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16

Zu Weihnachten mußte Karola auf einige Zeit nach K. Sie hatte vom Direktor des Stadttheaters Urlaub erbeten und auch erhalten, da es noch verschiedene Sachen in K. abzuwickeln gab. Auch wollte sie nach der längeren Trennung wenigstens die Feiertage mit ihrer Mutter verleben, die sich sonst zu einsam fühlen würde. Doch dauerte es bis in die zweite Woche des Januar, ehe sie wiederkam und Grüße von Mutter und Schwestern, unbekannterweise, überbrachte.

Auch ein Gruß vom Konsul Pritzlaff war dabei. Sie hatte ihn flüchtig ein paarmal gesehen. Er schien noch der alte Schwerenöter, soweit man das in der Eile beurteilen konnte. Sie hatte sich nicht viel um ihn gekümmert. Es war genug zu tun gewesen. Wäschestücke sollten ausgebessert, Kleider genäht, Hüte umgeändert werden. Den ganzen Tag und oft bis in die Nacht hinein hatte man gesessen und gearbeitet. War sie nicht damals, im September, Hals über Kopf von K. abgereist, nur um zur Zeit ins Engagement zu kommen, und weil der Konsul Tag für Tag gedrängt hatte, vielleicht auch, um einen gewissen Herrn Ungeduld nicht allzulange schmachten zu lassen? Wie eine richtige Zigeunerin, nur mit dem Allernötigsten in Korb und Reisetasche, war sie in D. eingezogen und hatte ihre liebe Not gehabt, sich dies und jenes, was sie in der Hast zu Hause liegen gelassen, alle die hundert Kleinigkeiten, von Mama nachschicken zu lassen. Mama hatte sie tüchtig deshalb ausgescholten, brieflich vorher und jetzt auch mündlich. Darum hieß es, einmal ganze Arbeit machen und von Grund aus nachholen, was im Herbst versäumt worden war. Man konnte doch auch als angehende Künstlerin, als zukünftiger Opernstern (»Lachen Sie mich nur aus! Ich mach' schon meinen Weg!«) nicht wie die erste beste Laden- oder Nähmamsell dahergezogen kommen.

Nun also! Und da war sie denn wieder, und obgleich sie statt drei Tagen fast drei Wochen ausgeblieben war und mir währenddessen nur zu Neujahr geschrieben, ein paar kurze Zeilen, sonst kein Lebenszeichen gegeben hatte – gedacht hatte sie doch immerfort an mich, oft mehrere Male am Tage, an ihren Herrn Isegrimm, den ewig Gekränkten, dem man doch mal den Brotkorb höher hängen mußte, und jetzt kein Gesicht mehr machen, lieber ein schönes, süßes, zärtliches Wiedersehen feiern, mit einem guten Happen zu essen und einem Gläschen Champagner!

Damit flog sie mir an den Hals, schlang ihre Arme um mich und überließ sich zurückgelehnt und willig dem durstigen Fieber meiner Küsse. So feierten wir an einem bitterkalten Januarnachmittag, hinter den dichtgefrorenen eisglitzernden Scheiben unseres tannenduftenden Hafenstübchens, bei Pfefferkuchen, Marzipan und Champagner ein verspätetes Weihnachten und zugleich das Fest der Wiedervereinigung nach unserer ersten dreiwöchigen Trennung.

Merkwürdig, wie diese Trennung mir eigentlich leichter geworden war, als ich kurz vorher noch befürchtet hatte! Einsame Weihnachtstage! hatte ich mir gesagt. Wie wirst du es aushalten, so ohne die innere Spannung, die dir schon zur Gewohnheit, zum Bedürfnis, zum Triebwerk deiner Lebensuhr geworden ist? Würde es nicht sein, als stünde der Zeiger still und die Stunden starrten mich aus dem toten Zifferblatt mit leeren Augen an? Sehnsucht, Hoffnung, Erwartung, alles fort, was das Leben noch wünschenswert machte! Kein Ziel und Zweck mehr, was man auch täte! Zeit, sich schlafen zu legen!

