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21

Es war ein grauer, schwermütiger Septembernachmittag, als ich nach einer Abwesenheit von mehr als zwei Monaten wieder der Heimat entgegenfuhr, deren türmereicher Horizont aufzudämmern begann. Der Zug rollte am Rande des welligen, da und dort von herabsteigenden Waldkämmen gekrönten Hügellandes hin, da wo es gerade in die eintönige Weite der unabsehbaren Stromniederung verfließt. Unendliche Melancholie lag über den vom Regen schmutzig verwaschenen Stoppelfeldern, die in meilenweitem Umkreis mit schwarzerdiger Sturzbrache und hellgrünen Teppichen von junger wehender Saat abwechselten.

Unendliche Melancholie und doch wiederum auch der große herzstillende Friede von Mutter Natur, die in urewigem, geheimnistiefem Wirken Verwesung und Geburt, Wachsen und Vergehen aneinanderreiht, durcheinanderwebt, auseinanderformt und gebiert, und ihre spendenden Schöpferhände gleichzeitig über Wiege und Grab, über Vergangenheit und Zukunft breitet. Wie ich mich ihr nah fühlte in diesem Augenblick! Wie ich genesend ihres ruhevollen Hauchs genoß! Wie Gewesenes und Kommendes, Schwermut erlittenen Leids und Hoffnung zukünftigen Friedens sich zu einem seltsam schwebenden Gegenwartsgefühl verschmolzen!

Ich lag in die Polster zurückgelehnt, den Kopf mit den halboffenen Augen dem Fenster zugekehrt, und wie dort draußen Saaten, Brache, Stoppeln und wiederum Stoppeln, Saaten, Brache vorüberzogen, so glitten vor meiner Seele die Bilder der letzten Monate traumhaft schnell und körperlos dahin.

Wie vieles war geschehen seit jener Begegnung mit Schwarzwald, wo ich mit geballten Fäusten nach Hause gestürzt war und in den vier Wänden meiner Stube, unter den kühl beobachtenden Blicken meines Ahnherrn, Wut, Gram, Schmach hinausgeknirscht und -geschluchzt hatte! »Nie, nie wieder!« hatte ich geschrien. »Alles für immer aus!« mir geschworen. Und zwei Tage darauf hatte im Zwielicht des sinkenden Maiabends ganz plötzlich an einer Straßenecke Karola vor mir gestanden und mich mit dem wohlbekannten schnellen forschenden Blick überflogen, ehe sie mir ihre schmale, schlanke Hand hinstreckte und dazu auf ihre Weise halb kindlich, halb schuldbewußt lächelte. Und ich, hatte ich nicht eingeschlagen, ohne mich nur zu besinnen? Ihre Hände gepreßt, mit geschlossenen Augen, zusammengebissenen Zähnen, wie ein Besessener, und kein Wort des Vorwurfs, keinen Ton der Klage, nichts von all den ausgestandenen Schmerzen über die Lippen gebracht, im übermäßigen, unerwarteten Glück, sie nur wiederzusehen?

Und des folgenden Tags hatten in dem Liebesasyl an der Langen Brücke die Silhouetten vergessener Menschen an der Wand und der ausgestopfte, in all seiner Wut verewigte Kakadu das alte närrische Spiel sich erneuern sehen, wie eine neunzehnjährige, sinnverwirrende Zauberin mit ihren weißen Armen einen vierzigjährigen, viel erfahrenen und noch immer nicht klug gewordenen Odysseus umstrickte und bezwang.

Ja, mögen Moralisten, mögen Ignoranten des Lebens und des menschlichen Herzens mich verdammen: ich war wie der Opiumesser von neuem dem süßen, angebeteten, unwiderstehlichen Gift erlegen.

Aber ach! mit dem alten Rausch waren auch der alte Jammer, die bekannte Qual wieder erwacht. Schon beim nächsten Stelldichein hatte Karola mich abermals sitzen lassen. Und wiederum! Und zum drittenmal! Sie war von neuem verschwunden. Ich hatte getobt, mich in mich selbst verkrampft, zum letzten- und aber letztenmal gewartet, Briefe geschrieben, durch Klaus in ihrer Wohnung, beim Theaterinspektor, wo sonst immer nachfragen lassen: alles vergebens. Niemand, der wußte, wo sie geblieben, nur daß sie verreist sei. Irgendwohin? Mit irgendwem? Wie es erfahren? Adalbert Hempel war seit kurzem wieder im Lande. Also er nicht! Die Späheraugen meines Klaus umwachten ihn, wo er ging und stand. Nein, er war es nicht! Diesmal nicht! Jetzt nicht! Aber welcher andere denn? Fast hätte ich etwas drum gegeben, es wäre nun doch wieder Hempel gewesen. Besser ein bekanntes, erreichbares Ziel seines Hasses, als so ein unsichtbares und unverwundbares Phantom, das überall und nirgend. Und doch wiederum ein Trost, daß es nun auch Hempel nicht besser als mir ergangen und auch er irgendeinem dritten, vierten habe Platz machen müssen.

