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33

Es war am 19. September 1862.

Ich war etwa um neun Uhr aufgewacht. Gleich darauf war Klaus erschienen, hatte Läden und Fenster geöffnet und die eingelaufene Post auf den Tisch gelegt.

»Was für Wetter, Klaus?« fragte ich, noch halb verschlafen.

»Warm und schön, gnädiger Herr. So wie gestern. Aber ich glaube, wir bekommen einen Umschlag. Mein linkes Bein reißt wie verrückt. Es muß etwas in der Luft liegen.«

»Etwas in der Luft liegen? So, so!«

Ich wiederholte es zerstreut, mechanisch, und stand auf. Unwillkürlich blickte ich nach dem Barometer, das am Fenster hing.

»Teufel! Tief wie noch nie. Es gibt Sturm.«

Klaus nickte befriedigt und strich sich das ausrasierte Kinn.

»Ich hab's ja dem gnädigen Herrn gesagt. Auf mein lebendiges Wetterglas kann ich mich verlassen.«

»Sonderbar eigentlich!« meinte ich und sah zum Fenster hinaus. »Der Himmel ist wie mit Waschblau angestrichen. Man sieht kein Wölkchen.«

»Zu blau!« erwiderte Klaus, während er den Frühstückstisch herrichtete. »Es geht auch so ein verdächtiger Wind. Wenn der gnädige Herr nur mal aufpassen will.«

Ich lauschte ein paar Augenblicke. In der Tat! Jetzt hörte ich es. Ein leises, wie singendes Pfeifen, das vor dem Fenster vorüberstrich, in dem bräunlichen Blätterwerk der Lindenkrone raschelte und einen kurzen Wirbel fallenden Laubes zur Folge hatte, worauf alles wieder still wurde.

»Du hast recht!« sagte ich zu Klaus. »Es scheint sich etwas vorzubereiten. Das Pfeifen kenn' ich. Vor Abend haben wir Sturm auf See. Das wird wieder mal ein Schauspiel.«

Ich fühlte, wie eine schwache Erregung, scheinbar grundlos, sinnlos, geheimnisvoll und dennoch deutlich merkbar, in mir aufstieg und in meinen Nervenspitzen zu schwingen begann, ähnlich dem leise pfeifenden Seewind draußen, der die welken Blätter an den Ästen des Lindenbaumes kräuselte und von dem auch niemand wußte, woher er mit einemmal da war.

Während des Frühstückes, das ich, wohl wegen des inneren Bangens und Unbehagens, ohne besonderen Appetit nahm, ließ ich mir die Vorgänge des letzten Abends durch den Kopf ziehen. Die neue Saison des Stadttheaters war mit der Oper »Des Teufels Anteil« von Auber eröffnet worden. Karola hatte in der Hosenrolle des Carlo Broschi von neuem nach der sommerlichen Pause das Publikum in Entzückung versetzt. Als der Vorhang gefallen war, wurde sie wohl ein dutzendmal gerufen, stürmisch applaudiert, mit Blumen, Kränzen, Buketts überhäuft, und es war klar, daß sie mehr als je in der allgemeinen Gunst stand.

Nachher hatten wir im engeren Kreise mit etlichen Flaschen Champagner das Ereignis gefeiert. Der Direktor höchstselbst war erschienen, der Kapellmeister, wenige Mitglieder der Truppe, ein paar Theaterfreunde, darunter, wie es der Zufall wollte, auch derjenige, der berufen war, binnen kurzem eine entscheidende Rolle bei der Abwickelung meiner Tragödie zu übernehmen, derselbe auch, in dessen Verwahrung diese Blätter nach meinem nahen oder ferneren Ende übergehen sollen – der Leser kennt seinen Namen bereits aus einer früheren, flüchtigen Erwähnung: mein nachmaliger (sehr baldiger!) Verteidiger, Doktor Josua Märchenschön, dessen scharfgeschnittenen Habichtskopf mit den funkelnden Brillengläsern ich deutlich, als sei es heute, aus den Champagnernebeln jenes überlustigen Vorabends meiner Katastrophe hervortreten sehe.

Karola hatte in sieghafter Laune, von Glück, Jugend, Erfolg fast noch mehr als vom Sprühgeist des Champagners befeuert, ihre Lieder und Couplets gesungen, hatte dazu gelacht, getanzt, kokettiert, getollt. Es war im Grunde unser erstes näheres Zusammensein wieder seit den Ferien und seit jener letzten glücklichen Episode in K. Nur eine kurze, flüchtige Begrüßung war vor einigen Tagen vorausgegangen, bei der ich in begreiflichem Groll über die jüngste abermalige Vernachlässigung den Fremden, Zurückhaltenden (sehr gegen mein inneres Gefühl!) gespielt hatte, sie wiederum nicht einsehen zu wollen schien, was ich denn immerfort an ihr zu mäkeln und zu nörgeln hätte, nachdem wir soeben erst (vor drei Monaten und fast kein Lebenszeichen seitdem!) die unvergeßlich schönen Tage miteinander verlebt hätten.

Nun hatte ich neuerdings den Zauber ihres Wesens erfahren, der, wie er zuvor im Theater die bunt zusammengesetzte Menge berückt hatte, so jetzt in der altväterischen Weinstube alle lustigen Geister entfesselte und den biedern, behaglichen Raum sehr bald mit einem geheimen Fluidum prickelnder, lachender Sinnlichkeit wie aus einer fremden, leichtherzigeren, sonnigeren Welt erfüllte. Die hellen zerbrochenen Töne des stark verstimmten Pianofortes waren von dem allgemeinen Durcheinander und Gelächter übertönt worden oder hatten, je weiter Stimmung und Stunde vorrückten, immer mehr wie Sphärenklänge eines von Meisterhand gespielten Instrumentes angemutet, Karolas süße, innige Stimme hatte den gewöhnlichsten Liedchen, den seichtesten Couplets so etwas wie einen Schimmer von Ewigkeit, einen Unterton letzter menschlicher Dinge, von Glück, Liebe, Vergänglichkeit oder dergleichen verliehen, und mir hatte sich, während ich rasch verschiedene Gläser eiskalten Champagners in die innere Siedehitze schüttete, das Herz umgedreht bei dem Gedanken, daß das holde, geliebte Geschöpf, das nach Fug und Recht mir allein hätte zugehören müssen, dazu ausersehen war, Allgemeingut zu sein.

Etwas Ähnliches mochte auch dem Direktor auf seine Art vorschweben, als er in einer pompösen Rede von den Künstlerinnen sprach, in deren Schoß (er hatte wohl irgendein anderes Bild gemeint und nur in der Hitze des Gefechts vorbeigegriffen), in deren Schoß also, wie er mehrfach wiederholte, von den Musen der Samen der Freude gelegt sei. Den gleichen Faden hatte hinterher Märchenschön nur in feinerer Weise gesponnen, indem er mit seinem schmetternden Organ, von dem es wie Fanfarenstöße ausging, Talent, Schönheit, Sinnlichkeit, dieses strahlende Dreigestirn, als die Überwindung des spröden, nüchternen, am Boden kriechenden Moralbegriffes feierte, dann aber in einem plötzlichen Saltomortale doch noch den Anschluß an die geltende bürgerliche Moral fand und mit einem Hoch auf eine ziemlich phantastische Quadrupelallianz zwischen dieser bürgerlichen Moral und jenem himmlischen Dreigestirn seine ebenso glänzende wie spitzfindige oratorische Leistung ausklingen ließ.

Spät nach Mitternacht erst hatte sich die Gesellschaft getrennt. Karola hatte mir für den heutigen proben- und theaterfreien Tag ihren Besuch mit einem heiligen Schwur und einem doppelt heißen Kuß zugesagt. Noch ein letzter inniger Händedruck, ein bedeutsames »Auf morgen, Liebling!« – und wir waren an ihrer Haustür auseinandergegangen.

Ich konnte Karola also heute mit Bestimmtheit erwarten. Sie hatte mir beim Leben ihrer Mutter geschworen, und dies war der Eid, von allen ihr geläufigen vielleicht der einzige, den sie unter keinen Umständen brechen würde, das wußte ich. Ich hätte in dieser Voraussicht somit den bevorstehenden Nachmittag und Abend ganz ruhig und sicher, ohne jedes Gefühl innerer Angst, vielmehr mit Freude und Gehobenheit erwarten können, aber als ich aus meinen Gedanken am Frühstückstisch auf und um mich blickte, die Teetasse nur halb ausgetrunken, Wurst und Schinken kaum berührt fand, da merkte ich, daß im Gegenteil meine scheinbar grundlose Unruhe, dieses geheime Fieber irgendeiner unerklärlichen Spannung, sichtlich zugenommen hatte und mich in einer wachsenden nervösen Erregung hielt.

Ich stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer hin und her, während Klaus mit mißbilligendem Kopfschütteln den Tisch abräumte und sich auf meinen Wink dann zurückzog. Aber an der Tür blieb er, Tablett und Geschirr im Arm, wie von einer plötzlichen inneren Stimme festgehalten, stehen und sagte, nachdem er sich in seiner leisen, stillen Art geräuspert hatte:

»Der gnädige Herr haben nichts angerührt! ... Man sieht gleich, wenn das Theater wieder anfängt. Es scheint alles beim alten zu sein.«

Er schwieg und schien seine Wirkung abzuwarten. Als ich keine Antwort gab, meinen Weg unbekümmert fortsetzte, räusperte er sich Mut zu einem zweiten Anlauf:

»Nichts für ungut, gnädiger Herr! ... Der gnädige Herr kann mich fortjagen. Aber deshalb bleibt es doch wahr. Der gnädige Herr sollte ein Ende machen. Die ganze Geschichte ist das nicht wert. Der gnädige Herr sollte mehr denken wie unsereins: Weib ist Weib! Ist es nicht die eine, so ist es die andere. Es gibt genug.«

Ich fuhr in einer jähen sinnlosen Wut auf und schleuderte das lange elfenbeinerne Papiermesser, das gerade vor mir auf dem geöffneten Schreibsekretär lag, nach der Gegend hin, woher ich die Stimme von Klaus gehört hatte. Aber ich kam zu spät. Die Tür hatte sich bereits geräuschlos hinter ihm geschlossen. Das Messer flog mit einem Knall gegen die eichene Türfüllung und prallte in weitem Bogen zur Seite.

Ich schäumte noch und mußte in einem Atem beinahe lachen. Wie er die Vorsicht mit der Tapferkeit glücklich vereint und sich noch rechtzeitig zur Tür hinausgedrückt hatte, der alte Spitzbube mit dem scheinheiligen Fuchsgesicht! ... Aber schließlich meinte er es ja in seiner Art gut. Das entschuldigte ihn. Und vor allem: Hatte er nicht recht? Ein Ende machen! Hatte ich mir das nicht tausendmal selbst gepredigt, es mir gerade während der letzten Wochen immer wieder und wieder bis zur Ermüdung, bis zum Überdruß, ja bis zur Verzweiflung eingeschärft, wie jemand, der sich selbst einen Nagel ins Gehirn treibt, ihn hineinhämmert, tiefer und tiefer, bis die Wurzel des Lebens durchbohrt ist? Wie hatte der innere Grimm, die stillschweigend heruntergeschluckte Wut über Karolas liebloses Schweigen nach unserem vorhergegangenen Glück gleich einer Krankheit an mir gefressen und mich aus meiner Not tagtäglich von neuem in mich selbst hineinschreien lassen: Ein Ende! Mach' ein Ende!

