte, schien ihre gleichgültige Hoffnungslosigkeit ein wenig zu beleben. Die Männer blickten nach Dan hinüber und einer von ihnen murmelte: »Mag jeder Hering an seinen eigenen Kiemen hängen;« und ein anderer äußerte: »Jeder Mann soll mit seinem eigenen Sack zur Mühle gehen.«

Davy Fähl lag wenige Schritte von Dan entfernt auf dem Verdeck. Der einfache, schlichte Knabe versuchte, sich alle die guten Worte, die er je im Verlauf seines armen, vernachlässigten, überbürdeten Lebens gehört hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Eines nach dem andern fielen sie ihm wieder ein, die meisten aus einem lang vergangenen Traumland, wunderbar erhellt durch die Vision eines Gesichtes, das liebevoll auf ihn herabgeblickt und ihn sogar zärtlich geküßt hatte. »Liebster Jesu,« und »Müde bin ich, geh zur Ruh« – konnte er beide ziemlich genau erinnern, und ihre schlichten Worte stiegen in der demütigen Inbrunst seines vollen Herzens zum Himmel, auf den seine Augen gerichtet waren, empor.

Die Männer saßen müßig herum und waren halb erfroren. Niemand mochte nach unten gehen. Niemand dachte daran, ein Feuer anzuzünden. Schweigen und Tod waren in ihrer Mitte. Wieder wandten ihre Herzen sich der Heimat zu und nun mit einem andern Gefühl. Sie konnten die Insel durch einen Nebelschleier erkennen und sahen ihre purpurnen Hügel mit einer dünnen Schneeschichte bedeckt. Dies erinnerte sie an die sonnigen Sommertage, und während ihrer Hoffnungslosigkeit unterhielten sie sich von den Wäldern und den Vögeln und den Blumen. »Erinnert Ihr Euch noch des kleinen Eigentums meiner alten Mutter oben an der Schlucht?« sagte Crennell, »und des kleinen Stückchen Gartens davor, in dem die Blumen wie die See in der sanftesten Südbrise wogten und schaukelten, und das rote Heidekraut wie eine goldene Schnur sich an der Hecke hinaufwand, und die Fuchsien die Wand bis unter das Dach überzogen und ihre blutroten Rachen niederhängen ließen, und der grüne Holunderbusch neben der Türe stand, erinnert Ihr Euch noch?« Und die Männer bejahten es und fuhren sich mit ihren Ärmeln über die Augen. Jeder harte Mann, dem die Verzweiflung auf dem durchfurchten Gesicht geschrieben stand, sehnte sich wie ein Kind danach, sein Haupt in den Schoß der Heimat legen zu dürfen.

Es war Weihnachtstag. Der alte Quillasch erinnerte sich dessen, und sie sprachen von vergangenen Weihnachtstagen, und wie vergnügt sie gewesen waren. Billy begann eine lächerliche Geschichte von den beiden tauben Männern, Christopher, dem Gärtner, und Jemmy Quirk, dem Schulmeister, zu erzählen, wie sie beide am Oiel Verree gegeneinander angesungen hatten, und der alte Bursche grinste, während er lärmend durch seine erfrorenen Kinnbacken lachte, wie ein Affe mit seinen wenigen gelben Zähnen dazu. Dies war jedoch ein zu zarter Punkt gewesen, und die Männer verfielen wieder in Schweigen. Dann, während die See kalt und klar und ruhig dalag, und die Sonne im Westen niederging, kam durch die lautlose Luft der Klang der zu Hause läutenden Kirchenglocken vom Lande zu ihnen herübergeflutet.

Dies füllte ihren Schmerzensbecher. Die armen Burschen konnten sich nicht länger beherrschen. Mehr als einer ließ seinen Kopf auf die Knie sinken und schluchzte laut. Darauf sagte der alte Quillasch mit heiserer und rauher Stimme und fast unter Begleitung eines Fluches, und um sein Beschämtsein zu verbergen, von seinem Priem ausspeiend: »Irgend einer von Euch Burschen könnte mal 'n Gebet hersagen.« »Ja, ja,« sagte ein anderer: »Ach, ja,« sagte ein dritter. Niemand jedoch betete. »Ihr, Billy,« sagte Ned Tere. Billy schüttelte den Kopf. Der alte Mann hatte nie ein Gebet gelernt. »Pastor Ewan, der verstand zu beten,« sagte Crennell. »Ihr, Crennell.« Crennell konnte nicht beten.

Alles lag in Totenstille um sie herum, und nur der schwache Glockenklang wurde ihnen wie ein weicher Flüsterton zugetragen. Dann erhob sich unbemerkt nahe dem Platze, wo Dan lag, Davy Fähl. Niemand hatte an ihn gedacht. Mit schwermütigem Verlangen in seinen weiten, arglosen Augen begann er zu singen!

»Seht! Er steigt auf Wolken nieder,
Der der Sünder sich erbarmt.«

Des Knaben tränenbeladene Stimme hallte über das weite Meer dahin. Die Männer senkten stillschweigend die Köpfe. Die versiegte Tränenquelle in Dans Augen öffnete sich und in erlösenden Tropfen flossen die glitzernden Tränen ihm über die Wangen.


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