Aber es scheint ein eigenes Ding mit unseren vorweggenommenen Schmerzen und Freuden. Wir hoffen und fürchten am meisten aus der Ferne. Kommt man näher, so verwandeln sich die grausigsten Gespenster in wehende Handtücher oder unschuldige Bettlaken, und die schönsten Luftschlösser, die sich die Sehnsucht baute, werden in der Wirklichkeit zu Seifenbläschen, die ins Blaue entschweben. Gebieterisch drängt die Natur zum Ausgleich ihres Kontos in Debet und Kredit, und die ganze Bilanz läuft darauf hinaus, daß wir jedes Mehr auf der einen Seite mit einem Abstrich auf der anderen zu bezahlen haben.

Im Taumel der letzten Wochen und Monate waren alle meine Kräfte bis zum Äußersten angespannt gewesen. Nun, als Karola fort war, spürte ich, wie erschöpft ich war, und statt der befürchteten Leere und Öde überkam mich vielmehr ein Gefühl der Erleichterung, einige Zeit in gedankenloser Ruhe, in pflanzenhaftem Müßigsein hinleben zu können. Ich genoß die Stille ringsumher und in meinem Innern geradezu körperlich, wie man ein Riechfläschchen einatmet oder ein Schlafmittel nimmt.

Wie im Traum ging ich durch diese toten, lichtlosen Wintertage, die nur ein kurzes, bleiches Aufdämmern zwischen Nacht und Nacht zu sein schienen, und stundenlang konnte ich auf dem Kanapee liegen und in das graue Nichts starren. Ob ich geschlafen oder gewacht hatte? Ich wußte es nachher kaum. Nur eine schwache Erinnerung bestand, daß einmal etwas gewesen sei, vielleicht wieder einmal etwas sein werde. Aber was? Wie? Warum? Wozu? Ich vermochte es nicht zu entziffern: eine dichtbeschriebene Schiefertafel, über die eine vorschnelle Hand hinweggewischt hatte. Vielleicht war etwas von tiefstem Sinn darauf gestanden. Das Schlüsselwort des Lebens vielleicht. Aber der Sinn war weg, der Schlüssel verloren, und ein blasses Gewirr von Kreidestrichen der Rest. So mochte es den Seelen der Inder zumute sein, die gerade zwischen zwei Existenzen auf Urlaub im Buddha-Jenseits weilten. Ein fernstes Nachklingen des Ehedem, ein leisestes Aufglimmen des Dereinst. Die Stunde des tiefsten Schweigens, lange vor Hahnenschrei. Mitternachtsstille.

Wer weiß, wenn es damals im Buch des Geschicks gestanden hätte, daß Karola aus irgendwelchen Gründen nicht mehr zurückkehren, ich sie nie wiedersehen solle, ob ich in dem halb erinnerungslosen Zustande, der mich gefangen hielt, nicht verhältnismäßig leicht darüber hinweggekommen wäre, wie man im Traum sich eines plötzlichen Seitenstechens oder eines leise nagenden Zahnwehs wohl schwach bewußt wird, aber dann doch mit einem Ruck und fast absichtlich sich auf die andere Seite legt und so das Übel glücklich verschläft.

Der Januar verging, ohne eine Veränderung im Stande der Dinge zu bringen. Unsere Zusammenkünfte im Hafenhäuschen setzten sich fort und meine Stimmung wechselte, wie gewöhnlich, je nachdem Karola mich warten ließ oder nicht, ausblieb oder erschien. Doch war es damals, wie ich mich wohl entsinne, weder im Guten noch im Schlimmen ein Übermaß von Erregung, was ich durchlebte. Etwas von der bleiernen Müdigkeit, der lähmenden Schwere der vorausgegangenen Trennungswochen schien noch in meinem Blute nachzuwirken und meinen Pulsschlag zu verlangsamen.