Aber auf welche Weise ein Ende machen? War nicht alles umsonst, was ich dazu unternommen hatte? Gab es noch ein Mittel, das unversucht geblieben war? Meine Erinnerung irrte durch alle Phasen unserer Geschichte zurück zum ersten Tag und von da wieder vorwärts bis heute, wie ein in seinem Schloß Belagerter und rettungslos Abgeschnittener, der alle seine Säle, Zimmer, Kammern, Verließe durcheilt und nirgendwo einen Ausweg, einen Durchschlupf sieht. Nein, es gab kein Mittel der Trennung, weder für mich, noch, wenn selbst ich das Unmögliche möglich gemacht hätte, für sie. Immer wieder wäre sie zu mir zurückgekehrt, so wie ich zu ihr, hätte mich überall zu finden gewußt, wohin ich mich auch vor diesem Wahnsinn verkrochen hätte, wäre immer wieder von mir gegangen, um beim ersten Schimmer einer Heilung für mich wieder da zu sein, und hätte so das zehrende Feuer in mir bis ans letzte Ende angeblasen und wachgehalten. Unaufhörlich wären wir einander zum unentrinnbaren Schicksal geworden. Hatte sie das nicht schon selbst vor Jahren so ähnlich empfunden und ausgedrückt? Erst jetzt erkannte ich es in seinem vollen Umfang, seiner tiefsten Bedeutung, was sie schon damals mit der Treffsicherheit ihres Fraueninstinkts sozusagen direkt und ohne die Umwege des Verstandes, rein durch das Gefühl, erfaßt gehabt hatte.

Ich war inzwischen nochmals durch die ganze Tiefe meines Bibliothekszimmers und zurück gewandert, hatte einen Abstecher in die nebenan liegende Wohnstube gemacht und stand nun wieder in der Bibliothek vor dem noch immer geöffneten Schreibsekretär, auf den in hochmütiger Unnahbarkeit das Ratsherrnbildnis meines Urgroßvaters, des besagten Johann Kaspar Stobäus, herunterschaute. Unwillkürlich glitt mein Blick über die Reihe der Schubfächer und blieb ganz oben links auf einer Holzleiste haften, unter der sich, wenn man sie in die Höhe klappte, eine kaum sichtbare Springfeder zum Öffnen eines schmalen Geheimfaches befand. Irgend etwas reizte mich, die lange nicht mehr geübte Prozedur, deren Geheimnis sich in meiner Familie fortgeerbt hatte, vorzunehmen und nach Jahren wieder einmal den Inhalt des Schubfaches durchzusehen. Ich drückte auf den Knopf, und die Verschlußklappe sprang mit einer beinahe phantastischen Plötzlichkeit auf, etwa wie sich die Tore eines Märchenschlosses vor dem Sesam des Auserwählten zu öffnen pflegen. Unter allerlei Briefen, Zetteln, Erinnerungen und sonstigem Krimskrams fand ich auch meine halb vergessene alte Geheimmappe, löste die Schnur und legte die Mappe aufgeschlagen vor mich hin.

Obenan lag ein weißer, etwas angegilbter Bogen Papier, der in großen Buchstaben und Zahlen die mit Tinte hingemalten Worte trug: »Montag, den 19. September 1859, vormittags 10 Uhr.« Ich fuhr mit einem jähen Schreck zusammen, als seien Springfeder, Schubfach und Mappe, alle insgesamt, mit einem galvanischen Strom geladen, den ich unversehens berührt hätte. Gleichzeitig fühlte ich, wie die geheime Erregung, die ein Weilchen geschlummert hatte, wieder erwachte, ihren züngelnden Schlangenkopf erhob, mich tückisch anblinzelte und stärker als vordem sich in mir zu winden begann.

Klar und deutlich, fast mit seherischer Schärfe, standen Tag und Stunde, Stimmung, Situation vor meinem inneren Gesicht. Montag, den 19. September 1859, vormittags 10 Uhr. Das war der Moment, wo ich nach Tagen quälenden Hangens und Bangens die telegraphische Depesche von Pritzlaff erhalten hatte, daß Karola unterwegs zu mir sei, zum erstenmal damals von K. nach D., und wo ich in Erwartung ihres Kommens beinahe zur Decke gesprungen wäre, dann wieder im Zweifel an der Echtheit der Botschaft am liebsten alles in Stücke geschlagen hätte.

Herrgott im Himmel! Was lag alles zwischen damals und heute! Was hatte ich nicht erlebt, erfahren, durchlitten! Hätte ich in jener Stunde geahnt, was für eine Welt von kommender Qual für mich in dem kurzen zynischen Satz des Konsuls beschlossen läge, »Großfürstin trifft Mittagszug ein, empfange sie würdig!«, ja, hätte ich nur die blasseste Ahnung davon gehabt, wer weiß, ob ich nicht die Depesche wie ein bösartiges Gift, dessen bloße Berührung schon Siechtum, Tod bringt, ins Feuer geschleudert, mich selbst aber in den nächsten abgehenden Zug gestürzt und bis ans andere Ende der Welt geflüchtet hätte!

Nur eine Ahnung davon gehabt? Aber hatte ich sie denn nicht gehabt? Hatte nicht so etwas wie ein geheimnisvolles, mir selbst unbewußtes Vorauswissen mir die Feder geführt, als ich die Worte hier groß und mächtig auf das Papier malte? War nicht ein rätselhafter Zwang, wie ich mich jetzt deutlich erinnerte, über mir gewesen, da ich den Augenblick so genau verzeichnete, ihn verzeichnen mußte, gar nicht anders konnte, als ihn so genau verzeichnen?

Woher das wohl, dieser Zwang, dieses Müssen, Nicht-anders-können, wenn nicht aus einem Vorgefühl, aus einer bestimmten, unabweisbaren Ahnung, daß der Würfelfall gerade dieser Minute über mein Leben entscheiden werde?

Montag, der 19. September, vormittags 10 Uhr: und Teufel! (ein Schauer überrieselte mich, wie eine Brause von heißem Wasser, der sofort ein kalter Guß hinterher folgte) Teufel! Das war ja heute! Genau der heutige Tag! Der Kalender auf dem Schreibsekretär verkündete es gleichmütig und sachlich, nur daß man nicht Montag, sondern Freitag schrieb, dem Vorrücken der Jahre entsprechend. (O Gott! welch ein Zeitraum zwischen Montag und Freitag!) Im übrigen aber stimmte das Datum, stimmte die Stunde, wie ein Blick auf die alte englische Standuhr an der Wand mich überzeugte, deren Zeiger auf fünf Minuten vor zehn Uhr wies. Genau um die gleiche Zeit hatte ich heute vor drei Jahren hier gestanden und, einer unausweichlichen Eingebung folgend, eben diesen Moment mit Datum, Tag, Stunde, Minute festgehalten, als handle es sich um eine mystische Zauberformel, die noch einmal von Wichtigkeit für mich sein werde.

Kein Zweifel! Irgendein verborgener Sinn mußte hinter dem allen stecken, eine tiefere, rätselvolle Bedeutung dem Fund gerade im Augenblicke des Jahrestages zugrunde liegen, da ich in der ganzen, seitdem verflossenen Zeit viele hundertmal vor dem Schreibsekretär gestanden, aber nie mehr an das Geheimfach und seinen Inhalt gerührt, noch auch nur gedacht hatte.

Ich ging wieder mit großen Schritten durch die Bibliothek, hatte die Hände auf dem Rücken und grübelte, während das innere Fieber langsam wuchs und Schweißtropfen mir über die Stirn rannen. Ein Sinn, eine Bedeutung, Wichtigkeit in alledem, das war klar! Aber wie? Welche? Wenn noch Vernunft und Logik in der Welt waren, doch nur so, daß gerade an diesem Tage etwas Besonderes mit mir geschehen, vielleicht durch mich geschehen, sich erfüllen, sich vollenden werde, so wie sich ja auch der Ring der Jahre gerade heute wieder rundete und beschloß.

Also so etwas wie eine Aufforderung, ein Befehl zu einer Tat, die du heute zu tun hast! so folgerte ich und trat wieder vor den Schreibsekretär, unter das Bild meines Urgroßvaters. Ob es wohl mit dem da oben zusammenhinge? Man hatte lange kein Zeichen mehr von dem Alten gehabt. Wie war das doch mit dem Federball? Und ob wohl die Prophezeiung noch zurecht bestünde, die ja nur auf mich als den Letzten meines Hauses gehen konnte? Aber wenn ich dem Spuk nun den Garaus machte, wenigstens soweit er mich beträfe? Wenn ich aufhörte, der Letzte zu sein, an das Ende wieder einen Anfang knüpfte, kurz, wenn ich noch heiratete und Kinder zeugte? Was dann?

Wie ein Blitzstrahl schoß mir die Erinnerung an einen ganz ähnlichen, ja gleichen Gedankengang, den ich schon einmal vor Jahren gehabt haben mußte, durch den Kopf. Wann war das doch? Wann? Wo? Bei welcher Gelegenheit? Ich sann, grübelte, sann, die Dunkelheit, die dem Blitzstrahl gefolgt war, lichtete sich, und plötzlich hatte ich es: es war auf der Chaussee draußen vor den Toren von K., an jenem Herbstabend mit dem prachtvollen Sonnenuntergang, und eine Stunde darauf hatte ich im Elysiumtheater Karola zum ersten Male gesehen. Also damals, an dem Schicksalsabend, war mir der absonderliche und doch so simple, so naheliegende Einfall gekommen, seitdem nie wieder bis heute!

Aber was phantasierte ich da? Verwirrten sich mir die Gedanken? Hatte ich nicht öfter und öfter im letzten Jahr die Möglichkeit erwogen, Karola dauernd an mich zu fesseln, mir das sichere Bewußtsein ihres Besitzes zu verschaffen und so den Urquell meines Leidens zu verstopfen, das ja nur aus der Unsicherheit, aus dem ewigen Hangen und Bangen entsprang: kurz, allen Vorurteilen zum Trotz, Karola zur Meinen zu machen, wo dann aus der unheilträchtigen Leidenschaft schließlich und endlich wohl eine glückliche, harmonische Gewohnheit sich gebären werde? Ja, wie ungezählte Male hatte ich den Gedanken in mir herumgewälzt, ihn als törichten, aufdringlichen Gesellen zur Vordertüre hinausbefördert, um ihn als lächelnden, einschmeichelnden Freund zur Hintertüre wieder hereinspazieren zu sehen? Und nun stellte sich obendrein noch heraus, daß ich schon vor Karolas verhängnisvollem Eintritt in mein Leben auf den gleichen bizarren Einfall, wenn auch aus einer ganz anderen Ideenverbindung heraus, gekommen war, daher denn der Einfall wohl gar nicht so bizarr sein mochte, wie er schien, ja vielleicht den einzig richtigen Fingerzeig gab, welchen Weg ich zu gehen hätte.

Ich atmete tief auf, wie von einer unerträglich schweren Last befreit, unter der ich beinahe zusammengebrochen war, und trat an das offene Fenster. Das feuchte, leuchtende Himmelsblau, das noch vor einer Stunde über die roten Ziegeldächer straßauf, straßab hinweggespannt war, hatte sich mit einem dünnen, fedrigen Wolkengekräusel überzogen und ließ nur noch ein paar grelle, satte Farbenflecke durchscheinen, die auch wohl bald vor der im Westen dunkler heraufsteigenden Wolkenwand verschwinden würden. Aus dem leisen Pfeifen und Singen von vorhin waren heftige, jähe Stöße und Böen geworden, die den borkigen, von der Zeit zernarbten Stamm des Lindenbaums wie mit rauher Faust packten und schüttelten, daß sein welkes Blätterwerk nur so in die Lüfte stob und im Schleierfall zu Boden sank. Das waren die ersten Vorreiter der Windsbraut, die von der See herfegten und das gewaltige Nahen ihrer zügellos dahinjagenden Herrin verkündigten. In wenigen Stunden mußte sie aus den grenzenlosen Weiten ihres Reiches angelangt sein und über Meer und Küste, über Stadt und Land ihren rauschenden Königsmantel schleifen. Das würde eine eigene Musik werden für das, was heute für mich zu tun war.

