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14

Wir waren bei Mondschein nach der Stadt zurückgefahren. Milchiges Licht floß um die dämmernden Waldhöhen, die rechter Hand die Straße einsäumten, und erfüllte die tiefen Talmulden, in die wir scharfen Trabs hinunterrollten, um jenseits langsamer wieder hinaufzuklettern. Fast scheitelrecht über uns schwamm das bleiche Gestirn, das in wenigen Tagen voll werden mußte, durch die unendlichen Einöden des Weltraums und zog einen breiten glitzernden Lichtschweif über den silbernen Meeresspiegel nach.

Auf den milden Spätsommertag war ein empfindlich kühler Herbstabend gefolgt. Wir waren enger aneinandergerückt, nach den Stürmen des Tages beide einem vielsagenden, gedankenvollen Schweigen hingegeben, und ich hatte unter der grobwollenen Wagendecke, die uns dicht umhüllte, den warmen, schmiegsamen Druck ihrer Knie gefühlt. Noch gärte mein Blut von den Küssen, die ich auf das glatte Rund dieser Knie gepreßt hatte, und während mich von der Nachtluft Frösteln nach Frösteln überlief, atmete ich zugleich mit Macht die starke würzige Kühlung, die von den Herbstwäldern herkam, in meine erhitzten Lungen.

Ein paarmal war der Wagen über holpriges Pflaster gerasselt. Die ausgreifenden Pferdehufe klirrten und schlugen Funken. Aus dem tiefen Schatten rechts und links auftauchender Vorstadthäuser kläffte Hundegebell. Kaum ein Lichtschimmer zeigte wachende Menschen. Hier schien schon alles im Schlaf, obwohl es erst gegen die neunte Stunde sein mochte. Ich aber war überklaren Sinnes weitergefahren, das eingeschlummerte Mädchen an meiner Seite, wieder in das offene, wellige Land und in den alles überfließenden, alles auflösenden Mondglanz hinaus.

Endlich hatten dichtgewölbte Alleebäume, zwischen denen nur vereinzelte Mondstrahlen sich hindurchstahlen, und spärlich blinzelndes Laternenlicht das Nahen der Stadt verkündigt. Die hölzerne Zugbrücke dröhnte dumpf unter Hufen und Rädern. Ein Eisenbahnpfiff. Spät wandelnde Spaziergänger. Die Mauern und Wälle umfingen uns wieder, aus denen ich vor wenigen, ach so schicksalsvollen, ewig unvergeßlichen Stunden mein blondes Liebchen in das einsame, vom Geisterhauche durchwehte Väterhaus entführt hatte.

Vor dem Stadttheater, einem morschen und altersgrauen Kuppelbau aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, hatte ich halten lassen. Durch die mystische Finsternis einer bedenklich knarrenden Hintertreppe tasteten wir uns zu dem Privatzimmer des Direktors hinauf. Es war ein stallartiger Holzverschlag, wo der mächtige Mann, wie in einem Heiligtum, zu thronen pflegte und nur für seine Intimen zu sprechen war, während die eigentlichen Geschäftsräume des Theaters unweit davon in einem Privathause untergebracht waren.

Eine ungehobelte Bretterwand trennte den Raum von dem benachbarten Kulissenboden und zeigte große, klaffende Risse, durch die des Nachts Mäuse und Ratten ein und aus spazieren mochten. Das Mobiliar war das allereinfachste, ein roh zusammengeschlagener Arbeitstisch wie aus der Schusterwerkstatt, mit Formularen, Kontrakten, Zeitungsblättern, Theaterzetteln bedeckt, ein paar halb aus dem Leim gegangene Holzschemel und ein niedriger, offenbar vom Theatertischler zurechtgezimmerter Aktenschrank.

Sonderbar abstechend von dem allen war das doppeltbreite Ruhelager, das beinahe die Hälfte der Kammer ausfüllte und mit Daunenkissen, Decken und Fellen schier überhäuft war.

Mit seiner tropischen Üppigkeit schien es geradewegs aus einer Oper von Meyerbeer herzustammen, mochte wohl auch nach Bedarf manchmal auf die Bühne zurückwandern und zeigte jedenfalls an, daß der Bewohner dieses sonst so spartanischen Interieurs auch milderen Regungen zugänglich war.

In der Tat hatte in Stadt und Land bereits die Sage das Sofa des Direktors umsponnen und noch immer wuchsen neue Ranken nach. Da jedoch die Stadtväter an dem altbewährten Standpunkt festhielten, daß Moral und Theater zwei ganz verschiedene Welten seien, die nicht das mindeste miteinander zu schaffen hätten, der Mann aber im übrigen seine Geschäfte aufs beste versah, so hatte man ihn lächelnd oder achselzuckend gewähren lassen, und alle Parteien fanden ihren Vorteil dabei.