Ja, was war das für ein Kämpfen, Ringen, Aufbäumen gewesen! Diese Tage, die sich immer im Kreise um den einen Punkt drehten und dabei langsam wie die Schnecken weiterkrochen in eine Zukunft hinein, die als ein undurchdringlicher Nebel herunterrieselte. Und plötzlich wieder, zur allerunerwartetsten Stunde, ein Zerreißen der Nebelwand, ein kurzer, befreiender Lichtblick. Karola hatte geschrieben. Eines jener flüchtigen, wortkargen Briefchen, die doch so viel zwischen den Zeilen lesen ließen. Sie sei auf dem Lande, bei einer Freundin, habe leider damals nicht kommen können. Aber in den nächsten Tagen bestimmt, und sie sende mir herzliche Grüße und auch einen schönen Kuß, wenn ich ihn haben wolle.

Gewiß und trotz allem hätte ich ihn haben wollen, am liebsten sogleich von Mund zu Mund, bis uns beiden der Rest von Sinn und Verstand verginge! Aber die »nächsten Tage« waren gekommen und gegangen und hatten mir keine Karola gebracht. Ich hatte wieder Stunde um Stunde geharrt, gehofft, war dazwischen durch alle Straßen geirrt, in der stillen, halb uneingestandenen Hoffnung, ihr vielleicht, wie schon einmal, unvermutet zu begegnen, und doch immer enttäuscht, ein plan- und kopfloses Schweifen, ein stieres, hartnäckiges Sichselbstzerreiben und -zermürben, dem endlich auch der festeste Bau zu erliegen drohte.

Trübe, kühle, traurige Pfingsten waren ins Land gezogen. Kein Sonnenstrahl war durch die schwere Wolkendecke gebrochen, kein Tropfen lösend, befreiend aus der Düsternis gefallen. Tränenloses Leid hatte über der bangen Erde und meinem müden Herzen gelegen. Und wie ich brütend, grübelnd, in mich selbst verloren auf der Wallpromenade und dem Festungsglacis gegangen war, zwischen den schwatzenden, geputzten Menschenscharen, über die meine Augen gleichgültig und dennoch unbewußt spähend hinwegglitten, da hatte sich in der Tat das Unverhoffte, so heiß Ersehnte noch einmal zugetragen: Karola war aus der vorübertreibenden Menge aufgetaucht, sie selbst, mein verlorenes Glück, und an ihrer Seite in auffälliger, übertriebener Kupplerinneneleganz die Pellerini. Schon von weitem hatten meine übersichtigen Augen sie entdeckt, wie sie näher kamen, miteinander sprachen, stutzten, Blicke tauschten, nickten, mich erkannten. Ich hatte die schnelle, flüchtige Röte auf Karolas Wangen gesehen, das wohlbekannte Zeichen ihrer Scham, ihrer Schuld, jetzt eine schnelle, unwillkürliche Wendung ihrer graziösen Gestalt auf mich zu, als wolle sie herantreten, mich begrüßen, mir die Hand reichen: in meinen Schläfen hatte es gehämmert, in meiner Brust Generalmarsch geschlagen ... Aber, menschliches Herz, wer kennt deine letzten, verborgensten Irrgänge, die geheimsten Gründe deines Labyrinths, aus denen wie aus orphischen Tiefen die rätselhaften Stimmen erklingen, die unseren Willen hin und wieder ihm selbst entgegenlenken und unser Leben entscheiden! Gelähmt im Innersten, wenn auch äußerlich bewegungsfähig, hatte ich die wenigen Schritte, die uns noch trennten, zurückgelegt, hatte den feinen Kopf mit den dunkelgezogenen Augenbrauen und dem sinnlich geschürzten Lippenpaar wartend, lockend, fragend, verwundert, befremdet mir zugekehrt gesehen, hatte mit einer stummen Neigung den Hut gelüftet und war, ohne mich umzusehen, aber im Geiste des gehabten Bildes voll, meine einsame Straße durch die Menge weiter gezogen, wie das Schiff durch die Meereswogen, einer dunkel verhüllten, fernen Bestimmung entgegen.