Mein Entschluß war gefaßt. Ich mußte mit Karola ins reine kommen, mußte sie zwingen, Farbe zu bekennen, sie vor die Wahl stellen, ganz die Meine zu werden oder ... doch was dann folgen würde, wenn sie sich weigerte, daran wollte ich noch nicht denken. Genug! Die Entscheidung nahte. Diesem Zustand lebenslänglicher Folter, zu dem ich verurteilt schien, mußte ein Ende gemacht werden. Und noch heute sollte es geschehen. Die kurze, aber inhaltsschwere Inschrift auf dem Bogen Papier sprach klar und deutlich genug: Heute ist der Tag! Gerade heute! Noch bevor es Abend wurde, mußte es sich entschieden haben. Wenn es kein Mittel für uns beide gab, uns zu trennen, wohlan! vielleicht gelang es mir, durch das Gegenteil davon, durch unsere Vereinigung, von ihr loszukommen. Aus dem Grabe sah ich Schwarzwalds geisterhafte Gestalt emporschweben und mir diabolisch zulächeln. Er war es, der mir einst den Gedanken eingeflüstert. Ich hatte ihn belächelt, abgewehrt, mit ihm gerungen, war ihm endlich erlegen. Nun war es an der Zeit, die Probe auf sein zynisches Exempel zu machen. Man würde ja sehen, ob er recht hatte oder nicht. Aus den Nebeln des Schattenreichs her durfte er jetzt seinen posthumen Triumph über mich genießen. Einerlei, wie es ausging, er konnte lachen! Für ihn waren Zeit und Raum, Schmerz und Lust vorbei. Er war der Glückliche, der über Weisheit und Narrheit stand. Ich aber war ein armer, umstrickter Erdenmensch, der lange genug, ach! allzu schwere Jahre schon, über jedes Erdenken hinaus gelitten hatte und dessen Kraft, noch länger zu leiden, erschöpft war. Es mußte ein Ende haben, so oder so. Vor Abendwerden mußte alles vollbracht sein.

Ich trat wieder an den Schreibsekretär, betrachtete noch einmal die vielsagenden Worte auf dem Papierbogen, wie um mich für alle Fälle zu vergewissern, jeden Zweifel auszuschließen, faltete das Schriftstück zusammen und steckte es in meine Brusttasche, als sei es so etwas wie ein Talisman, der mich auf meinem Wege zu lenken, zu schützen und zum Letzten zu stärken habe. Hierauf setzte ich mich hin und schrieb Karola ein kurzes Billett, daß ich sie gegen zwei Uhr mit meinem Wagen zu einer Spazierfahrt nach meinem Landhaus bei Z. abholen werde. Klaus wurde mit der Bestellung der Botschaft betraut, verschwand und brachte nach einiger Zeit einen Zettel zurück, der die Worte trug: »Es ist gut. Erwarte dich um zwei. Grüße und Küsse. K.«

Ich faßte Klaus ins Auge, auf dessen Mienen eine Wolke lag.

»Was fehlt dir?«

»Nichts, gnädiger Herr.«

»Man beherrsche sich! Verstanden? ... Im übrigen reitest du voraus und bringst im Hause alles in Ordnung. Wieder im gelben Saal, wie schon einmal. Allons!«

Klaus wand sich mit deutlich bekümmerter Miene, die mich ärgerte, hinaus. Was hatte er Gesichter zu schneiden! War nicht alles in Ordnung? Sie hatte zugesagt. Wir würden zusammen sein, uns aussprechen. Es mußte sich entscheiden.

Eine gewisse Ruhe war über mich gekommen. Meine Erregung hatte sich gleichsam stabilisiert, war nicht stärker, freilich auch nicht schwächer geworden, lag, um bei dem Bilde von der Schlange zu bleiben, sozusagen im Halbschlaf auf der Lauer, blinzelte und verdaute dazu. Draußen hatte sich die Wolkendecke des Himmels dichter und dichter zugezogen. Die lichtblauen Flecke waren von dem unsichtbaren Maler, der oben den Pinsel führte, mit einem gleichförmigen Grau überstrichen. Die Stöße und Böen des nahenden Sturmes folgten sich immer schneller und nahmen an Heftigkeit zu. Man fühlte deutlich, wie er von der See her in brausendem Anzug war.

Die Stunden krochen. Ich tat, was ich alle Tage tat, las, schrieb ein paar gleichgültige Briefe, ging spazieren, besuchte für kurze Zeit den Ratskellertisch, an dem es seit Hempels Verschwinden und Schwarzwalds Tode merklich stiller geworden war, aß zu Hause flüchtig zu Mittag und trank ein Glas Bordeaux. Es war, als sei nichts Besonderes im Gange. Die Maschinerie lief wie sonst.

Ich erwähne das nur, weil ich ja nachher in den mehr als einjährigen Daumschrauben meines Prozeßverfahrens und schließlich an dem dreitägigen Marterpfahl vor den Assisen über jede Minute dieses Schicksalstages habe Auskunft geben müssen, weil Tausende von kalten, neugierigen, boshaften Augen seine nichtigsten Kleinigkeiten durchwühlt, durchschnüffelt, tausend geifernde Zungen von jeder seiner Einzelheiten prüfend, spionierend, verdächtigend Notiz genommen haben, und weil dadurch das alles schließlich auch für mich selbst eine Wichtigkeit bekommen hat, die ihm im Augenblick des Erlebens ganz und gar nicht innewohnte, für mich aber nun nicht mehr davon zu trennen ist.

Doch genug des Kleinkrams. Es wird Zeit, daß ich zur Hauptsache und zum Ende komme. Ich fühle eine merkwürdige Schwere, die mir seit gestern in den Knochen liegt und meine Feder sich eilen heißt. Sonst möchte es geschehen, daß meinem Werk nach aller daran gewandten Mühe schließlich sozusagen der Kopf fehlte, und daß, wie mein Leben Stückwerk war, so auch dies einzige Dokument, das dereinst für mich zeugen soll, nur ein Torso bliebe ...

Es war wenige Minuten vor zwei Uhr, als ich mit meinem Wagen in der Nähe von Karolas Wohnung hielt. Die Gasse selbst war zu eng, um hineinzufahren. Auch wollte ich unnützes Aufsehen vermeiden. Ich stieg ab, um Karola zu holen, aber da kam sie mir bereits gestiefelt und gespornt entgegen, in einem neuen, sehr flotten Reisehabit, kokettem, fußfreiem Bauschrock, Überwurf und Jäckchen und kleinem keckem Deckelhut, mit langen, blauen Bändern dran. (Wie lebendig ich es in diesem Augenblick vor mir sehe, jenes letzte Kleid, das sie trug!) Sie schien in der rosigsten Laune und reichte mir mit strahlender Miene die Hand.

»Bin ich nicht die Pünktlichkeit selbst? Also heute bist du zufrieden, mäkelst nicht wieder? Versprichst du mir das?«

Ich nickte etwas zerstreut und musterte wohlgefällig die schlanke, biegsame Gestalt, die nicht groß war und doch mit ihrem ebenmäßigen Wuchs so hochgestellt schien, diesen weichen Linienfluß der Glieder, der mädchenhaft geblieben war, wie vor Jahren, und mich entzückte, als seien wir am ersten Tag. Sie merkte es und lächelte mich über die Schulter an, während ich, da in der menschenleeren Gegend gerade niemand in der Nähe war, meinen Arm um ihre Taille legte und ihr etwas umständlich in den Wagen half.

»Du scheinst ja heute auch in guter Stimmung? Wir wollen recht glücklich sein, ja?«

»Das wollen wir, Karola, mein Schatz!«

»Sag' schnell, wie gefall' ich dir in meinem neuen Kleid? Ich hab' es extra für dich angezogen. Sonst muß ich es ändern lassen.«

»Sehr, sehr gefällst du mir. Über die Maßen, leider! Es braucht nichts daran geändert zu werden. Es kann so bleiben, das Modell.«

Ich saß neben ihr im dahinrollenden Wagen und drückte sie bedeutungsvoll an mich.

»Einfach, aber nett, nicht wahr?« meinte sie, immer noch von der Wichtigkeit der Frage eingenommen und ohne die Beziehung meiner Worte zu merken.

»Zu dienen, mein falsches, treuloses Kleinod!«

Sie lachte wieder.

»Hübsche Komplimente! Aber es stimmt ja gar nicht. Du hast am allerwenigsten Ursache, so etwas zu behaupten. An dir hab' ich doch festgehalten. Sonst säße ich wohl nicht hier neben dir. Eigentlich verdientest du es, du ... du ewiger Nörgler, du!«

Sie gab mir mit der Rückseite ihrer behandschuhten Fingerspitzen einen kleinen Klaps auf den Mund und hatte wieder ihr drolliges Schmollen, indem sie sich in die Wagenecke zurücklehnte.

»Nicht übel!« bemerkte ich. »Möchtest du mir vielleicht sagen, mit wie vielen du mich betrogen hast? Nur so ungefähr?«

»Was sind das für dumme Redereien!« gab sie zur Antwort und warf unwillig den Kopf auf die Seite. »Mit niemandem! Nein! Mit niemandem!«

Sie hatte sich aufgerichtet und sah mich mit der überzeugendsten und überzeugtesten Miene von der Welt an, wie jemand, der jeden Augenblick bereit ist, für seine Worte durchs Feuer zu gehen.

»Denk' an Adalbert Hempel!« warf ich ein. »Der jetzt in Amerika das Goldmachen lernt. Nur ein Beispiel.«

»Ach, Unsinn! Das zählt ja nicht. Das war in der ersten Zeit. Außerdem hat er mich beschwatzt, der eklige Mensch! Ich hab' dich ja noch kaum gekannt. Was solltest du mir sein? Später ganz gewiß nicht mehr. Ich schwör's dir zu! Ich war dir treu. Du warst mein Freund.«

»Karola! Karola!« sagte ich und erhob den Finger. »Und alle die vielen? Die vielen?«

Sie stampfte mit dem Fuß auf und schien ernstlich böse zu werden.

»Dummes Zeug! Das bildest du dir ein. Man muß sich nicht alles einreden lassen. Du wolltest doch vernünftig sein, heute.«

Ich schüttelte den Kopf über dieses erstaunliche Vermögen, sich selbst, seine eigene Geschichte zu vergessen, durch jüngst Geschehenes wie durch längst Vergangenes gleichermaßen einen dicken Strich zu machen. Man war hilflos dagegen. Man erlag. Es mußte zum Ende kommen, heute! Irgendwie!

»Du unterscheidest also wohl zwischen Liebhaber und Freund?« begann ich von neuem.

»Natürlich!« erwiderte sie eifrig, gleichsam das Rettungsseil aufgreifend, das ich ihr zuwarf. »Das muß man doch auch. Seine Liebhaber kann man vielleicht betrügen. Seinen Freund nie. Liebhaber hat man vielleicht auch mehrere, Freund nur einen. Daher kommt es wohl.«

Es war wieder der total ehrliche und überzeugte Ausdruck, mit dem sie mich ansah. Aber ich ließ noch nicht ab, mußte noch tiefer auf den Grund.

»Und ich war dein Freund, sagst du?«

»Ja, das warst du. Das warst du. Von jeher. Oder sobald ich dich näher kennen lernte. Was weiß ich! Du warst mein Freund. Bist du endlich zufrieden?«

Ich schwieg einen Moment und faßte sie fest ins Auge. »Und was bin ich dir jetzt?«

Sie wand sich unter meinem Blick und unter meiner Frage.