Das Licht begann erst sacht und unmerklich, dann schneller und fühlbarer zuzunehmen. Noch spielte heller Tagesschein auf dem blinkenden Wasserspiegel, wenn ich durch die Gaffer und Schreier der Hafenbrücke meinem Liebesheim zustrebte, und bei Karolas Kommen pflegte kaum erst die Dämmerung zu sinken. Ein zarter, gleichsam unmeßbarer Schimmer des wachsenden Lichtes verklärte die Nachmittagsstunden auch bedeckter und trüber Tage und ließ eine vage und unbestimmte Hoffnung wie von etwas rätselhaft Schönem und Wunderbarem, das bevorstünde, in das alte Herz einziehen.

So kam Fastnacht heran. An diesem Tage pflegte nach alter Übung ein großer Maskenball im Schützenhause stattzufinden. Ich hatte ihn früher regelmäßig besucht, mich aber seit Jahren ferngehalten. Die Gesellschaft, die da zusammenkam, war eine äußerst gemischte, und ich fand es nicht mehr nach meinem Geschmack, den Wäscherinnen und Plättmamsells, den Nähmädchen, Choristinnen, Konfektioneusen so öffentlich nachzustellen. Bejahrt und würdig, wie ich mir vorkam, wollte ich das meinen jüngeren Standesgenossen überlassen.

Diese stellten sich auch stets in erklecklicher Anzahl ein und gebärdeten sich als Hechte im Karpfenteich, wobei sie gelegentlich an den Unrechten gerieten und sich blutige Köpfe holten. Junge Schreiber, Kommis, Kontoristen, Unteroffiziere und Sergeanten – wenn Schiffe im Hafen lagen, auch Steuerleute und Matrosen – waren die überwiegende Mehrzahl des männlichen Publikums und bildeten einen stillschweigenden Bund gegen die jungen Stutzer und reichen Lebemänner, die nur erschienen waren, um ihnen ihre Mädchen und Bräute wegzuschnappen. Skandalszenen waren nicht selten, gehörten fast zum guten Ton und wurden von Beteiligten und Unbeteiligten als die eigentliche Höhe des Vergnügens begrüßt.

In diesem Jahre hatte ich mich, im Grunde sehr gegen meinen Willen, von Julius Schwarzwald bestimmen lassen, den Fastnachtsball im Schützenhaus wieder mitzumachen.

Wir saßen unser drei in einer der abgeteilten Logen, die sich rechts, links und rückwärts zu ebener Erde und im ersten Stock um den Tanzsaal herumzogen und nur durch niedrige Brüstungen und die notwendigen Saalausgänge, einen auf jeder der drei Seiten, voneinander getrennt waren. Die vierte Seite des Saals nahm die vielbenützte Liebhaberbühne ein, deren Vorhang heute aber niedergelassen war und so den Tanzraum nach vornehin abschloß.

Unsere Loge befand sich im ersten Rang, links, dicht beim Bühnenvorhang, so daß wir das Bild des Saales zu unseren Füßen hatten. Mein Stuhl stand ganz vorne in der Ecke der Loge, hinter der vorspringenden Wandverkleidung. Ich konnte also das Treiben der Tanzenden bequem beobachten, ohne selbst von unten gesehen zu werden.

Neben mir zur Rechten saß Julius Schwarzwald, in seiner gewöhnlichen Haltung, vornübergebeugt, krumm wie ein Fiedelbogen, vor einer Flasche seines geliebten Bordeaux. Die Höhlungen in seinem Gesicht schienen mir tiefer eingegraben, die Backenknochen härter herausgemeißelt als sonst. Eine gelbe faltige Pergamenthaut war darüber gespannt und zeigte scharf umgrenzte dunkelrote Flecke. Der brünette, schon leicht melierte Backen- und Vollbart, der das eingefallene Gesicht umrahmte, vertiefte noch den Eindruck zehrenden und unheilbaren Leidens.

