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D..., den 15. März 64.

Die beiliegenden Blätter, die ich meinem Freunde und wohlmeinenden Verteidiger Doktor Märchenschön zur freien Verfügung nach meinem Tode übergebe, sind infolge eines sinnlosen Schicksals bestimmt, unvollendet zu bleiben. Ich weiß nicht, ob es eine wissende und sorgende Vorsehung gibt, und ich für mein Teil glaube es auch nicht, was ich angesichts meines nahen Endes hiermit offen und auf jedes Risiko hin bekenne. Sollte aber wider Erwarten dennoch eine solche höchste und inappellable Instanz irgendwo über den Sternen etabliert sein, so hätte sie allen Grund, der bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen uns mit einiger Unruhe entgegenzusehen, während es hinwiederum an mir sein wird, jener zugleich lenkenden und richtenden Behörde ihr spezifiziertes Konto mit verschiedenen unbeglichen gebliebenen Posten vorzulegen und Bezahlung zu verlangen für lebenslänglich auferlegte Fronden, Spanndienste und qualvolle Opfer an Körper und Seele, an Leib und Leben. Es mag dann auf Heller und Pfennig das gegenseitige Schuldkonto herauszurechnen und Debet und Kredit der beiden Parteien gegeneinander auszugleichen sein, derart, daß das verbleibende Plus dem obsiegenden Teile im Hauptbuch der Ewigkeit mit Flammenschrift gutgebracht wird. Es mag auch im Laufe des hochnotpeinlichen Verfahrens von klägerischer Seite, als welche sich der Unterzeichnete betrachtet, der Prozeßeinwand erhoben werden, wie es denn eigentlich um die Unbefangenheit und Zuständigkeit eines Gerichtshofes bestellt sei, der im Hauptamte mit absoluter Allmacht die Menschenherzen zu lenken beansprucht, gleichzeitig aber das, was er als unverantwortlicher Schöpfer durch seine willenlosen Kreaturen vollbringen läßt, an diesen selben Kreaturen als furchtbarer Rächer bis ins siebente Glied heimsucht?

Mögen also diese Frage und jene Rechnung erhoben und noch so streng durchgeführt werden: der Unterzeichnete sieht im Bewußtsein seiner gerechten Sache dem Ausgang mit voller Sicherheit entgegen, und nichts kann ihm erwünschter sein, als endlich seine Beschwerde vor dem Stuhle der Ewigkeit in Person vorzutragen und dem allwissenden Richter die Anklage gegen den allmächtigen Schöpfer von Angesicht zu Angesicht entgegenzuschleudern.

Aber, wie mein verstorbener Freund, Herr von B., zu äußern pflegte: »Es steht flau mit den Aktien der Unsterblichkeit,« und ich fürchte, meine Generalrechnung an die Vorsehung wird ganz und gar unkassierbar bleiben. So will ich mir denn mit dieser letzten Verwünschung gegen ein sinnloses Schicksal noch einmal Luft gemacht haben, ehe ich für immer den Mund gestopft bekomme.

Ja, ein sinnloses und wahnwitziges Schicksal, unter dessen tückischen Rutenstreichen ich durchs Leben gekeucht bin! Schwächlich und bresthaft, um nicht zu sagen verkrüppelt, auf diese Welt gekommen! An Vater und Mutter und naher Verwandtschaft in frühester Kindheit, beinahe vor allem Wissen verwaist, betrogen um das natürliche Grundkapital jedes höheren Geschöpfes, um Mutterliebe und kindliche Zärtlichkeit, und also von doppelter, dreifacher, hundertfältiger Gier danach zerfressen, gleich dem Blindgebornen, der mit der ungestillten Sehnsucht nach der sagenhaften Schönheit des Lichts durchs Leben geht! Betrogen auch um das stolzeste Erbteil eines großen und kühnen Geschlechts, um Kraft, Mut, Entschlossenheit, die mir – ich fühle es wohl – in tiefster Seele innewohnen und die doch immer wieder – bis auf einen einzigen Fall! – an der lächerlichen Unzulänglichkeit meiner körperlichen Hülle, diesem angeborenen Gebrechen meines jämmerlichen Kadavers haben zuschanden werden müssen! Hinausgestoßen fast vom Mutterleibe an in eine Welt fratzenhaften Hohns, der mir aus den Gesichtern meiner Mitschüler entgegengrinste, niedriger Habsucht, die sich an dem materiellen Überfluß des schutzlosen Knaben zu bereichern suchte, eiskalter Verachtung, die ich aus den Augen heimlich und glühend geliebter Mädchen ablas (mochten auch die Lippen gleißnerisch das Gegenteil beteuern)! Gehetzt, seitdem der Trieb in mir erwacht war, von einer fast unmenschlichen Sinnlichkeit, einer verstiegenen Gier nach dem anderen Geschlecht und doch in phantastischem Überschwang jäh mich überschlagend und nach schneller Erfüllung ewig, ewig unbefriedigt, auch hier wie in allem anderen ein lächerliches Opfer meiner körperlichen Imbezillität! Geboren, nach Abstammung und Anlage, um gleich meinen Vorfahren in das Rad der Zeit einzugreifen und unseren alten Namen mit neuem Glanz zu umkleiden, und doch bar jedes Entschlusses, gelähmt im innersten Mark, verdorben zu jeder Tat, bis auf die eine einzige, die meinem Leben den letzten Schwung und tiefstes hoffnungsloses Verzweifeln gebracht hat!