»Was bin ich dir jetzt?« wiederholte ich mit Unerbittlichkeit.

»Was du mir immer warst!« stieß sie heraus und hatte einen weinerlichen Ton, wie ein ertapptes und überführtes Kind. »Mein Freund! Mein Geliebter! Wie du willst. Ist es jetzt endlich genug? Siehst du nicht, wie du mich quälst? Du hast mir versprochen, vernünftig zu sein, Liebling? Können wir nicht eine Stunde mal ruhig plaudern und glücklich sein?«

»Also gut! Seien wir klug und vernünftig. Plaudern wir.«

»Was hast du? Dein Ton klingt so merkwürdig.«

»Nichts! Ich will glücklich sein. Sei du's auch.«

Sie sah mich unsicher an, schien sich nicht über mich klar zu werden, kämpfte zwischen Lachen und Verdruß.

»Aber leicht machst du's einem nicht! ... Ah bah! Weg damit! Ich habe mir vorgenommen, mich heute um keinen Preis zu ärgern. Es soll dir nicht gelingen, mir die Laune zu verderben. Man hat ja nur einmal zu leben.«

Sie trällerte eine kurze, halb lustige, halb sentimentale Melodie aus einer ihrer Rollen und war mit einem Schlag wieder vergnügt. Die wohlbekannte Zornfalte, die einen Augenblick zwischen den dunklen Brauen erschienen war, hatte sich ebenso schnell geglättet. Der alte Leichtsinn triumphierte.

»Und damit Euer Gestrengen sehen, daß ich besser bin, als man mich macht ... Da! So revanchier' ich mich für das hochnotpeinliche Verhör!«

Ehe ich's dachte, hatte sie die Arme um mich gelegt, mich an sich gezogen und drückte mir einen so warmen, durstigen, zehrenden Kuß auf die Lippen, daß Groll, Erbitterung sofort in mir dahinschmolzen und nur ein weiches, lösendes Gefühl eines unendlichen Mitleids mit dem holden, sündigen, verlorenen Geschöpf in meiner Seele zurückblieb.

Wir hatten die Stadt hinter uns. Als wir durch das steinerne Festungstor und über die eiserne Zugbrücke des Stadtgrabens rasselten, hatte der Sturm uns heftig um die Ohren gepfiffen und Karola beinahe ihr verwegenes Deckelhütchen von dem wohlgetürmten Lockenchignon entführt. Sie half sich, indem sie es resolut abnahm, es auf dem Schoß unter dem Wagenleder in Sicherheit brachte und dafür einen blauseidenen Schal, den sie am Arm getragen hatte, um den Kopf wand, was dem feingeschnittenen süßen Gesicht eine allerliebste Umrahmung gab. Ich konnte mich nicht sattsehen an dem entzückenden Mädchenbild, und vielleicht war dies auch die beabsichtigte Wirkung und der tiefere Sinn der Prozedur, die sich im übrigen sehr bald als unnötig erwies, denn unter den hohen Bäumen der Großen Allee, durch die mein Jagdwagen jetzt in kurzem Trab dahinfuhr, war es unten fast windstill. Nur hoch oben durch die dichtgeschlossenen Lindenkronen ging ein majestätisches Rauschen, als ob die alten Gesellen dort in den Lüften die Köpfe zu dunkler Zwiesprache zusammensteckten, und der uralte Sturm, älter als sie alle zusammen, sein gewaltiges Ja und Amen dazu brauste.

Ich lauschte ein Weilchen den düstermächtigen Stimmen aus der Höhe, dann wandte ich mich zu Karola, die sich an mich lehnte und ebenfalls ihren Gedanken nachzuhängen schien.

»Weißt du, was für ein Tag heute ist, Karola?«

Sie drehte ein wenig den Kopf und sah mich an.

»Du weißt es nicht? Gut! ... Heute ist der Jahrestag unserer ersten Fahrt hier hinaus. Heute, am 19. September 59, also genau vor drei Jahren, sind wir genau um die gleiche Zeit hier entlanggefahren. Es jährt sich zum drittenmal. Ist das nicht ein Feiertag für uns beide?«

Sie nickte lebhaft und drückte mir warm die Hand.

»Ja, ein wirklicher Feiertag! Und wie hübsch, daß du daran denkst! Wirklich sehr nett von dir! Aufmerksam bist du! Das muß man dir lassen. Überhaupt ein vorzüglicher Mensch, wenn man dich erst näher kennt. Wenn man aufgehört hat, sich vor dir zu fürchten.«

Ich lachte kurz in mich hinein, ohne zu antworten.

»Ganz gewiß!« beteuerte sie eifrig. »Zuerst hab' ich mich vor dir gefürchtet, vor deinem Blick, deinem bitterbösen Gesicht, deiner ganzen Art! ... Aber nein! Nicht das wollt' ich sagen. Weißt du, daß ich eben, wie du anfingst, gerade auch an unsere erste Fahrt hier gedacht habe. Ich wußte nur nicht, daß es heute war. Aber in die Zeit mußte es ja fallen, wo das Theater beginnt. Ich kam ja frisch ins Engagement. Mein Gott! Wo ist das hin? Was war man dumm!«

»Warst du so dumm?« warf ich aus meinen Gedanken ein und sah sie bedeutsam an.

»Dumm und auch nicht! Wie man's nimmt. Ich saß hier neben dir, so wie jetzt, und hab' dir von meinen Geschichten vorgeschwatzt. Daran dacht' ich wohl eben. O Gott! Hab' ich Rosinen im Kopf gehabt, was ich werden muß und was ich tun will! Du magst mich im stillen schön ausgelacht haben.«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Du bist es ja geworden. Was verlangst du mehr? Wer etwas erreicht, ist niemals lächerlich. Höchstens der andere, der nichts erreicht.«

Sie sah mich verwundert an.

»Wen meinst du damit?«

»Niemand!« wehrte ich ab und schüttelte den Kopf. »Sprich weiter. Ich höre zu. Es tut mir wohl.«

Sie sann einen Augenblick vor sich hin, fuhr dann fort:

»Ja, etwas ist man ja geworden! Aber das ist doch erst der Anfang. Fortsetzung folgt. Das ganz große Glück steht noch bevor. Manchmal frag' ich mich ja: Hat sich das alles gelohnt, lohnt sich das alles, die Arbeit, die man gehabt hat, die Mühe, die Schinderei? Was hast du jetzt mehr als damals? Wagenfahren, das war mir immer das Höchste, was ich mir erträumte. Na, das hab' ich ja damals in meiner Dummheit auch schon gehabt. Und sonst? Eigentlich lächerliche Gedanken, nicht? Ich schelte mich auch selbst und sage mir: Der Beifall, der Erfolg, die Blumen, die Menschen, all das verrückte Leben! Ist das nichts? Das willst du doch. Das brauchst du doch. Ohne das kannst du nicht sein. Und dann Rollen spielen! Immer mehr. Immer neue. Sich die Rollen aussuchen können. Sehen, wie sich die anderen ärgern, die noch nicht soweit sind, vielleicht nie soweit kommen. Ja, das ist was wert. Sich zu sagen, so klein warst du auch mal, und jetzt bist du die und die, kannst tun und lassen, was dir gefällt, kannst das Leben so recht in deine Arme nehmen und es an dich drücken, daß dir der Atem vergeht! ... Ach ja, es lohnt sich schon, daß man's zu was bringt in der Welt!«

Sie hatte das so in einem Satz heruntergehaspelt. Ihre immer etwas blassen, durchsichtigen Wangen waren vom Luftzug und vom Eifer der Rede leicht gerötet. Sie hielt einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen, schien sich dabei sozusagen auf sich selbst, auf die Situation zu besinnen, und sah mich an.

»Ich rede hier wie ein Wasserfall, und du sagst nichts! ... Was hast du? Was guckst du so nach mir hin? Was fällt dir auf?«

»Ich betrachte mir nur dein Kleid, mein Engelsbild,« sagte ich und strich ihr leicht über Schulter und Ärmel. »Es kommt mir beinahe so ähnlich vor wie das, was du damals trugst, vor drei Jahren, als du noch ein kleines, süßes unbekanntes Ding hier an meiner Seite warst, das ich darum nicht weniger lieb hatte, weil ich dich noch allein besaß ... wenigstens zu besitzen glaubte! ... Dich jedenfalls nicht mit dem Publikum, nicht mit aller Welt zu teilen hatte. O ja! Das waren Zeiten!«

»Ich weiß nicht, die heutigen sind mir lieber,« fiel Karola ein, da ich sinnend innehielt. »Aber du Närrchen, du! Was ist das für ein Unsinn mit dem Kleid! Gar keine Spur von Ähnlichkeit. Damals war es blaukariert, heute ist es grau. Damals war eine Krinoline darunter, heute ist es ein Bauschrock. Auch der Hut war anders. Alles total verschieden. Da sieht man wieder, was ihr Männer für Augen habt. Gar keine!«

Sie lachte und schüttelte den Kopf über dieses Maß männlicher Unwissenheit.

Ich lächelte ein wenig mit, von ganz anderen kaum gewußten Gedanken wie mit einem Nebel umhüllt, und zuckte mit den Achseln.

»Also damals die Krinoline und heute der Bauschrock? Mir scheint das so lang wie breit. Aber vielleicht hast du recht in deinem göttlichen Unverstand. Zwischen Bauschrock und Krinoline liegt nämlich unser beider Leben, Karola!«

»Hu!« machte sie, ein wenig gezwungen, und spielte die Erschrockene. »Wie tragisch du das alles nimmst! Beinahe wie auf der Bühne, wenn es zum Sterben geht. Sei lustig, Liebling! Denk' daran, wie es in dem Liedchen heißt. Ich sang ja vorhin die Melodie. Man hat es nur einmal zu träumen, das Leben. Also wozu sich Gedanken machen? Sei lustig! Sei lustig! Ich bin's ja auch. Weißt du, daß ich tanzen könnte hier im Wagen, wenn man nicht herausfiele?«

»Du hast wohl auch Ursache, lustig zu sein, meine Katze.«

»Was das wieder für ein Wort ist!« erwiderte sie mit kurzem Auflachen. »Katze! Schlange! Falsch! Treulos! Was werd' ich noch alles sein? Dabei bin ich das bravste Schaf von der Welt ... Aber nein, was ich sagen wollte! Denk' dir, wen ich heute vormittag im Theater treffe? Den Rezensenten vom ›Dampfboot‹. Er war gerade beim Direktor drin, als ich kam. Und weißt du, wie er mich genannt hat in seiner Kritik, die heute abend erscheint, als Karlo Broschi gestern? Einen aufgehenden Stern am Bühnenhimmel, der noch eine große, leuchtende Bahn vor sich hat. Klingt das nicht hübsch? Was die Leute alles aus einem machen! Ich hab' nicht anders gekonnt, ich hab' ihm einen Kuß dafür geben müssen. Schneide nur kein Gesicht! Er ist mindestens siebzig Jahre alt. Na, und zum Abschied hat mir der Direktor wieder zwei neue Rollen aufgepackt für die nächste Zeit, die ›Marie Fermière‹ in ›Kurmärker und Pikarde‹ und in ›Figaros Hochzeit‹ die ›Susanne‹. Auf die freu' ich mich besonders. Jetzt urteile selbst: Habe ich Aussichten oder nicht? Und darf man da nicht ein bißchen lustig sein?«

Sie schwieg und warf sich, halb befriedigt, halb erschöpft, in die Kissen des Wagens zurück.

»Denkst du noch an Dall'Orto?« fragte ich nach einem Augenblick und hatte das Gefühl, daß nach ihrem hellen, fröhlichen Geplauder meine Stimme mir selbst überraschend dunkel klang, etwa wie sich im Orchester in das Gezwitscher der Violinen plötzlich der dumpfe Ton der Baßgeige mischt. Es mochte auch so ähnlich auf Karola wirken, denn sie fuhr wie unter einer kalten Dusche zusammen und sah mich von der Seite an.