Den Platz mir gegenüber am Tisch, doch so, daß er eigentlich dem Saale zugekehrt saß und halb über die Schulter mit uns sprach, hatte Adalbert Hempel. Ich habe den Namen noch nicht erwähnt, obwohl er zu meiner Tafelrunde im Ratskeller zählte. Jetzt aber darf ich ihn nicht länger übergehen, da er eine zu wichtige Rolle in meinem Drama gespielt hat, wenn auch mehr hinter den Kulissen als davor.

Adalbert Hempel gehörte wie ich zu einer der wenigen, aus besserer Vorzeit noch übriggebliebenen Patrizierfamilien der Stadt und war etwa zweiunddreißig Jahre alt, also ein Stück jünger als ich. Ich hatte den hübschen, schlanken Jungen in nächster Nähe aufwachsen sehen, da seinen Eltern das schöne Barockhaus mit dem breiten stattlichen Beischlag mir schräge gegenüber gehörte. Schien das junge Leben, dessen Werden ich da so dicht vor den Augen hatte, nicht der vollkommene Gegensatz zu meinem eigenen einst? Bei mir eine elternlose, liebeleere, frostige Kindheit. Hier eine gepflegte, weich gebettete, verhätschelte Jugend, überall Licht, Heiterkeit, Liebe, Güte, Vergötterung für den Wohlgeratenen, Auserlesenen, den Liebling von Eltern, Lehrern, Mitschülern, der Götter und der Menschen. Ein Glückskind, begnadet vor allen andern mit höchsten Gaben des Körpers und des Geistes, schien sich da in der Treibhausschwüle des Elternhauses wie eine seltene Tropenpflanze zu entwickeln, während ich armselig und schwächlich, verkümmert von der Wurzel her, dumpf und ungepflegt an kalter Mauerwand emporgekrochen war und als ein Mißwachs der Natur nur Nasenrümpfen und Kopfschütteln erregt hatte. Welch ein Kontrast!

Diesem Muttersöhnchen wurde von den beglückten Eltern, von schmeichelnden Verwandten jeder Wunsch an den Augen, von den Lippen abgelesen und kaum gedacht auch schon erfüllt. Genieblitze umleuchteten den Zwölfjährigen auf der Schulbank. Worte und Aussprüche von ihm zirkulierten im Bekanntenkreis. Vor dem Blondgelockten, über seine Jahre groß Gewachsenen blieben Mütter bewundernd stehen, schielten Töchter verschämt zur Seite, schmachtende Zärtlichkeit in den Augen. Wo er ging und stand, schien eine seltsame Erregung über die Menschen zu kommen. Der Zauber des Wunderbaren und Außergewöhnlichen hielt alle im Banne. Etwas Großes, Einziges, Unerhörtes mußte einmal von diesem schönen, geniehaften Knaben ausgehen.

So die allgemeine Stimme in der Stadt. Nur bei mir selbst sprach etwas im stillen gegen das Wunderkind, und zwar um so bestimmter, je lauter das Lobpreisen der andern klang und je verborgener das eigene Gefühl bleiben mußte, um nicht in den Verdacht des Neides zu geraten, und weil es eben nur ein Gefühl und gänzlich beweislos war.

Eines Tages jedoch fand sich zu dem Gefühl auch etwas wie ein Beweis, und so geringfügig er sein mochte, für mich genügte er, das ganze Bild zu verdunkeln und mir vor mir selber unbedingt Recht zu geben.