Welch ein kindischer Torenstolz hatte dabei meine Brust geschwellt, und wie teuer hatte ich den Sieg schon im nächsten Moment zu bezahlen gehabt! Selbstanklagen, Reue, Verzweiflung hatten sich wie aus dem Boden gestampft erhoben und im Reigen mein Herz bestürmt. Eine gehabte und aus der Hand gegebene, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit. Wie das weh tat, da innen! Wie das fraß, nachträglich!

Aber als der erste Sturm dann verbraust war, das schlimmste Toben sich gelegt hatte, da war aus dem Aufruhr ein Gedicht geflossen, das ich mit lächerlichem Hochgefühl – als ob ein Gewitterregen nur dazu da sei, die Kartoffeln von Hinz und Kunz zu befruchten! – meiner lange liegengebliebenen Sammlung eigener Lyrik einverleibte. Ein Gedicht der Entsagung und des herbstlichen Abschließens, auf dem Papier vielleicht nicht übel zu lesen und doch von dem wirklichen Zustande meines Herzens, damals, so weit entfernt wie der Blinde von Farbe und Licht.

Das hatte ich nur zu bald zu merken gehabt. Denn anstatt der so schön bedichteten inneren Ruhe und Fassung, die nun in meine umgeworfene, durchrüttelte Seele gekommen sein sollten, hatte im Gegenteil mein Leiden nur zugenommen, mein Zustand sich verschlimmert, die Wucht der Selbstanklage, Karola an jenem Tage durch eigene Schuld verscherzt zu haben, sich immer drückender auf mich gelegt. Und alles Spähen, Suchen, Forschen, Schweifen umsonst! Karola wieder fort, spurlos verschwunden, als habe die Unterwelt sie verschluckt!

Aber siehe da! Kurz nacheinander, unvermutet, gleichsam vom Himmel gefallen, ohne Ort, ohne Datum, von irgend jemand – keiner wußte so recht wann und wie – durch die Tür gesteckt zwei der bekannten, vielsagend lakonischen Billetts von Karolas Hand, sie sei irgendwo auf dem Lande und studiere fleißig für die nächste Saison, habe mich noch nicht besuchen können, komme aber nächstens herein und freue sich auf das Wiedersehen.

Merkwürdig – hatte ich mich gefragt –, warum sie mir überhaupt noch schrieb, immer wieder noch anzuknüpfen suchte! Also doch auch in ihr etwas lebendig, was stets von neuem erwachte und sie sich meiner erinnern ließ. So ganz spurlos also auch ich nicht an ihrem Leben vorübergegangen. Ah! Wie das wieder Öl in das Feuer meiner Seele goß!

Und wie seltsam auch das: Kein Wort von unserer neulichen Begegnung! Kein Ton des Vorwurfs! Nicht die leiseste Frage! Als sei das mit meinem Verhalten so ganz selbstverständlich gewesen. Oder, mein Gott! Hatte ich das alles womöglich nur geträumt! Träumte vielleicht auch dies? Mein ganzes Leben vielleicht? Mich selbst sogar? Und nichts von dem allen wäre wirklich? Nicht einmal mein armer Kopf, der mich zwischen den Händen schmerzte und schrie, und mein Verstand, den ich abreisen fühlte?

Ja, es mußte ein Ende sein, so oder so, hatte ich mir gesagt und mir einen letzten Termin gesetzt, bis zu dem ich Karola erwarten wollte, um ihr Auge in Auge meinen unabänderlichen Willen zu diktieren oder unsere Freundschaft für immer aufzukündigen. Der Termin war abgelaufen, verlängert, von neuem verflossen, zum zweiten-, drittenmal hinausgeschoben, und kein weiteres Lebenszeichen von der Verschwundenen gekommen. Da endlich, an einem blendenden Hochsommertage, als Juliglut wie in die ausgestorbenen Gassen einer Märchenstadt herunterknallte, war ich ein letztes-, allerletztesmal den alten, wohlbekannten Weg zum Kapitänshaus an der Langen Brücke gepilgert und hatte in den einsamen vier Wänden meines Stübchens, angesichts so vieler stummen Zeugen unseres Liebesromans, meine Abschiedsworte an Karola Bergmann hingeworfen.

