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Am zweiten Tage des neuen Jahres begruben wir Julius Schwarzwald draußen vor dem Tor, bei Heilig-Leichnam, wo er sich den Platz seit langem ausgesucht hatte. Ein unabsehbarer Zug folgte dem gelben Eichensarge, der zwischen den verschneiten Gräbern taktmäßig auf den Schultern der Träger voranschwankte. Nicht nur Bekannte, Verwandte, Nachbarn, der Ratskellertisch, die Kunden vom Lande, der große Kreis der städtischen Geschäftsfreunde, alle, die mit ihm im Leben zu tun gehabt, über seinen Witz gelacht, von seiner guten Laune sich hatten anstecken lassen, gaben ihm das letzte Geleite. Auch Wildfremde hatten sich in Scharen eingefunden und gingen im Zuge mit. Die halbe Stadt schien versammelt, um dem dahingegangenen Humoristen noch einmal ihre Reverenz zu erweisen. Er, der so oft dem Tode ein Schnippchen geschlagen und in seinem Siege ihrer aller Sieg verkörpert hatte, war nun doch dem schwarzen Ritter erlegen. Es war das Leichenbegängnis eines ruhmreich gefallenen Helden, das man feierte. Noch im Tode schien hier das Leben zu triumphieren, und nicht wenige mochten im Zuge wandeln, die auf einen letzten, außerordentlichen Witz des berühmten Witzbolds hofften, ja vielleicht nur deshalb hergekommen waren.

Aber nichts dergleichen geschah. Der schmale, gelbe Schrein stand merkwürdig in sich gekehrt inmitten der rings ihn umgebenden Trauergemeinde. Die Flocken fielen weich und sanft und dicht, schmolzen auf den Wangen wie linder Himmelstau, der sich mit den Tränen aus der eigenen Wimper mischte, und woben über die Gräber in der Runde den weiten, gleichförmigen Mantel der Vergessenheit. Als das Salböl aus dem Munde des Pfarrers verträufelt war, die lange gelbe Kiste, an Stricken hinabgelassen, immer tiefer ins Dunkel rutschte, und selbst auf das ungestüme Klopfen der Erdschollen, diesen letzten Zuspruch der Freundschaft, keine Erwiderung kam, da sah man, daß der gefeierte Humorist sich in der Tat stillschweigend empfohlen und sich so, wenn man wollte, doch noch einen hübschen Abgang gemacht habe, indem er nach so vielen Anzapfungen und Ehrenbezeigungen einfach und schlicht ohne jedes weitere Wort verschwand.

Fast ununterbrochen fiel Schnee und wieder Schnee, den ganzen Winter hindurch. Die Lawinen türmten sich auf den Dächern, polterten über Gitter, Erker und Gesimse in die Gassen, versperrten dort unten Weg und Steg und wurden oben durch neue Lasten ersetzt, die sich sacht und gleichmäßig aus dem bleichen Grau des Himmels niedersenkten. In den Wäldern brachen Fichten, Tannen, Erlen unter der Wucht des Schnees, der sich auf Ästen und Zweigen häufte. Chausseen und Straßen mußten Tag für Tag ausgeschaufelt werden, waren trotzdem oft genug unpassierbar. Ein sibirischer Winter, wie sich die ältesten Leute, die schon mit dem Kopfe wackelten, nicht erinnerten, ihn erlebt zu haben.

Im Januar hatte es sich seit Karolas Entdeckung, Mitte April seit Dall'Ortos, des Verschwundenen, mißglückter Schießerei gejährt. Ostern war vorüber, und noch immer war des weißen Geflimmers und Geriesels kein Ende. Endlich, als schon der Mai vor der Tür stand und die immer kräftigere Frühjahrssonne zu ihrer Verwunderung die Natur noch im Winterkleide sah, ging es an ein jähes Auftauen, Fortschmelzen, Hinwegschwemmen. Mit Macht stürzten die unzähligen Wässerchen von den Dächern, Schloten, Türmen, Zinnen, Bastionen, vereinigten sich zu reißenden Rinnen, Gossen, Bächen, Flüssen und zogen als gewaltiges Hochwasser im alles überschwemmenden Hafenstrom zur nahen Mutter See. Ein leidenschaftliches Wachsen, Knospen, Sprießen, Aufbrechen und Erblühen begann, als müsse in Tagen nachgeholt werden, was in Wochen versäumt worden war. Bereits um Mitte Mai, kaum noch verspätet, standen die Obstbäume in ihrer weißen und rosa Blütenpracht, die fast wie körperlos, gleichsam nur so hingezaubert schien. Beinahe gleichzeitig erschloß der Flieder seine blauen und weißen Dolden, und der Westwind trug Düfte voll unendlicher Süße von den Hängen, Wällen, Höhen, Mauern, an denen überall blühende Sträucher hinaufkletterten, über die eng befriedete Stadt hin. In den Dämmerstunden früh vor Tag und spät gegen Abend saß die Amsel im jungen Wipfelgrün des alten Lindenbaums, der vor meinen Fenstern aus fremder Zeit gewachsen stand, und sang für kurze Weile Frieden und Stille in das zerwühlte, gequälte, hoffnungslose Herz.