Es war zu Ende meiner Schulzeit. Ich stand hinter den Fenstergardinen meiner Oberstube und sah auf die Gasse hinunter, die in verschlafener Nachmittagsstimmung dalag. Keine Menschenseele straßauf, straßab. Nur schräg gegenüber auf dem Beischlag des Hempelschen Hauses schlägt der blonde, etwa dreizehnjährige Adalbert Ball. Neben ihm rollt sich Cäsar, ein blutjunger, tolpatschiger Neufundländer, auf den Steinfliesen des Beischlags. Plötzlich prallt der Ball an irgendeiner Mauerkante ab, überspringt den vergebens ihm nachhaschenden Jungen und fliegt zwischen die ausgestreckten Tatzen Cäsars. Ihn im Nu erschnappen, und, den Ball im aufgerissenen, geifernden Maul, auf die Straße hinuntersetzen, ist für Cäsar eins. Ein paar tolle Sprünge, ein wiederholtes Schnappen der mächtigen Kiefern, ein Würgen, Sabbern, Geifern, und Cäsars Schlund entwindet sich eine jämmerliche, formlose, breiige Gummimasse, die einem Ball so ähnlich sieht wie ein Waschlappen einem Glacéhandschuh.

Ich lache und denke mir: Jetzt zeige, wes Geistes Kind du bist, Junge! Der steht einen Augenblick wie vor den Kopf geschlagen. Das mir?! Mir?! scheint seine Haltung zu sagen. Aber plötzlich kommt Leben in das Bild. Die scheinbar so edlen Züge verzerren sich in einer jähen, blinden, unsinnigen, bestialischen Wut, und während Cäsar sich noch die Pfoten leckt und mit großen, treuen, unschuldigen Hundeaugen sein Werk betrachtet, stürzt sich der verrückt gewordene Lümmel die Treppe des Beischlags hinunter auf das nichtsahnende Hundevieh und traktiert es wie ein Rasender mit Ellbogen, Fäusten, Knien und Absätzen, daß das arme Tier winselnd liegen bleibt.

Hätte ich in diesem Augenblick eine Flinte zur Hand gehabt, ich hätte den Bengel niedergeknallt. Ich reiße die Fenster auf und schreie ihm ein paar Worte zu. Er scheint in seiner Besessenheit zuerst nichts zu hören, sieht schließlich auf und um sich, erblickt mich oben am Fenster, bleibt einen Moment ganz verdutzt stehen und macht mir dann – nie werde ich den Ausdruck ertappten Verbrechertums vergessen – macht mir mit aufgerissenem Maul und lang herausgestreckter Zunge eine Grimasse so voll Hohn, so voll Wut, so voll Gift und unbeschreiblicher Bosheit, daß ich mir nicht helfen kann, laut auflache und das Fenster zuschlage.

Nie ist von dieser kurzen, fast nur mimischen Szene zwischen uns die Rede gewesen, weder gleich nachher, noch jemals später. Ich habe auch keinem anderen Menschen davon erzählt, und bringe sie hier sozusagen jungfräulich zu Papier. Es hat mir genügt, meinen Triumph rein für mich, in der Stille meines Innern, dafür um so nachdrücklicher, zu genießen. Meinen Triumph! Ich kann es nicht anders nennen! Denn nun wußte ich ja, daß hinter dem blendenden Äußern, das alle Welt bestach, eine ordinäre, brutale Fuhrknechtsseele steckte, die heute sich noch an Tieren vergriff, morgen aber sich auch an den Menschen gar herrlich offenbaren würde. Wie sie dann ihre Köpfe schütteln würden, daß aus dem entzückenden, talentvollen Jungen von einst so ein gemeiner Hohlkopf, Raufbold und Mädchenjäger geworden sei! Wie sie die Köpfe schütteln würden! ... Das war mein geheimer Triumph schon jetzt, den ich vorkostend genoß: Ich ... ich hatte es kommen sehen! Ich hatte diese junge Seele im unbewachten Moment mit der Blendlaterne überrascht und den Befund in aller Stille zu Protokoll genommen, ohne daß ein Dritter davon erfahren. Nur wir beide hatten es gewußt, ich selbst und der andere, so viel jüngere, von dem mir doch – ich weiß nicht warum – eine dunkle Ahnung sagte, daß er mir einmal auf meinem Wege begegnen, vielleicht ihn durchkreuzen werde, und daß ich ihn schon jetzt darum hassen und mich stark gegen ihn machen müsse.