»Ich habe Dich sehr, sehr gern gehabt! Mehr als Du geahnt hast! Ich hätte alles für Dich getan! Aber Du hast es nicht haben wollen. Leb' wohl, und von Herzen alles Beste auf den Weg! D. St.«

Wie mir die Worte noch heute, zwei Monate später, in der Seele brannten! Ich hatte das Papier gefaltet, versiegelt und in der geöffneten Tür noch einen letzten, langen, auskostenden, umfangenden Blick auf den Schauplatz meines verflossenen Glücks getan. Dann hatte ich die Tür leise und vorsichtig hinter mir geschlossen, als liege da drinnen ein Totes, das man nicht wecken, nicht stören dürfe, war auf den Zehen die Treppe hinabgestiegen und langsamen, schweren Schrittes nach Hause gegangen, den Kopf auf der Brust, hoffnungslose Leere im Herzen.

Folgenden Tags in der Frühe war ich in die Welt hinausgefahren, und Klaus hatte den Auftrag gehabt, das versiegelte Billett auf irgendeinem Wege an die unbekannte Adresse von Fräulein Karoline Bergmann zu befördern.

Stille Dörfer und heimliche Städtchen, dürre Heide und dunkler Wald, sanfte Täler und blaue Höhen hatten sich zwischen mich und sie gelegt. Mein Auge war in fremdes Leben hinuntergetaucht und hatte sich in seinen Farben gebadet, an seinen Quellen satt getrunken.

Nun war auch dies schon wieder Vergangenheit. Den Heimkehrenden trug der Bahnzug mit hartem Stoß und Schlag über die dröhnende Stadtgrabenbrücke, durch eiserne Festungstore und zwischen gemauerten Bastionen unter das rußige Bahnhofsdach seiner Vaterstadt.

Langsam sollte jetzt der Alltag wieder beginnen. Dieser eintönige, gleichförmige Stundenruf des Daseins, wie ich ihn ohne sonderliche Störung und Gemütsbewegung gewohnt gewesen, ehe Karola in mein Leben getreten war. Ihn gewohnt gewesen, viele Jahre lang, vom grauen, bleiernen Aufstehen des Morgens an, durch belanglose Tagesgeschäfte, die getan oder nicht getan auf das gleiche hinaus liefen, mit bedeutungsleeren Menschen, deren Kommen oder Gehen mir keinen tieferen Eindruck hinterließ als fallende Regentropfen auf der Wasserfläche, bis endlich zum todesmatten, ewig unbefriedigten Schlafengehen.

Ja, das würde nun wieder der Kreislauf des Lebens sein. Darauf hatte ich meine Uhr fortan einzustellen. Mich abfinden hieß es, wie sehr es da innen, irgendwo in der Brust, auch zuckte und sich wand. Herbst war es, drinnen und draußen, und wie die braunen und gelben Lindenblätter vor meinem Fenster sachte, gleichmütig und geräuschlos vom Baum zu Boden glitten, so sah meine Seele die Träume und Gesichte der Jugend langsam und unerbittlich um sich versinken, und ich erkannte, wo ich stand und woran ich war.

Was hatte ich an Karola geliebt? Warum war mir ihr Besitz so über alle Maßen kostbar, ihr Verlust so ganz unerträglich und unersetzlich erschienen? Hatte ich wirklich nur ihren Körper gewollt, wie Karola es empfand, es mir noch bei unserem letzten Zusammensein entgegengehalten hatte? Aber weshalb litt ich dann so in tiefster Seele, wenn diese Seele nicht mitbeteiligt und alles nur Sache der Sinne war, für die es doch allenthalben Ersatz und Nachschub gab, junges Gemüse genug, wie Adalbert Hempel es nannte? Freilich, konnte ich mich mit Adalbert Hempel, dem Herzenbrecher, vergleichen? Mußte ich erst in den Spiegel sehen, um zu wissen, was ich noch zu hoffen, zu beanspruchen hatte?

Also, was war es nun eigentlich, was mich so hilflos gefesselt, gebannt hatte? Liebe? Sinnlichkeit? Egoismus? Dies alles zusammen? Das Anklammern des von der Natur Vernachlässigten und Betrogenen an jeden Strohhalm von Glücksmöglichkeit? Die Angst des Alternden, eine vielleicht zum letztenmal sich bietende Jugend aus der Hand zu lassen? Ja, da lag es! Jugend war es, was ich in Karola geliebt hatte. Nie wieder würde es wohl geschehen, daß ein junges Weib, wie sie, mir sozusagen freiwillig von ihrem Leben abgäbe. Die Letzte war sie nach aller Voraussicht, die in ihrem weiten, leichtsinnigen, lasterhaften, verliebten Herzen noch etwas für mich alternden, glücklosen Hagestolz übrig gehabt hatte, so wenig es auch gewesen und mit so vielen anderen ich es zu teilen gehabt hatte.