»Meinje! Wie du einen erschreckst! Was gehört das gerade jetzt hierher? Es geht ihm ja nicht schlecht, dem armen Menschen. Er hat wieder ein leidliches Engagement. Er hat mir neulich geschrieben. Es ist alles in Ordnung. Du brauchst mir nichts vorzuwerfen.«

»Also hast du keine Furcht mehr?«

»Wovor?«

»Nun davor! ... Vor dem bewußten Orakel.«

»Ach, wegen der Wahrsagerin, der dummen? ... Nein, Gott sei Dank! Das ist vorbei. Jetzt lass' ich mich nicht mehr ins Bockshorn jagen.«

Ich sah sie fragend, verwundert an. Sie zögerte ein Weilchen, schien sich zu besinnen. Dann warf sie in wohlbekannter Art, wie gewöhnlich, wenn ein Entschluß in ihr feststand, ihren Kopf zurück, daß sich auf meiner Seite ein paar Locken aus ihrem Chignon lösten und über die Schulter fielen. Ich mußte gebannt meine Augen auf dieses silbern schimmernde Blondhaar heften, mit dem der Sturm spielte, während sie ihr Geständnis machte.

»Also damit du's weißt, ich habe dich ein bißchen mit meinem Alter angelogen.«

Ich nickte.

»Das hast du mir schon einmal gestanden, mein Engelsgesicht.«

»Aber nicht genug. Immer noch ein Jahr zu wenig. Ich bin jetzt dreiundzwanzigeinhalb.«

Ich lachte kurz, fast höhnisch in mich hinein.

»Nächstens wirst du dreißig sein.«

Sie stampfte heftig mit dem Fuß auf.

»Meckre nicht! Jetzt ist es richtig. Auf Ehr' und Seligkeit! Ich schwör's dir zu! Ich hab's dir nicht sagen wollen, als bis ich glücklich dreiundzwanzig vorbei bin. Ich hab' ja in solcher Angst gelebt, den ganzen letzten Winter. Immer hab' ich geglaubt, es trifft mich etwas, bis mein Geburtstag da ist. Keinem Menschen hab' ich's verraten. Nur du allein hast es gewußt. Und dir hab' ich das eine Jahr unterschlagen. Meinst du, ich wäre mit dir, so wie jetzt oder wie damals, in deine Spukbude gefahren? Um keinen Preis! Immer hätt' ich gedacht, mir passiert etwas unterwegs. Die Angst allein hätte mich umgebracht. Und gelebt hab' ich all die Zeit, als wenn ich noch möglichst viel Glück auf die Reise mitnehmen muß. Jeden Morgen bin ich aufgewacht mit dem Gefühl: Vielleicht ist es dein letzter Morgen! Genieße, was du kannst! Ich glaube, das hat mir auch den Schmiß gegeben auf der Bühne. Einer, der jeden Augenblick denkt, daß er sterben muß, dem muß ja das Leben nur so aus den Fingern spritzen. Das haben die Leute wohl auch gefühlt.«

»Und jetzt?«

»Jetzt fürcht' ich nichts mehr. Jetzt ist es aus mit der Angst und dem Bangesein.«

»Fährst ruhig mit mir in meine Spukbude, nicht?«

»Wohin du willst. Ich komme mir vor wie jemand, der schon mal gestorben ist und der zum zweitenmal lebt. Was kann dem passieren? So leicht doch nichts.«

»Und auf der Bühne?«

»Da hab' ich das eben. Ich fühle mich so sicher. So frei. Ich kann tun, was ich will. Kann mich gehen lassen, wie ich will. Und das gibt mir die Kraft. Das wirkt auf die Menschen. Ja, ja! Wundere dich nur, mein Freund! Es bleibt dabei. Die Karten lügen also doch.«

Sie blitzte mich triumphierend mit ihren dunkelgrau flimmernden Augen an und warf die Arme in die Luft, wie jemand, der auf Bergeshöhen steht.

Wir hatten die gepflasterte Dorfstraße von Z. passiert, wo zu beiden Seiten die schmucken, holzgebauten Fischerhäuser mit den roten Ziegeldächern und den einfenstrigen Giebelstuben uns grüßten und in den schmalen Vorgärten die mannshohen Sonnenblumen lustig im Winde tanzten, waren hinter den letzten Häusern von Z. in die tiefe, die Chaussee durchschneidende Talmulde hinabgerollt und befanden uns jetzt wieder im Anstieg zur nächsten Erhebung des Dünengeländes, durch das die Straße bergan, bergab sich dahinwand. Hier in der ungeschützten Weite der freien Natur, kaum hundert Schritte von der See entfernt und nur durch den schon bekannten, mit niedrigem Gestrüpp bewachsenen Dünenstreif von ihr getrennt, bekamen wir erst die volle Gewalt des Sturms zu spüren. Ein Tosen, Heulen, Jauchzen fuhr durch die Lüfte. Die schmalen Stämmchen der jungen Ebereschen, die in langer Reihe die Chaussee säumten, bogen sich beinahe bis zur Erde und schienen jeden Augenblick umknicken zu wollen. Die Büschel roter Beeren, die schon die Reife des Herbstes zeigten, wurden an den durcheinandergepeitschten Ästen wild hin und her gewirbelt. Die See war fahlgrau wie der Himmel, mit einem Einschlag ins Schwärzliche. Grünliche und weißliche Lichter geisterten überall aus dem dunkeln Gestrudel und Gebrodel. Das war das augenblickslange Aufblitzen zu höchsten Höhen getragener Wogenkämme, die sich im folgenden Moment schäumend wieder in die jählings aufgetane Tiefe ergossen und ihren Donner über das Rauschen der flachen Dünung hin bis an unser Ohr trugen.

»Großartig!« rief Karola, und ich hatte Mühe, ihre Worte in der dahinwirbelnden Symphonie von Sturm und Meer zu verstehen. »Schön, daß du mich hergeführt hast! Wir gehen doch nachher an den Strand?«

»Das wird schwierig sein, weil der Strand überschwemmt sein wird.«

»Aber ich möchte es für mein Leben gern aus der Nähe sehen! Das muß gruselig sein, so dicht dabei zu stehen!«

»Wir können es uns von oben ansehen. Ich weiß eine Stelle, nicht weit von meinem Haus. Man steht hoch über dem Wasser und blickt auf die See. Wenn du willst, führ' ich dich hin.«

»Ach ja, da gehen wir hin! Darauf freu' ich mich schon. Muß das herrlich sein! Du bist doch ein lieber Kerl!«

Sie faßte meine Hand und drückte sie warm und herzhaft. Wieder strahlte auf ihrem jetzt rosig angehauchten Gesicht jener Ausdruck kindlicher Freude, der mich von allem Anfang an so entzückt hatte. Damals bei unserer ersten Wagenfahrt, heute vor drei Jahren, genau auf den Tag und die Stunde, hatte ich ihn zuerst entdeckt. Was lag nicht zwischen einst und heute! Aber der Zug war ihr geblieben. Für den Zug allein war sie wert, geliebt zu werden. Ein krampfhaftes Gefühl unendlicher Bitternis, unendlichen Glücks, dies alles gehabt zu haben, durchzuckte mich und ließ mich für Augenblicke die Lider schließen.

Unser Wagen war zuletzt fast nur noch im Schritt, immer gegen den Sturm ankämpfend, der sich ihm wie mit ausgebreiteten Armen entgegenwarf, die Anhöhe hinaufgeklommen und hielt, um die dampfenden Gäule verschnaufen zu lassen, für einen Moment oben auf dem höchsten Punkt der Dünenkuppe, von wo man den grenzenlosen Rundblick hatte über Land und See.

Karola hatte sich ein wenig im Wagenkissen erhoben und schien mit allen Sinnen die unendliche Freiheit und Weite rings in der Runde in sich einzusaugen, während der Sturm den seidenen Schal um das liebliche Mädchengesicht wie ein blaues Segel blähte und gierig mit ihren gelösten Locken spielte.

»Erinnerst du dich,« rief sie mir zu, »wie du mir damals zum erstenmal das Meer zeigtest?«

»In Grabowskis Garten!« rief ich zurück. »Auf Zeidlershöhe! Bei Rotspon und kaltem Braten! Und du wolltest immer an mich denken, wenn du die See wiedersähst.«

»Denk' ich nicht daran?« gab sie mir übermütig zurück. Dann sich besinnend, mit dem Zeigefinger an der Stirn:

»Und hier, gerade hier muß es gewesen sein, wo ich das Land und die Häuser weit, weit draußen im Meer entdeckte.«

»Die versunkene Stadt, mein Himmelsbild!«

»Ganz richtig! Die versunkene Stadt. So sagtest du. Ich wunderte mich noch ein bißchen. Gott! War ich dumm! ... Aber wo mag sie sein?«

Sie spreizte die Hände über den Augen und spähte hinaus in die wilde graugrüne Wasserwelt. Dann schüttelte sie den Kopf und warf sich unzufrieden in das Polster zurück.

»Man sieht nichts. Alles ist zu. Alles ist fort. Schade!«

»Versunken, mein Schatz, wie ich's dir prophezeite. Im Wasser! In der Flut! In der See! Unser aller Schicksal dereinst!«

»Ich weiß nicht,« meinte sie achselzuckend, »ich möchte nicht im Wasser mein Ende finden. Es muß kalt und ungemütlich sein. Wenn schon, dann lieber am Lande.«

»Bitte die Götter, daß sie dich's aussuchen lassen!« erwiderte ich.

Meine Schimmel hatten wieder angezogen. Wir waren in glattem Trabe die Chaussee hinuntergerollt und in den sandigen Feldweg abgebogen. Nicht lange, und das Buchengehölz mit meinem Landhaus lag vor uns. Als wir in den Park einfuhren, begann gerade der Sturm, der eine Zeitlang nachgelassen hatte, von neuem zu toben. Die beiden hohen alten Fichten, die wie zwei baumlange Landsknechte vor der Gartenveranda Schildwache standen, verneigten sich mit halb lächerlicher, halb gespenstischer Feierlichkeit tief voreinander und dann noch tiefer in gemeinsamem Gruß mit dem auf der Treppe dienernden Klaus vor dem Herrn und der jungen Herrin des Hauses, die es nach Jahren zum erstenmal wieder betraten.

»Ist alles in Ordnung?« fragte ich.

Klaus schien sich zu besinnen, zögerte ein wenig und kratzte sich hinter dem Ohr.

»Nun? Wird's bald?« drängte ich ungeduldig. »Ob alles in Ordnung ist, frage ich?«

»Sonst schon!« meinte Klaus bedenklich und zog mich etwas beiseite. »Nur das Bild ist heruntergefallen!«

Ich fuhr einen Schritt zurück wie von einem heftigen Schlag auf den Kopf.

»Bist du verrückt? Das Bild? Welches Bild?«

»Vom alten Herrn!« flüsterte Klaus, immer hinter der vorgehaltenen Hand. »Im gelben Saal. Der Haken muß ausgerissen sein. Er lag auf dem Fußboden.«

Ich packte seinen Arm.

»Entzwei?!«

»Der Rahmen mitten durchgespalten! Das kann schon eine Weile gelegen haben, dem Staub nach zu urteilen.«

»Sage nichts! Und schaff' es fort!«

»Ist schon geschehen.«

»Nun, was gibt's?« fragte in diesem Augenblick Karola, die inzwischen den Schimmeln Zuckerstückchen aus ihrem Pompadour zwischen die schäumenden Gebisse gesteckt hatte, und trat näher. »Es spukt wohl schon wieder?«

Sie lachte etwas gezwungen und musterte uns beide.