Seltsam das! Und merkwürdig, daß auch er, der Dreizehnjährige, gegen mich, den Neunzehnjährigen, den er freilich täglich vor Augen hatte, ein ganz ähnliches Gefühl der Abneigung zu tragen schien, das sich nach jener Szene noch verstärkte, vertiefte und aus der anfänglichen bloßen Verachtung, wie sie der Schönere gegen den Häßlichen hegt, sich nun in den stillen ohnmächtigen Haß des Ertappten gegen den Mitwisser seiner Heimlichkeit verwandelte.

So standen die Dinge, als ich D. verließ und die Universität bezog. Nach drei Jahren, da ich wiederkehrte, war alles anders geworden und meine einstige Prophezeiung auf dem besten Wege, sich zu erfüllen. Kein Mensch sprach mehr von Adalbert Hempel als dem Wunderkind und Zukunftsgenie. Einer wie viele! hieß es. Durchschnittsbegabung. Dutzendtalent. Wieso das gekommen? Schwierige Frage! Die Flegeljahre vielleicht. Die Pubertät. Irgend etwas derart. Man hatte sich eben getäuscht. Hatte auf das große Los gesetzt und eine Niete gezogen. Der Lauf der Welt.

Auch das Äußere des Sechzehnjährigen erschien wie umgewandelt. Die blonden Locken waren gefallen. Das Haar, stark nachgedunkelt, ins Bräunliche hinüber, wuchs buschig in die Stirn hinein. Der Ton der Haut hatte etwas Bronzenes bekommen. Zwei kleine, funkelnde Augen stachen aus dem breit und massiv gewordenen, aufgedunsenen Gesicht, dem die starke, römische Nase etwas Herrisches gab. Die kräftigen Kaumuskeln verrieten brutale Lebensgier, das vorgebaute, fleischige Kinn einen unbekümmerten, vielleicht gefährlichen Willen zur Tat. Nichts mehr erinnerte an das blonde Götzenbild, das alle Herzen bezaubert hatte. Ein fertiges Raubtier stand da, wie ich es einst vorausgesehen hatte. Die Frage nur, in welches Revier seine Instinkte es treiben würden.

Man sollte es bald erfahren. Ein Dienstmädchen bei Konsul Hempels hatte ein Kind geboren. Vater der siebzehnjährige Sohn des Hauses. Das Mädchen wurde abgefunden, der Fall vertuscht.

Wenige Monate später ertappte bei einem Revisionsgange ein Oberlehrer des Gymnasiums einen seiner Sekundaner im halbverdunkelten Salon eines verrufenen Hauses unweit der Stadtmauer. Der Sekundaner Adalbert Hempel. Die Sache stand schlimm. Aber da der Revisionsgang des Oberlehrers auf Zweifel stieß und ungeklärt blieb, drückte man ein Auge zu und der Übeltäter kam mit einer Karzerstrafe davon. Noch eine Weile nachher sprach man in der Stadt von nichts anderem als von den nächtlichen Bemühungen des Oberlehrers zur Hebung der Sittlichkeit, wobei, wie festgestellt werden muß, die Sympathien nur zu geringerem Teile auf seiner Seite standen.

Wieder ein Jahr später passierte weit draußen in einem schmutzigen Vorstadtquartier eine Geschichte, bei der nun allerdings der allzu oft zu Brunnen gegangene Krug zerbrach. Fünf oder sechs junge Mädchen, alle aus guten Familien, ein paar noch der Töchterschule angehörig, hatten mit einigen Primanern und sogar zwei Kommis, was als erschwerend galt, Orgien gefeiert, über die man nachher die tollsten Einzelheiten zu hören bekam. Ein verschmähter Liebhaber, wie es hieß, hatte den Denunzianten gespielt. Die Polizei war erschienen und hatte das Nest im schönsten Augenblick ausgehoben. Rädelsführer und Haupt der Bande Adalbert Hempel.