Vorbei nun auch das! Bescheidung der letzte, bittere Tropfen des Lebenstrunkes, den nach gehabter Süßigkeit die Zunge nachschmeckt bis zum Ende. Wie hieß doch der Schlußrefrain jenes Pfingstgedichts damals, in dem ich meinen jetzigen Zustand ahnend vorweggenommen hatte?

»Und ob die Wogen stürmend mich berannt –
Hier warf's mich an den Strand.«

Ja, am Strande war ich nun wieder. Vom Weltmeer der Leidenschaft heimwärts zurückgetragen in diesen stillen Hafen meines Vaterhauses. Sonderbar! War mir nicht wirklich zumute, als hätte sich das alles, was ich seit einem Jahr erlebt und gelitten, gar nicht im Umkreis dieser Gassen und Straßen, im wohlvertrauten Bezirk meines gewohnten Alltags begeben, sondern irgendwo weit weg, in der Fremde, an einem gänzlich unbekannten, nur äußerlich der Heimat gleichenden Ort, und nun erst sei ich wahrhaft in ihren Schoß zurückgekehrt?

So ging ich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft, träumend, wachend, zwischen Wirklichkeit und Phantasie seltsam geteilt und dennoch in beiden eins, unter einem düsterschweren Herbsthimmel durch die engen, finsteren Gassen, zwischen den hohen, schnörkeligen, zeitumgrauten Giebelhäusern meines Wegs dahin und genoß das melancholische Vergnügen, Gewesenes als gegenwärtig, Gegenwärtiges als vergangen, Schein als Sein und Sein als Schein zu empfinden.

An einem solchen Abend – noch glomm ein letztes Licht um die Zinnen, Türmchen und Mauerkronen von Sankt Marien – hatte ein dunkler, unbestimmter, mir selbst nicht deutbarer Drang mich noch einmal hinausgetrieben, nachdem ich schon vom gewohnten, planlosen Spaziergang zurückgekommen. Es waren wenig Menschen mehr unterwegs. Nur dann und wann klangen Schritte mir entgegen, und ungewisse Gestalten im spärlichen Flackern der Öllaternen schlüpften vorüber, dicht in Mäntel oder Tücher gehüllt, denn ein scharfer Nordost blies von Zeit zu Zeit durch winkelige Höfe, um zugige Ecken und gemahnte an den Spätherbst, der vor der Tür stand.

In der Nähe des Theaters ging ich langsamer, von Erinnerungen, die mir ins Ohr summten, umklungen. Trällernde Liedchen, beflügelte Melodien, schwebende Mazurkatakte: wie sich das alles im Reigen drehte, sich neigte, sich zärtlich umschlang! Dazwischen ein schneller, leichter, graziöser Schritt wie von eiligen Mädchenfüßen, erst noch ein wenig fern, dann näherkommend, jetzt scheinbar zögernd, jetzt von neuem klipp klapp, klipp klapp bewegt.

Ich blieb stehen, den Kopf auf die Brust gesenkt, um halb den Tönen in meinem Innern, halb der holden Musik dieser rasch sich nähernden Mädchenschritte zu lauschen, deren Klang – sollte es doch so etwas wie Seelenübertragung geben? –, da sie nun bis auf wenige Ellen hinter mir waren, mich mit einer heißen, fliegenden Ahnung wie mit einem warmen Sturzbad überschüttete.

Aber, ehe ich noch Zeit hatte, der blitzschnellen Eingebung nachzugehen, mir über die Art meiner Ahnung Rechenschaft abzulegen, war es geschehen. Die Schritte hatten mich überholt, und im flackernden Laternenschein erblickte ich Karolas zierliches, gleichsam gesporntes und gewappnetes Persönchen auf Atemsnähe vor mir.

»Sie wollen wohl Reißaus vor mir nehmen?« sagte sie, wie es schien ein wenig außer Atem, und hatte dabei den Kopf etwas gesenkt und die Augen zu mir emporgehoben, mit einem entzückenden Anstrich von Schuldbewußtsein und Schelmerei zugleich.