Der Direktor, ganz Würde und Majestät auf den pechschwarz gefärbten buschigen Brauen, reichte mir von seinem Schemel aus mit einer großen Geste die Hand, während er einen vertraulich herablassenden Seitenblick auf Karola warf, die ihrerseits mit einem schnellen Lächeln sein rabenschwarzes Lockenhaupt, seinen Sammetflaus und das Meyerbeerlager überflogen hatte.

»Ah, willkommen im Revier der Kunst!« sprach der Direktor und ließ dabei wohlgefällig die Worte über die Zunge rollen, wie man eine wundertätige Medizin tropfenweise aus der Arzneiflasche träufelt. »No, Sie bringen mir die angekündigte Künstlerin, Liebster, Bester? Etwas steil und unwirtlich hier der Aufstieg zu den Höhen des Parnaß, mein schönes Kind! Aber wem sage ich das? Die liebe Kleine wird beim Kollegen Israelski vom Elysiufri auch nicht immer auf Marmortreppen und Perserteppichen gewandelt sein. Wenn man in die Höhe kommen will, muß man in der ganzen Welt mit Hühnerleitern vorlieb nehmen, auch wenn sie von oben bis unten besch... sind.«

Der Direktor hielt einen Augenblick inne, um den Wohlklang seiner Worte persönlich mit der Zunge nachzukosten und ihre pralle Bildlichkeit noch durch eine abrundende Geste zu vervollständigen. Dann streckte er seinen kurzen stämmigen Arm nach Karola aus und zog sie mit einer resoluten Turnbewegung, wie man einen Hantel hereinzieht, bis dicht an seine Brust.

»No, allerliebst! Wirklich allerliebst! Ein Gesichtchen zum Küssen! Und diese Figur! Diese geschmeidige Fülle! Diese Grazie dabei! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geschmack, mein Liebster, Bester! Ich glaube, wir werden viel Freude daran haben.«

Der Direktor spitzte seine wulstigen Lippen zu einem bewundernden Küßchen, das er wie zur näheren Bekräftigung mit Zeigefinger und Daumen auf Karolas Busen befestigte. Dann drehte er sie mit einem kurzen Schraubengriff halb um ihre Achse und vertiefte sich in die Betrachtung ihrer Rückseite. Aber hier schien es ihm den wohlgemessenen Fluß der Rede zu zerreißen und nur einzelne Ausrufe der Anerkennung und Bewunderung entquollen seinem Munde.

»Ah! ... Ah! ... Scharmant! ... Delikat! ... Kolossal!«

Karola hatte, leise errötend zwar, aber doch lächelnd und unbefangen, sich in die Prozedur des Direktors gefügt, als sei dies die natürlichste Sache von der Welt, hatte sich rechtsum und linksum gewendet, sich vorwärts und rückwärts präsentiert, während ich mit recht unbehaglichen Gefühlen dabeistand und meinen guten Freund, den Direktor, am liebsten über seine eigene Treppe hinunterbefördert hätte.

»No, Liebster, Bester!« hub der Direktor wieder an und klopfte Karola anerkennend auf den Rücken. »Da haben Sie aber einen Fund gemacht. Kolossal! ... Und sogar rot werden kann das artige Kindchen noch. Allerliebst! Nur noch etwas Organ! Etwas Stimme! Sie wissen, mundum vult decipisse. Das Publikum wünscht Sand in die Augen gestreut. Also in Gottesnamen, her mit dem Sand! Wozu haben wir denn das aparte Gesichtchen und die tadellose Figur! Aber wie gesagt, etwas Organ kann ja nie von Schaden sein. Machen wir doch einmal die Probe. Das liebe Kindchen soll uns etwas von seinem Repertoire zum besten geben.«

Der Direktor kniff sie ermunternd in die Backen, und Karola sang uns mit ihrer noch kleinen und unausgebildeten, aber so süßen, quellenden und biegsamen Stimme erst ein Couplet aus »Kieselack und seine Nichte vom Ballett«, dann ein Lied aus dem »Freischütz« vor.

»No! Alle Achtung! Sehr respektabel! Vortreffliches Material! Nur Schule! Schule! Aber das ist Sache der braven Pellerini. Die wird das schon in die Hand nehmen. Die hat schon ganz andere Sachen in die Hand genommen. Nicht nur auf dem Gebiet des Gesanges.«

Der Direktor hatte bei der Erwähnung der Pellerini wieder sein vernehmliches Zungenschnalzen gemacht, als gelte es, eine Vollblutstute im Zirkus vorzuführen, und zog dabei mit einer weitausholenden Armbewegung ein Kontraktformular aus dem Blätterwust des Tisches hervor.

Wenige Minuten darauf stolperte Karola als neu engagiertes Mitglied des Stadttheaters zu D. »für Chor und kleine Partien«, Arm in Arm mit mir, die stockfinstere Treppe hinab. Glückstrahlend fuhr sie an meiner Seite zum Bahnhof, um noch in K. alles in Ordnung zu bringen und dann dauernd hierher zurückzukehren, und ich blickte dem davonrollenden Zuge noch lange in die glastende Mondnacht nach.


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