Noch einmal war es Frühling, wurde es Sommer. Und als die Tage wiederum abnahmen, die Blätter sich verfärbten, weiße Nebel die Morgenfrühe durchspannen, da war der letzte Meilenstein meines Weges mit Karola erreicht, und dieses sonderbare Mixtum Compositum einer Liebesgeschichte, die fast wie ein Börsengeschäft begann, als Idyll und Farce unter höchsten Wonnen und blutigem Hohn sich fortsetzte, um als dunkle Tragödie und dennoch voller sieghafter Lebenslust auszugehen, stand vor ihrem soeben gekennzeichneten Schlußkapitel.

Im Juni war Karola wieder für längere Zeit zu ihrer Mutter (und zum Konsul, wie ich mit selbstquälerischem Behagen ohne weiteres annahm) nach K. gegangen. Dort hatte ich sie um Johanni herum besucht und mit ihr noch einmal, so nahe vor dem Ende, Wochen fast ungetrübten Glückes genossen. Der Konsul war nach seinem unvermeidlichen Teplitz gereist und konnte so bald nicht zurück sein. Ich hatte Karola also doch unrecht getan, aber es ließ sich nicht mehr genau ermitteln, wann denn der Konsul die Stadt verlassen habe. Genug! Er war fort! Dieses gefährlichsten von allen meinen vermeintlichen oder wirklichen Nebenbuhlern, von dem ich nicht einmal wußte, ob er, mit oder ohne ihr Wissen, Karolas Vater, Karolas früherer oder jetziger Galan oder gar dies alles zusammen sei (mögen es mir die Manen des vor einem Jahr verstorbenen, seligen Wollüstlings verzeihen!), dieses undefinierbaren Rivalen also war ich fürs erste ledig. Von sonstigen Mitbewerbern war mir nichts bekannt, ich war fremd in der Stadt, hatte keinen Verkehr, noch suchte ich ihn und niemand konnte mir etwas zutragen. Scheinbar oder tatsächlich – einerlei! beruhte nicht alles in der Phantasie, wie Schwarzwald sagte? – ihres ungestörten Besitzes sicher, erlebte ich mit ihr vielleicht die schönste Zeit, die uns im Laufe unserer Geschichte beschieden gewesen ist. Es war, wie wenn vor Abendwerden eines düsteren, sturmgepeitschten Tages die Sonne noch einmal durch die Wolken bricht und das weite regendampfende Land mit blendendem Glanz überflutet, ehe sie hinabsteigt und es dunkel wird. Als ob sie dem Wandernden noch einen Sack voll Licht auf den Weg durch die Nacht mitgeben wolle. So begleitet auch mich die Erinnerung an jene Rosentage in K. als ein unverlierbares Leuchten durch das finstere Einerlei der seitdem durchmessenen Lebenskatakombe und wird in meinem Auge erst erlöschen, in meinem Ohr nur verklingen, wenn – wer weiß, wie nahe deine Stunde! – alles miteinander erlischt und verklingt.

Täglich verbrachten wir die Nachmittage, oft auch schon den Vormittag, zusammen, schlenderten Seite an Seite durch die bergigen, holperigen Gassen von K., betrachteten die Auslagen der großen Modegeschäfte und Goldschmiede an der Hauptader der Stadt, Stoffe, Putz, Geschmeide, kauften wohl auch von diesem oder jenem ein besonders verlockendes Stück, saßen in den Anlagen am sonnenbeglänzten, schwarz flimmernden Schloßteich, zwischen Büschen von blühendem Goldregen und duftenden Nelkenbeeten, oder lustwandelten draußen vor den Toren der Stadt, fernab vom Menschengetriebe, in Wiese und Feld, wo emsige Hummeln um bunte Kleeblumen summten, auf den mannshohen Schäften die gelbgrünen Roggenähren mit den zarten Blütensporen sich wiegten, hinter dichten Baumwipfeln eine ferne rote Kirchturmspitze sich zeigte und hoch über dem allen, in grenzenloser Bläue, Lerchenjauchzen zum Himmel klang.