»Ich laufe schon eine ganze Weile hinter Ihnen her, aber Sie sehen und hören ja nichts. Sie gehen gewiß zu einem Rendezvous, weil Sie so ganz abwesend sind.«

»Selbstverständlich!« nickte ich und lächelte mühsam, während innen die Ströme meines Blutes mit betäubendem Hochdruck rauschten, so daß ich einen Augenblick zusammenzubrechen meinte. »Selbstverständlich!« wiederholte ich, noch immer nach Fassung ringend. »Ich lebe nur noch in Rendezvous. Ich taumle nur so von einem zum anderen.«

Meine Stimme pfiff rauh und gepreßt. Ich hörte es deutlich und verbiß meinen Ärger darüber.

Karola musterte mich scheu und verlegen von der Seite.

»Blaß sehen Sie aus, Sie Ärmster! Was haben Sie gehabt? Sind Sie krank gewesen?«

Ich zuckte mit den Achseln und suchte mich abzuwenden. Mir war schwach und elend zumut, wie noch nie. Aber ich wollte es nicht wahr haben, mochte nicht bemitleidet sein.

»Sie sagen ja nichts?« meinte sie unsicher. »Sie wollen wohl nichts mehr von mir wissen? Seien Sie nur aufrichtig! Dann geh' ich wieder.«

Ich schwieg noch immer, sah sie nur mit großen, traurigen Augen an, in denen wohl mancherlei zu lesen sein mochte.

»Ja, ich weiß, ich bin sehr schlecht,« bekannte sie mit dem kindlich reumütigen Ton, der mich immer von neuem rührte und bezwang. »Sonst ja vielleicht nicht. Aber gegen Sie geb' ich's zu. Gott weiß, wie das kommt! Warum ich so bin! Ich kann Ihnen das jetzt nicht alles so sagen. Ich erzähl' das ein andermal. Wenn Sie wollen, besuch' ich Sie morgen nachmittag. Oder mögen Sie nicht?«

Einen Augenblick lang durchzuckte es mich: Sag' nein! Laß sie stehen! Laufe so schnell du kannst und wo du sie niemals wiedersiehst! Es war überwunden! Noch einmal überwindest du's nicht! Es wird dein und ihr Unglück! Lauf! Lauf! Laß es ein Ende sein! ... Aber blitzschnell, wie er gekommen, war der Moment vorüber. Mein Schicksal hatte die schwarze Karte geworfen. Noch immer stand ich wie festgenagelt, in den langentbehrten, herzbezwingenden, sinnbetörenden Anblick des jugendschönen Geschöpfes verloren, von ihrer weichen, warmen, wollüstigen Nähe wie von Narzissenduft berauscht.

»Versprich nichts, Karola!« sagte ich endlich, mich mit Mühe der Betäubung entwindend. »Versprich nichts! Komm' oder komm' nicht, wie du willst! Aber nur nichts versprechen! Ich könnte es nicht noch einmal ertragen!«

Karola erhob feierlich ihre Stimme und ihre behandschuhte, kleine rechte Hand dazu.

»Sie sollen mich nicht mehr zu kennen brauchen, wenn ich Sie nicht morgen nachmittag besuche! Ich schwör's bei meinem Leben!«

»Wehe dem, der sich um sein Leben schwört!« erwiderte ich halb mechanisch aus irgendeiner mir selbst unbewußten dunkeln Tiefe herauf. Sie sah mich ein wenig betroffen an, wußte nicht, was sie daraus machen solle.

»Sie sagen das so seltsam?« meinte sie. Aber gleich fiel ihr etwas anderes ein. »Lebt denn der alte giftige Kakadu noch? Der war so furchtbar komisch in seiner ausgestopften Wut! ... Gerade so wie Sie, wenn Sie böse waren, weil ich zu spät kam. Und das waren Sie so oft.«

»Weil ich Ursache hatte, du Hexe!« sagte ich lachend und fühlte meine letzte Bitterkeit von der unwiderstehlichen Drolligkeit ihres Tons hinweggeschwemmt. »Aber das Reich des Kakadus ist aus. Ich habe das Stübchen aufgegeben.«

»Wohl, weil ich nicht mehr kam?« lächelte sie und forschte in meinem Gesicht, halb lauernd, halb ihres Triumphs schon bewußt. »Weil Sie's nicht mehr dort aushalten konnten ohne mich?«

»Du! Du!« stieß ich in plötzlicher Wut heraus und preßte wie unsinnig ihre Handknöchel, die ich gepackt hatte.

»Au!« sagte sie.

»Ich erwarte dich bei mir, in meinem eigenen Hause!«

»Ah!« klang es überrascht von ihren Lippen. »So viel Ehre! Also gut! Ich komme bestimmt.«


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