Solchermaßen also enterbt, ausgestoßen, betrogen, verflucht von einem blinden und planlosen Schicksal, wie dürfte ich diesem Schicksal nicht tausendfach widerfluchen? Oder soll der Reisende, der auf einer Fahrt durchs Gebirge sich von einem betrunkenen Fuhrknecht geplündert und ausgeraubt sieht, diesem vielleicht noch danken, weil er ihn nicht zu guter Letzt noch in den Abgrund gestürzt hat? Und doch wäre das Verhalten eines solchen Fuhrknechts immerhin menschenfreundlich, verglichen mit der wahnwitzigen Bosheit meines Schicksals, das mir zwar in einem Augenblick höchster Gefahr zum Schein das Leben geschenkt hat, mir dafür aber kurz nachher mit einem stumpfen Messer hinterrücks die Kehle durchsägt, so daß ich bei klarem Bewußtsein alle Qualen langsamen Sterbens und Verblutens durchzumachen habe? Denn daß ich von dem Lager, auf dem ich diesen inständigen infernalischen Fluch niederschreibe, nicht mehr aufstehen werde, ist meine felsenfeste, unerschütterliche Überzeugung, so sehr auch meine beiden Ärzte, der eine ein Idiot, der andre ein Betrüger, das Gegenteil behaupten mögen.

Gewiß! Lungenentzündung, deren Ausbruch vorgestern nacht bei mir festgestellt wurde, ist nicht mit Notwendigkeit eine tödliche Krankheit, und Tausende laufen durch die Welt, die sie überstanden haben. Auch fühle ich mich nach der ersten Attacke rasender Brustschmerzen und Seitenstiche, die den Beginn der Krankheit anzeigten, heute bei mäßigem Fieber körperlich noch leidlich frisch und sollte also bis zum endgültigen Spruche des Geschicks diese abschließenden Zeilen vielleicht aufschieben. Aber erstens könnte es bei plötzlich eintretender Verschlimmerung leicht zu spät damit werden, und zweitens bedarf es einer äußeren Bestätigung nicht, da die innerliche Gewißheit nur allzu deutlich spricht.

Von Kindesbeinen an habe ich vor keiner anderen Krankheit Furcht gehabt, als gerade vor der, die jetzt im Mark meines Lebens sitzt, und oft genug bin ich im Traum gerade an dieser Krankheit gestorben. Solche Stimmen scheinen mir aus dem tiefsten Grund unseres Daseins zu klingen und verlangen, daß wir ihnen das Tor der Vernunft weit auftun, wenn wir unserer Bestimmung nicht wie das Kalb der Fleischerbank entgegentaumeln wollen. Was wir für diesen Vorzug unseres Menschtums freilich einzutauschen haben, ist die Qual des zum Tode Verurteilten, der mit Bewußtsein der nahen Vernichtung entgegenblickt. Ich habe – das darf ich sagen – auch diese namenlose Qual, neben all den anderen aus dem Füllhorn des Schicksals, bis zur Neige durchkosten müssen, denn schon wochenlang vor dem Ausbruch der Krankheit bin ich auf ihr Kommen und auf meinen baldigen Tod vorbereitet gewesen, wofür die beiliegenden Blätter Beweis erbringen werden.

Wäre nun, wenn der Vorhang der Zukunft durchaus vor meinen Augen gelüftet werden sollte, dieses noch um einige Monate früher geschehen, so hätte ich die Galgenfrist dazu benützen können, meine Lebensgeschichte vollständig fertigzustellen, wie das nach Plan und Anlage dieser Aufzeichnungen meine Absicht war. So aber hat der mir verbleibende Spielraum nur knapp dazu hingereicht, den zuvörderst begonnenen zweiten Teil, die Geschichte meiner Tat, im Rohbau zu beendigen. Der sie erklärende und begründende erste Teil dagegen, Kindheit, Jugend und frühere Manneszeit, müssen ungeschrieben bleiben, wovon der tiefere ironische Sinn vielleicht der, daß es des zustande gebrachten Geschreibsels gerade genug und für den Skribenten nun an der Zeit, die Feder aus der Hand zu legen, da es ihm auch hierzu wie zu allem anderen am richtigen Talent gemangelt hat.

Bereite dich also zum Sterben, alter Freund! Nach der Prognose deiner beiden Ärzte, des Betrügers und des Idioten, soll die Krisis etwa morgen abend eintreten, worauf baldige Genesung zu erwarten sei. In deine Sprache übersetzt, dürfte das heißen: Du wirst die Sonne des übermorgigen Tages schwerlich mehr zu Gesicht bekommen ... Nun gut! Wenn noch einige Logik in der Welt ist, so hoffe ich, daß die Pferde meines Leichenwagens vor irgendeinem alten Weibe durchgehen und den Sarg mit meinen Gebeinen in den Straßengraben befördern werden. Ich hätte dann wenigstens einem hochansehnlichen Trauergefolge noch einen letzten Spaß bereitet. Denen aber, die mich herauszufischen und auf dem Kirchhof einzuscharren haben, vermache ich in Dankbarkeit ein Faß vom allerfeinsten Fusel und ordne zum Schlusse an, daß auf meinem Grabe Nieswurz und Knoblauch anzupflanzen sind, damit alle ehrsamen Bürgersleute sich die Nasen zuhalten und einen weiten Bogen um meine Ruhestätte beschreiben, denn ich will allein sein ... allein ... ewig allein ...

Geschrieben am Vorabend meines Todes, zugleich des hundertfünfzigsten Geburtstages meines nachstehend mehrfach erwähnten Urgroßvaters, des Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus.


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