Hier war es, als erwache das Heiterste, Ursprünglichste, Unbefangenste in Karolas Natur. Jedem Zwang entbunden, überließ sie sich, übermütig wie ein Füllen auf der Weide, drollig wie ein junger Hund und selig wie ein Kind, allen Einfällen des Augenblickes, allen Bocksprüngen guter Laune, zog Schuhe und Strümpfe aus, trabte barfuß durch die feuchten, blumigen Wiesen, am schnellfließenden Bach entlang, und manches liebe Mal auch mitten hindurch, lief mit hochgeschürztem Rock, daß man zum Entzücken gar die wohlgebildeten Waden über den zierlichen Knöcheln sah, querfeldein und hieß mich sie fangen, setzte über Hecken und Gräben und trieb allerlei andere Narrenspossen, die uns gleichzeitig zum Lachen und außer Atem brachten.

»Ja, das ist mein Element!« rief sie dann und warf den erhitzten Kopf mit dem vom Laufen aufgelösten Chignon zurück, so daß sie aussah wie ein Schulmädel, das sich mit seinesgleichen gebalgt hat. »Das ist mein Element! Bei den Pferden und Kühen, bei den Schweinen und Kälbern, da fühl' ich mich wie zu Hause! Ich hätte ein einfaches Landmädchen werden sollen. Wer weiß! Da wäre vielleicht etwas Besseres aus mir geworden, als was ich jetzt bin. Vielleicht wäre ich glücklicher gewesen und hätte andere glücklicher gemacht. So hat man seinen Beruf verfehlt.«

Und sie lachte und sah mich halb übermütig, halb reuig und auf jede Weise betörend an, und ich liebte sie mehr als je vordem.

Warme, wolkenlos blauende Mittsommertage, wo beim frühen Erwachen die Sonne schon hoch vom Himmel strahlte und ihrer Bahn dort oben kein Ende schien, wo die steifgewordenen Knochen sich noch einmal frei, leicht, jung fühlten, die schon ein wenig wandermüden Füße wieder fest und elastisch auf den Erdboden traten, ein Strom von Kraft, Glück, Gesundheit, Hoffnung, Selbstvertrauen durch die Adern rann, als seien es erst zwanzig und nicht vierzig Jahre zurückgelegten Weges, das Leben rasch, mühelos, heiter dahinglitt, wie auf dem Flusse, der durch die Stadt zog, die Segelboote vor dem Sommerwind – azurne, jugendliche, unvergeßliche Johannistage, bleiche, silberne, allzu kurze Mittsommernächte, vom Unkenruf aus fernen Teichen geheimnisvoll durchhallt, Zeit voll Glanz und Spiel und Schelmerei, voll inhaltsreichster Nichtigkeit, voll tändelnden Ernstes und bedeutungstiefer Tändelei ... wie unabsehbar lang, berauschend süß, nicht endenwollend schön erscheint das alles heute im mikroskopisch scharfen Fernglas der Erinnerung, und wie flüchtig schnell – kaum gedacht, auch schon dahin! – verging es doch im Augenblicke des Erlebens selbst! So sind wir Narren des ewig wechselnden, immer entgleitenden, treulos trügerischen Zeitbegriffs in uns, müssen am höchsten Glück wie auf sattellosem Gaul an sausenden Blütenzweigen vorbeigaloppieren, die uns den Hut, das Gesicht streifen und die wir nicht fassen, nicht halten können: um hinterher, wenn alles vorüber ist, zu unserer Qual uns einzubilden, es hätte nur von uns selbst abgehangen, zu verweilen, zu genießen, den Augenblick zur Ewigkeit zu machen, wir aber hätten es als arme Toren aus eigener Schuld versäumt! ...

So war denn auch dies schon wieder Vergangenheit, Erinnerung, Schatten und Traum. Wir standen am Zuge, der mich nach D. zurückbringen sollte. Ich hielt Karolas schlanke, schmale Hand fest umschlossen in der meinen, wie etwas, das man vielleicht nie wieder so halten wird, und sah sie durchdringend an.

»War es schön, Karola?«

»Ja, schön, schön! Einzig schön!«

»Und kann es nicht bleiben?«

Sie wehrte erschrocken ab.

»Viel zu schön, um zu dauern! Wenn du klug wärest, müßtest du mir jetzt den Abschied geben. Dann wäre es ein unvergeßliches Glück für uns beide, bis ans Ende.«

»Wenn ich aber von Natur aus unklug bin?«

Ich bekam keine Antwort. Sie schlang die Arme um meinen Hals und küßte mich heiß, innig, selbstvergessen.

»Dank, Liebling! Dank! Dank für alles! Im Herbst sehen wir uns wieder.«

Die Bahnhofsglocke läutete. Der Zug pfiff. Ich winkte noch einmal zum Fenster hinaus. Dann setzte ich mich in die Ecke meines Kupees und schloß vor der grau hereinbrechenden Einsamkeit die Augen.

Als aber vier Wochen seit meiner Rückkehr nach D. verflossen waren, ohne mir mehr als einen kurzen Gruß von Karola aus K. zu bringen, da wußte ich, daß alles wieder von vorne beginne, und daß es zum Ende kommen müsse.


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