»Nichts! Komm nur!« erwiderte ich und zog sie ins Haus, während Klaus uns mit dem brennenden Armleuchter über die dunkle Treppe und den morschen knarrenden Korridor voranleuchtete.

Oben im gelben Saal fiel mein erster Blick auf den Raum über dem Marmorkamin. Irgend etwas Unkontrollierbares, so töricht es war, hatte mich im tiefsten noch an Klaus' Rapport zweifeln, mich vielleicht im stillen sogar vermuten lassen, das Bild werde – ich wußte selbst nicht wie – heil und gesund wieder auf seinen Platz zurückgekehrt sein. Aber es verhielt sich, wie er gemeldet hatte. Die Wand war leer. Man sah an der Stelle, wo das Bild wohl über ein Jahrhundert gehangen hatte, noch genau seine Umrisse sich auf der goldgewirkten Damasttapete abzeichnen.

Karola war meinem Blick gefolgt und hatte sofort die Situation erfaßt.

»Wo ist das Bild?« fragte sie und erbleichte ein wenig.

»Rege dich nicht auf!« erwiderte ich, indem ich ihr beruhigend die Hand auf den Arm legte. »Es ist nicht alles in Ordnung mit dem Bild. Man muß es reparieren lassen. Es hat nichts weiter auf sich.«

Sie stand noch immer und starrte kopfschüttelnd nach der Wand, als sei da etwas nicht ganz geheuer.

Ich wandte mich zu Klaus, der in gemessener Haltung, den Armleuchter in der Hand, an der Tür wartete und mit halb niedergeschlagenen Augen doch uns beide, vor allem Karola, scharf zu beobachten schien.

»Nicht Maulaffen feilhalten!« sagte ich, geärgert über die lauernde Miene des alten Fuchses. »Gieß Champagner ein! Der Sturm hat uns ausgetrocknet. Wir haben Durst.«

Klaus stellte den Armleuchter auf den Tisch und tat, wie ihm geheißen. Dann verbeugte er sich in seiner zeremoniellsten Art, so daß man ihm das Erhabensein über die erhaltene Rüge deutlich vom Gesicht ablas, und trat mit gehaltenen Schritten wieder nach rückwärts zur Tür.

Ich rührte an Karolas Arm, die noch immer wie entgeistert vor sich hinstarrte.

»Komm'!« sagte ich. »Trink! Der Champagner wartet. Wir wollten doch vergnügt sein heute, an unserm Feiertag.«

Sie atmete tief auf und schien den Druck, der auf ihr lag, fast gewaltsam abzuwerfen.

»Du hast recht!« rief sie. »Wozu sich die Laune verderben lassen? Es geht ja doch alles, wie es muß. Her mit dem Lebenselixier!«

Wir tranken beide, am Marmortisch in der Mitte des Saales stehend, unsere Gläser leer und sofort, nachdem ich nachgefüllt hatte, Auge in Auge ein zweites.

»Du kannst gehen,« sagte ich zu Klaus. »Führ' dir auch eine zu Gemüte, wie damals.«

Über die Gletscherwand, als die sein grünlich bleiches, unnahbares Gesicht sich präsentiert hatte, schien es wie ein leiser Sonnenschimmer zu huschen. Er neigte den Kopf zwischen den hoch emporgezogenen Schultern und glitt nach rückwärts hinaus. Unwillkürlich warf ich ihm noch einen letzten Blick nach, als hätte mir eine Ahnung sagen wollen: Wenn du ihn wiedersiehst, ist alles vorbei!

Ich war mit Karola allein.

»Nun?« fragte ich. »Bist du lustig?«

»Es kommt schon,« erwiderte sie. »Laß uns nur erst ein paar Gläser hinunter haben.«

Noch schien etwas von dem gehabten Bangen in ihr nachzuzittern. Aber schon begann der Champagner in dem leichten sinnlichen Blut zu prickeln. Sie trällerte ein wenig vor sich hin und warf mir einen komisch mißbilligenden Blick zu.

»Aber ein verdrehter Kerl bist du doch mit deiner Vorliebe für alte Gespensterbaracken! Das muß man sagen!«

Sie lachte fast überlaut, als ob sie sich die letzten Schatten von der Seele lachen müsse, und trank von neuem.

»Das spukt wohl so in dem alten Blut,« murmelte ich zur Antwort. »Laß dich's nicht anfechten. Du wolltest ja tanzen vorhin im Wagen? Also tu's! Laß die Funken stieben! Ich setze mich hier in die Kissen und sitze als Sultan da, während meine Favoritin tanzt.«

Ich warf mich mit einem Ruck gegen die Lehne des Kanapees, aus dessen Polstern und Kissen ganz fern und zart der Duft unserer ersten Liebesstunde um mich schwebte. Mir war auf einmal merkwürdig leicht ums Herz. War es der Geist des Champagners, war es die Abwesenheit des gespenstischen Bildes, was mir die Seele wie mit Flügeln über das ringsum lauernde Grauen hob? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, daß der Augenblick da war und daß die Würfel fallen mußten.

Karola hatte ein paar kurze Tanzschritte gemacht und sich in den Hüften gewiegt. Ein leichtes Liedchen summte auf ihren keck geschürzten Lippen. Plötzlich warf sie den Kopf zurück, daß sich die vom Sturm gelösten Locken und Löckchen wie kleine züngelnde Schlangen um Hals und Schultern ringelten.

»Ach, es geht noch nicht!« rief sie unmutig. »Es muß noch mehr Feuer dahinter! Schenk' ein, mein Freund!«

Ich füllte die Gläser von neuem, und wir tranken abermals Auge in Auge. Beim letzten Tropfen lehnte sie sich weit zurück, wie um den Becher des Glücks bis auf die Neige zu leeren.

»Karola!« begann ich mit ernster Stimme, die mir ein wenig im Halse stecken blieb und dadurch einen ungewollt rauhen Klang bekam. »Ich habe eine Frage an dich.«

Sie fuhr wieder sichtlich zusammen, wie vorhin, als sie das Fehlen des Bildes an der Wand gewahrte, und setzte das leere Glas klirrend auf die Tischplatte.

»Mein Gott! Du hast eine Art, einen zu erschrecken! Was gibt es schon wieder?«

»Nichts Schlimmes,« sagte ich und suchte die Rauheit meiner Stimme möglichst zu glätten. »Ich will dich nur zu meiner Frau machen.«

»Was willst du?« fragte sie mit offenem Munde, indes schon die Lichter einer aufsteigenden Komik um ihre Lippen zuckten.

»Du sollst die Meine werden! Für immer! Ich will dich heiraten!«

»Wohl um mich los zu werden?« forschte sie, immer mit den spielenden Lichtern einer ihrer selbst nicht sichern Komik um die Mundwinkel.

Ich war unwillkürlich aufgefahren, von ihrem pfeilscharfen Fraueninstinkt im tiefsten Nerv getroffen.

»Wie kommst du darauf? Was soll das heißen?«

Sie hielt mich fest im Auge und suchte in meinen Zügen zu lesen, während sie langsam ihre Worte setzte:

»Man sagt doch, die Ehe sei das Grab der Liebe. Man gewöhnt sich aneinander, und es ist aus. Ich weiß es ja nicht. Aber es heißt so. Wenn es wahr ist, daß du mich so rasend liebst, wie du sagst, daß du nicht von mir lassen kannst, weshalb mußt du mich dann heiraten wollen? Weshalb kann es nicht so bleiben, wie es ist? War es nicht schön genug trotz allem? Sind wir nicht glücklich gewesen in allem Unverstand und in aller Herumzieherei wie zwei richtige Verliebte? Sag' selbst, kann es schöner kommen? Und jetzt so ein ordinärer Abschluß? Als Verlobte empfehlen sich! So eine Alltagsehe! Nur damit du schneller und leichter mit mir fertig wirst? O nein, mein Freund! Da bist du schief gewickelt!«

Sie hatte nach der anfänglichen Bedächtigkeit die letzten Sätze wieder wie gewöhnlich herausgesprudelt und machte ein paar bewegte Schritte.

Ich fühlte das Bedürfnis, ihrer weiblichen Taktik gegenüber auch die meine zu ändern.

»Hältst du mich für so spitzfindig, derartige Erwägungen anzustellen?« fragte ich, wohl ein wenig lauernd.

»Oh, du bist raffiniert!« brach sie lachend aus. »Du bist ein Übergescheiter! Vor dir muß man sich in acht nehmen! Das weiß ich. Aber ich bin auch nicht mehr so ein Dummchen. Ich kenne euch alle. Ich kenn' euch zur Genüge, ihr Herren der Schöpfung.«

Sie wiegte sich auf den Zehenspitzen, die Hände in die Hüften gestemmt, und summte eine dahin gehörige, anzügliche Melodie.

»Also gut!« sagte ich und strich mir das Kinn. »Nimm an, ich hätte dir auf den Zahn fühlen wollen, und du hättest die Probe bestanden. Bist du jetzt zufrieden?«

»Ach, du Närrchen, du!« lachte sie und tippte sich bedeutsam auf die Stirn. »Mir machst du nichts vor. Ich verstehe dich so gut.«

Sie spazierte kopfschüttelnd im Saal auf und ab und monologisierte, halb zu sich selbst, halb zu mir, dem Zuschauer auf dem Kanapee, gewandt:

»Meine Jugend! Meine goldene Freiheit! Alles, alles dahingeben! Ein zahmes, sittsames Haustierchen werden! Und nicht mehr auftreten dürfen! Das wäre doch selbstverständlich, nicht? ... Schüttle nicht mit dem Kopf. Es würde von selbst so kommen. Auch wenn du's jetzt nicht verlangst. Das wäre ja gar nicht anders möglich, hier in dieser Welt. Unter diesen Menschen. Meine ganze schöne Karriere futsch! Jetzt, wo der Weg so klar vor mir liegt. Wo sich alle Türen öffnen. Nicht mehr abends das Fieber! Der Beifall! Die Menschen! Die ganze Luft! ... Nein! Nein! Nein! Nie! Nie!«

Sie war vor mich hingetreten, stand mit gekreuzten Armen da und sah mir ins Gesicht.

»Sag' offen, Liebling, ist es dein Ernst? Es kann ja nicht sein!«

Mir schwindelte es einen Moment vor den Augen.

»Ja, mein Ernst!« schrie ich. »Mein heiligster Ernst! Und da antworte mir ernst, wie ich's verlangen kann!«

»Das hab' ich getan,« erwiderte sie, und das noch immer huschende Lächeln wich aus ihren Zügen.

»Antworte mir!« wiederholte ich und packte ihre Hand. »Warum hast du dann damals Dall'Orto heiraten wollen, den du nachher unglücklich gemacht hast?«

Sie stampfte unwillig mit dem Fuß auf.

»Dummes Zeug! Es geht ihm ganz gut! ... Aber wenn du mich fragst ... eben darum! Du kommst zu spät. Vielleicht erinnerst du dich noch, wie ich dir von Dall'Ortos Antrag erzählte. Ich sehe dich noch steif wie ein Stock dastehen. Hättest du mir damals gesagt, was du mir heute gesagt hast ... wer weiß, vielleicht hätte ich nicht nein geantwortet. Aber denke doch, was liegt nicht alles zwischen damals und heute? Es kommt zu spät. Schlag' dir's aus dem Kopf, Liebling. Wir können auch so miteinander glücklich sein.«

Sie wollte mir mit einer weichen Gebärde die Arme um den Hals legen, aber ich stieß sie zurück, daß sie taumelte.

»Dann geh'! Geh'! Geh'! ... Laß dich nie mehr bei mir sehen! Soll ich leiden bis zum Ende aller Dinge? Geh', so schnell du kannst! Sonst ...!«

Ich hatte mich halb erhoben und die Arme in die Luft geworfen, als müsse ich mich auf sie stürzen. Sie prallte erschrocken zurück und retirierte zum Marmortisch in der Mitte des Saals.

»Gut!« sagte sie mit einer Miene und einem Ton, wie ein gestraftes Kind. »Wenn du's befiehlst, geh' ich! ... Dann leb' wohl!«

Sie nahm ihren Hut und den blauen Schal vom Tisch und machte mit gesenktem Kopf ein paar zögernde Schritte bis gegen die Tür, als warte sie noch darauf, zurückgerufen zu werden. Aber ich biß die Zähne zusammen und schwieg, während mir die Tränen schwer heruntertropften. Sie war stehengeblieben, schien sich zu besinnen. Plötzlich warf sie den Hut beiseite und lief mit einer stürmischen Gebärde bis dicht zu mir hin.

»Schick' mich nicht fort! Ich krieg' es ja nicht fertig. Und du ja auch nicht. Wir können uns ja doch nicht vergessen. Weiß Gott, was das ist! ... Da! Ich sehe ja die Tränen auf deinem Gesicht.«

Sie war vor mir niedergekniet und wischte mir mit ihrer weichen Hand über die Backen, daß es mir durch und durch ging, so sehr ich mich dagegen wehrte.

»Laß das!« knirschte ich und konnte zugleich nicht anders, als einen Kuß auf diese leichte spenderische Hand zu drücken.

»Du brauchst dich nicht zu schämen,« flüsterte sie. »Ich bin auch kein Felsen. Meine Augen sind auch naß. Da! Fühle nur.«

Sie führte meine Hand linde über ihre blassen, feinen Wangen, und ich fühlte die Tränen, die ihr aus den Wimpern rannen.

»Dirne!« murmelte ich. »Dirne! Mit wie vielen magst du schon so geweint und gelacht haben!«

Sie lächelte fast ein wenig bitter und warf den Kopf zurück, daß die Schlangenlöckchen sich phantastisch um sie ringelten.

»Nenne mich, wie du willst. Man kann sich ja nicht selbst entgehen. Aber vielleicht hat unsereins schon mehr Glück in die Welt gebracht, als so manche von den anderen, die tausendmal besser und anständiger sind.«

»Und auch millionenmal mehr Schmerz!« schrie ich auf.

»Ach, Schmerz und Lust, das geht in eins. Kannst du dir Tag ohne Nacht denken? Erst beide zusammen geben das Leben.«

»Karola!« stöhnte ich mit einem letzten, zitternden, ohnmächtigen Versuch des Widerstandes. »Du weißt nicht, was du tust! Du machst mich verrückt! Es geschieht etwas! Soll ich leiden bis ans Ende aller Tage?«

Sie wehrte lächelnd ab und löste mit einer raschen Gebärde ihr schon halb offenes Haar, daß es schlängelnd, züngelnd, glimmernd über Nacken und Schultern fiel.

»Du Ärmster, du! Du sollst nicht länger leiden. Du sollst glücklich sein. Wolltest du nicht, daß ich tanze, vorher? Jetzt fühl' ich die Lust und die Kraft. Schnell noch ein Glas! ... So! Du sitzest wie der Sultan in seinem Diwan und sollst deine Sklavin tanzen sehen. Nur auf ein Weilchen die Augen zumachen.«

Sie strich mir wie beschwörend mit der Handfläche über die Lider, und ich tat, wie sie wollte. Es war wie eine Erlösung, die Welt auf ein Weilchen versinken zu sehen und in das innere Dämmerlicht hinabzutauchen.

»So! Jetzt, mein Gebieter!« rief eine süße, weiche, lachende Stimme in meinen halben Traum. Ich öffnete beinahe verwundert die Augen. Inmitten des gelben Saales, gerade unter der amorettenumschwebten Rokokovenus aus Tiepolos Schule, deren wiedergekehrtes atmendes Ebenbild sie war, stand Karola, so wie sie sich mir an jenem ersten Tage, heute vor drei Jahren, gezeigt hatte, und bewegte die nackten schimmernden Glieder in leichten wiegenden Schritten hin und her. Um die Hüften hatte sie den blauseidenen Schal gewunden, dessen dünnes Gewebe den ebenmäßigen Wuchs mehr verriet als bedeckte. Die schlanken biegsamen Arme hoben und senkten sich sehnend, lockend, betörend im Mazurkatakt über dem feingeschnittenen Kopf und den zart marmorierten Schultern. Von den Lippen summte eine schelmische, verliebte Melodie. So stand sie ein Weilchen, nur leicht sich wiegend, gaukelnd, schwebend, trällernd. Aber nach und nach kam Bewegung, Feuer in den gleitenden Fluß der Linien. Schneller und schneller begannen die zierlichen Knöchel umeinander zu wirbeln, fesselloser regten sich die Arme, hob sich der geschmeidige Leib. Die Melodie auf ihren Lippen erstarb. Nur noch der Rhythmus der befreiten Glieder sprach, sang, jubelte Lust, Gewährung, Seligkeit. Mit einem heißen Seufzer brach sie dicht vor mir in die Knie.

»Wer mich haben will,« flüsterte sie mit fliegendem Atem, »muß mich nehmen, wie ich bin. Polnisches Blut, mein Freund! Willst du mich nehmen, wie ich bin?«

»Dirne! ... Weib!« stammelte ich und atmete noch einmal den schmeichelnden Duft ihres nackten Leibes, küßte zum letztenmal diese roten wartenden Lippen, zwischen denen der weiße Zahnschmelz wie ein mattglänzender Perlensaum schimmerte.

 

Es war gegen die sechste Stunde, als wir uns zum Aufbruch rüsteten. Der wolkenschwere, düstergraue Sturmtag neigte sich zu früher Dämmerung. Durch die Abendfenster des gelben Saales stahl sie sich herein, kroch über den Estrich an den Stuhlbeinen und Tischfüßen hinauf, über die Sessel, das Kanapee, den Bouleschrank, über alle diese vermorschenden und verblassenden Lebenszeugen eines fremden begrabenen Geschlechts, und erfüllte den weiten, schweigenden Raum mit einem schwimmenden, alles verwischenden, alles gleichmachenden Zwielicht. Von draußen her kam in mächtigen ununterbrochenen Akkorden das Donnern und Rauschen der nahen See.

Karola stand an einem der beiden nördlichen Fenster des Saales und blickte gebannt in den wild sich überstürzenden Wogenschwall hinaus.

»Du wolltest mir doch das Schauspiel ganz aus der Nähe zeigen?« sagte sie plötzlich und wandte den Kopf über die Schulter zu mir zurück.

»Wenn du's noch sehen magst?« erwiderte ich.

»Gewiß!« rief sie. »Nur schnell! Eh' es Abend wird!«

»Dann komm'!« sagte ich und bot ihr den Arm.

Wir traten durch die Hintertür in den Garten und Park, der das Haus umgab. Ein langer, gewundener Gang führte zwischen hohen, alten Lebensbäumen, die ehemals wohl Pyramidenform gehabt hatten, aber seit langem verwildert waren, bis zur ziemlich entlegenen Parkpforte, von wo es, immer dem Höhenrande entlang, nicht mehr weit bis zur äußersten vorspringenden Spitze von Falkenhorst war. Die Dämmerung war vorgeschritten und schwamm über den Rasenbeeten und Baumgruppen. Ein seltsames, milchiges, fast unirdisches Licht, das eher zudeckte als deutlich machte, verwirrte und blendete die Augen. Der Sturm schien hoch in den Lüften zu ziehen. Unten war es stiller. Das Meer rollte und gor. Ein kaltes schwarzes Rauschen ging von ihm her. Ich fühlte die geheime Spannung, die seit dem Morgen in mir lag und den Tag über wie im Halbschlaf verharrt hatte, von neuem wach werden und drohend den Kopf erheben. Woran erinnert mich doch das alles hier? fragte ich mich. Der Garten, die Beleuchtung, die Situation? Wo habe ich das alles schon einmal erlebt? Ich grübelte und sann, aber ich konnte nicht darauf kommen.

Karola hatte mit tiefen auskostenden Zügen, als habe sie noch das volle Champagnerglas an den Lippen, die salzige Seeluft eingeatmet, die der Sturm herübertrug, und die man gleichsam mit Händen greifen konnte. Jetzt zog sie ihren Arm aus dem meinen und rief in neu erwachendem Übermut nach der süßen Lässigkeit der eben genossenen Liebesstunde:

»Fange mich! Ich laufe! Fange mich, wenn du kannst! Immer den Laubengang hinunter.«

Sie winkte ausgelassen mit der Hand nach rückwärts. Der blaue Schal flatterte im Wind. Im nächsten Augenblick war sie um eine Biegung des Weges verschwunden. Ich wollte ihr nach, aber irgend etwas, ich wußte selbst nicht was, hielt mich zurück. Ich werde ihr einen Sommerapfel abpflücken, dachte ich mir und trat an einen der verkrüppelten Obstbäume, die hier und da auf dem Rasen standen.

In diesem Moment war es mir, als gewahrte ich drei Schritte von mir, halb von dem nächsten Lebensbaum verdeckt, eine dämmerige männliche Gestalt. Ich fuhr ein wenig zusammen, aber ohne gerade besonders zu erschrecken.

»Wer da?« rief ich und bemühte mich, mit vorgehaltener Hand das Zwielicht zu durchdringen.

»Gut Freund!« kam es zurück mit einer Stimme, die mir in ihrem singenden Tonfall bekannt klang. Wieder durchzuckte mich die quälende Frage, auf die ich keine Antwort fand: Wo hast du das doch schon einmal erlebt?

»Wir kennen uns,« sagte die Stimme mit einer Deutlichkeit, als ob sie sich dicht an meinem Ohr befinde. »Besinnen Sie sich!«

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wo habe ich Sie schon gesehen?« stammelte ich.

»Wir sind uns zweimal auf Erden begegnet. Erinnern Sie sich! Heute geschieht es zum drittenmal. Der Mahner ist da, wie es vorgesehen war. Nach diesem noch einmal. Dann ist Ihre Stunde um.«

Ich wollte vorwärts, auf die Gestalt hinter dem Lebensbaum zu, aber meine Füße waren wie mit Blei ausgegossen. Ich kam nicht von der Stelle.

»Sind Sie der Mann ... vom Schützenhausfest?« rang ich mit stockendem Atem heraus.

»Ich bin, was ich bin. Denken Sie an den Federball! Es ist Zeit!«

»Und wann sah ich Sie noch? Wann noch?« röchelte ich, wie unter einem Alp. »Sind Sie vielleicht auch der Mann vom Strand? Der Fremde, der in den Dünen verschwand? Der Kapitän mit dem Pergamentgesicht?«

»Wir sind zu jeder Zeit und in jeder Gestalt, wir vom Grunde des Meeres, über die die Käseglocke gestülpt ist. Wir sind im Kommenden wie im Gewesenen. Erinnern Sie sich an unser erstes Zusammensein. Ich sah das gewisse Zeichen über Ihnen dreien. Nun? Glauben Sie mir jetzt? Schwarzwald ging.«

»Aber Adalbert Hempel lebt!« rief ich mit erstickter Stimme. »Er lebt und wird wiederkommen.«

»Ihr anderes Ich ist tot!« erwiderte der Fremde. »Es wird niemals wiederkommen.«

»Tot!?« stöhnte ich.

»Er liegt, mit dem Messer in der Brust, tausend Meilen von hier. Jeder hat seinen Weg zu Ende zu gehen. Sie sind der letzte an der Reihe.«

»Und was wollen Sie von mir

»Sie müssen es tun! Der Tag ist da. Schaffen Sie den Federball fort!«

»Ihn fortschaffen? Ihn vernichten?«

»Vernichtung heißt die Losung für alle geschaffene Kreatur. Es ruft nach Ihnen. Bringen Sie es zu Ende, ehe es Abend wird!«

»Und wenn ich nicht kann? Wenn ich nicht allein und elend sterben will?«

»Sie haben nicht zu wollen. Sie haben zu müssen. Der Federball ist fällig. Schleudern Sie ihn hinaus, soweit Sie können! Ein kurzer Augenblick, und alles wird still. Tun Sie, was Sie müssen. Oder wollen Sie ewig an ihm leiden? Sind Sie so ausgehöhlt, daß Sie zu keiner Tat mehr fähig sind? Dann gehen Sie selbst hin und machen Sie kurzen Prozeß mit sich.«

»Dietrich ... Stobäus!« glaubte ich in diesem Augenblick eine Stimme aus weiter Ferne zu hören. Vielleicht war es Karolas Stimme. Aber das Rufen erstarb, mochte auch nur eine Sinnestäuschung gewesen sein.

»Und wenn es über mich kommt?« ächzte ich aus zugeschnürter Kehle, an allen Gliedern wie gelähmt.

»Sie ist Ihr Geschöpf!« antwortete es hinter dem Lebensbaum, und der singende Tonfall des Fremden war in ein kaltes, schneidendes Befehlen übergegangen. »Sie haben sie zu dem gemacht, was sie ist. Sie können sie wieder vernichten. Niemand wird Ihnen etwas anhaben. Ein Höherer steht über Ihnen.«

»Entsetzlicher! Fürchterlicher!« gurgelte ich. »Was treibt Sie, Ihre mörderische Wut gerade an mir auszulassen?«

»Ich will mich schlafen legen. Es ist genug des Narrenspiels unter der Käseglocke. Machen Sie, daß Sie fertig werden! Es duldet keinen Aufschub mehr.«

Die Stimme war von neuem umgeschlagen und klang nun auf einmal wieder uralt und wie zeitlos.

»Bestie! Hund!« stöhnte ich aus tiefster Tiefe. »Und darum mich zum Opfer machen?! Bestie!«

Der Schaum stand mir vor dem Munde. Ich wollte mich dem Fremden an die Kehle stürzen, um ihn zu erdrosseln, aber die Erscheinung war wie in der Dämmerung zerflossen. Ich griff ins Leere. Gleichzeitig hörte ich Karolas rufende Stimme – es war also vorher doch wohl keine Täuschung gewesen – durch den Park hallen und rasch näher kommen.

»Dietrich! Dietrich! Holla! Heda! Wo bist du? ... Hier Karola! Dietrich! Dietrich!«

Ich faßte mir an Kopf und Brust und überzeugte mich von meinem körperlichen Vorhandensein und von dem spurlosen Verschwinden des andern. Denn als ich an dem Lebensbaum vorbei, wo er gestanden hatte, wieder auf den Parkweg trat, war nirgends mehr etwas von ihm zu entdecken.

Karola kam mir den Laubengang entgegengeflogen und stutzte bei meinem Anblick.

»Was hast du? Was fehlt dir? Wo bleibst du? Warum kamst du nicht hinterher?«

Ich schüttelte den Kopf und wehrte ihre halb ängstlichen, halb neugierigen Fragen mit einer Bewegung ab.

»Hier nimm den Apfel. Ich habe ihn für dich gepflückt.«

»Immer der Galante!« erwiderte sie erfreut und biß herzhaft in den Apfel ein, den ich ihr gereicht hatte. »Pfui!« schüttelte sie sich und spuckte den Bissen wieder aus. »Sonderbar, wie der schmeckt! So nach Moder! Da müssen die Würmer drin sein. Und dabei sieht er so rotbackig aus. Schade!«

Sie warf ihn mit einer Gebärde des Ekels weit von sich fort und hängte sich wieder fest in meinen Arm.

So wie sie den Apfel fortwarf, so soll sie selbst fortgeworfen werden! glaubte ich die Stimme des Fremden fernher und doch nahe zu vernehmen, aber es war wohl wieder nur eine Sinnestäuschung. Wie von plötzlich hereinfallendem bengalischem Licht stand die Erinnerung vor meinem inneren Gesicht, wann ich dies alles schon einmal, so ähnlich, aber nun doch wieder anders, erlebt hatte: ich hatte es geträumt! Einmal vor Jahren ganz ähnlich so geträumt! Wenn ich mich recht entsann, in den Nächten, die vor Karolas erstem Kommen gelegen hatten. Da hatte ich es geträumt. Vorausgeträumt, so wie es sich nun ereignet hatte. Und doch wieder auf eine so ganz verschiedene Art. Es mußte eine geheime Vorausbestimmung über meinem Leben walten. Es gab kein Entweichen. Alles stand fest und war unentrinnlich.

Das bengalische Licht in meinem Innern war erloschen. Mein Kopf hing schwer und dumpf in den Schultern. Ich bewahre keine Erinnerung mehr an den Weg durch den Park und, dem Höhenrande entlang, bis nach Falkenhorst. Aber ich muß ihn wohl mit Karola gegangen sein, denn plötzlich standen wir auf der äußersten überhängenden Spitze, wohl hundert Fuß über der Brandung, die unten gor.

Es war fast vollständig Nacht. Die See war wie mit einem schwarzen Mantel zugedeckt, der von unsichtbaren Gewalten emporgeschnellt, wieder aufgefangen und von neuem in die Höhe geschleudert wurde. In donnerndem Prall stürzten sich die Wogen gegen den Sockel der tönernen Wand, auf deren höchstem, jäh abstürzendem Dachfirst wir standen. Der weiße Gischt spritzte aus der Tiefe zu uns herauf und feuchtete uns Stirn und Wangen.

»Hu! Ist das schaurig schön!« jauchzte Karola und schwang ihren blauen Schal in die Luft. »Das vergißt man sein Leben lang nicht! Dafür bin ich dir dankbar, mein Freund!«

»Erinnerst du dich noch,« sagte ich mit langsamer Betonung, »wie wir einmal dort unten standen, wir zwei, wo jetzt die Brandung rohrt? Erinnerst du dich?«

Karola lachte und schwang den Schal.

»Recht gut, mein Freund! ... Du hättest mich ja beinahe umgebracht. Damals war ich klein vor dir, und du warst groß.«

»Und heute?«

»Heute ist es vielleicht ein bißchen anders. Damals stand ich da unten. Heute hier oben. Die Welt ist rund und dreht sich. Gottlob! Ich habe die Füße fest auf der Kugel. Ich kann tanzen!«

»Und meinst du nicht, daß sie sich auch wieder einmal nach unten drehen kann?«

»Kaum! Dazu stehe ich zu sicher. Mir schwindelt nicht.«

Ich hatte ein fremdes Lächeln um meine Mundwinkel, aber Karola übersah es wohl in der Dunkelheit.

»Meinst du nicht, daß du mein Geschöpf bist? Daß ich dich vernichten dürfte, wie ich dich geschaffen habe?«

Karola lachte und schwang den Schal.

»Mich hat niemand geschaffen! Weder du, noch ein anderer. Ich bin aus eigener Kraft. Wie die See und der Sturm und wie das alles. Bilde dir nicht ein, daß du mich vernichten kannst.«

Ich richtete mich ein wenig aus der geduckten Stellung auf, in der ich gestanden hatte.

»Karola! Ich will dich heiraten. Sage ja!«

Karola schwang ihren blauen Schal in der Luft und lachte, daß es hell durch das Brüllen der Wogen klang.

»Sprich kein Wort mehr vom Heiraten! Das sind Kindereien in einer Nacht wie der! Siehst du nicht, wie das Meer tanzt? Willst du es vielleicht in ein Waschfaß zapfen?«

Ich versuchte, Atem zu schöpfen, aber der schmiedeeiserne Reifen um meine Brust gab nicht nach, engte mich bis zum Bersten ein.

Wie aus weiter Ferne, und doch deutlich vernehmbar, klang die Stimme des Fremden an mein Ohr:

»Es ist Zeit! Sonst ersticken Sie!«

»Karola!« sagte ich. »Hast du nicht Angst, da so nahe am Rand? Ich warne dich! Das Gestein ist bröcklig.«

Karola lachte und schwang den Schal.

»Nein, ich habe keine Angst. Ich bin ganz und gar nicht schwindlig. Sieh nur her! Ich trete bis dicht an den Rand und stehe so sicher wie auf einer Fußbank. Wenn du Mut hast, stellst du dich neben mich.«

Sie machte einen letzten, allerletzten Schritt bis hart an den Abgrund, in dessen Tiefe die Brandung rollte und kochte und donnernd sich brach.

»Siehst du? Ich stehe ganz fest! Komm' her!« rief sie mir zu und lachte ihr betörendstes Lachen.

Plötzlich war mir, als ob der Reifen um meine Brust zerspränge und es aus meiner Tiefe wie Schlamm und Feuer quölle.

»Zerstörerin du! Verderberin! ... Dirne! Göttin! Weib!«

Ich kreischte es über den Sturm hinaus und stürzte mich, hingerissen wie je von ihrem hundertfältigen Zauber, auf sie los. Einen Augenblick lang lag sie in meinen Armen. Unsere Lippen fanden sich in einem einzigen letzten seligsten lebenerschöpfenden Kusse. Dann war es, als ob etwas unter mir versänke. Ein Schrei gellte durch die Luft, der noch in meiner Sterbestunde in meinen Ohren hallen wird. Ich öffnete die Augen. Ich stand allein auf der höchsten Spitze des Kaps, jäh über dem tanzenden Meer. Ich breitete meine Arme aus. Sie waren leer von der wonnevollen Last, die mir Himmel und Hölle gewesen war. Aus der schwarzen Tiefe unten sah ich etwas flattern und fliegen. Vielleicht war es der blaue Schal, der mir einen letzten Gruß für die Ewigkeit zuwinkte. Und alles war zu Ende.

»Sie ist tot!« sagte ich fast mechanisch und ohne innere Bewegung. »Ich habe es getan!«

Der Fremde schien neben mir zu stehen. Ich erkannte deutlich die Goldknöpfe der altfränkischen Kapitänsuniform. Aber die Gesichtszüge verschwammen im Dunkel.

»Bilden Sie sich nichts ein!« sagte er. »Sie haben es nicht zustande gebracht. Sie waren feige wie immer. Der Zufall hat es für Sie getan.«

Ich lege die Feder aus der Hand. Meine Beichte an die Kommenden ist vollbracht. Mein Kopf brennt und fiebert. Ich werde mich hinlegen müssen. Es wird Ernst werden.

»Und es war doch schön!« wie Schwarzwald sagte. »Aber man muß es erlebt haben, um es zu begreifen. Wenn wir vom Rathaus kommen, sind wir klug.« Anmerkung des Herausgebers: Letzte Worte des Dietrich Stobäus, niedergeschrieben am Morgen seines Todestages, den 17. März 1864.

 

Leonhardi hatte bis um sieben Uhr morgens gelesen. Er drehte das letzte Blatt um und sah auf. Der Sturm, der während der Nacht das Haus geschüttelt hatte, war verbraust. Der Morgen schien ins Zimmer. Ein klarer, blinkender Wintertag mit leichtem Frost und Reif brach an. Der Rechtsanwalt warf einen letzten sinnenden Blick auf das Medaillonporträt des schönen Mädchens, von dessen Glück und Ende er gelesen hatte. Dann legte er es beiseite und packte die Blätter zusammen, um sie nach dem Willen des Erblassers den Kommenden als letztes Vermächtnis des Dietrich Stobäus zu übergeben.


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