Der Skandal in der Stadt war ungeheuer. Allenthalben ein Schrei der Empörung. Nun hatte man es längst gewußt und dem verkommenen Burschen von Anfang an ein böses Ende vorausgesagt. Und sogar dem inzwischen in die hinterste Provinz versetzten Oberlehrer ward nachträgliche Genugtuung zuteil: hätte man nur damals Ernst gemacht und das Unkraut beizeiten ausgejätet, anstatt jetzt die Schande für unsere Stadt zu erleben!

Das Maß war voll. Adalbert Hempel wurde vom Gymnasium gejagt, ein Jahr vor dem Abiturientenexamen, und verschwand vom Schauplatz, während seine Mutter gebrochenen Herzens starb. Beim Leichenbegängnis der armen Frau gaben sich die Teilnahme für die schwergeprüfte Familie und der Abscheu gegen den Taugenichts offen und rückhaltlos kund.

Jahrelang hörte man nichts von dem Verbannten, als daß er in einer großen Getreidefirma auswärts Dienst tue und ein tüchtiger Kaufmann geworden, im übrigen aber noch der gleiche Schürzenjäger sei. Näheres war nicht zu erfahren. Über die alten Geschichten begann Gras zu wachsen. Als beim Tode des Vaters der Fünfundzwanzigjährige in die Heimat zurückkehrte, wußte eigentlich niemand mehr so recht Bescheid, und eine Gloriole des Geheimnisses und der Romantik umwob den Fremdgewordenen.

Jahre waren seitdem verflossen. Adalbert Hempel hatte das Schifflein der väterlichen Firma, das schon unter dem alten Herrn bedenklich geschwankt hatte, bisher noch mit leidlichem Glück durch sehr drohende Klippen gesteuert. Nicht ohne Kopfschütteln hörte man von den riskanten Getreidespekulationen des waghalsigen Draufgängers. Noch mehr wurden bald seine unzähligen Liebschaften und Abenteuer besprochen, die wie die Glieder einer endlosen Kette ineinanderzugreifen schienen. Also hatte die Fama, die ihm vorausgegangen war, doch in allen Punkten recht gehabt, und die alte Erfahrung bestätigte sich wieder, daß wir alle den Weg, der uns durch den dunkeln Strom unseres Blutes vorgezeichnet ist, unabänderlich bis zu Ende gehen müssen, ganz gleich, ob er ins Verderben führt oder nicht.

Was half es, daß Adalbert Hempel schon auf der Schule für seine angeborene Zügellosigkeit und Libertinage zu büßen gehabt hatte! Jetzt, da er Herr über sich selbst und Mann geworden, zwang ihn der unwiderstehliche Trieb seiner Natur immer weiter auf der einmal betretenen Bahn und ließ ihn allen Gesetzen bürgerlicher Moral offen Hohn sprechen.

In seinem schönen Barockhause mit dem monumentalen Beischlag mir schräg gegenüber ging es wie in einem Taubenschlag zu. Mädchen wurden bei hellichtem Tage ein und aus gelassen, oft zu zweien oder dreien gleichzeitig. Kutschwagen hielten und brachten lebendige Fracht, die unter Hallo und Gelächter hinter dem messingbeschlagenen Haustor verschwand. Oder es waren Hempel und seine Kumpane selbst, die gestiefelt und gespornt den Wagen bestiegen und auf der Suche in die Vorstädte und nahegelegenen Dörfer fuhren. Dann klirrte das Pflaster unter tanzenden Pferdehufen, Peitschenknall schwirrte, und die ganze Straße kam in Aufruhr, während kopfschüttelnde Väter, entsetzte Mütter und neugierige Töchter hinter verschwiegenen Fenstergardinen den Spektakel belauschten.

Meist war es minderwertiges Material, was der unersättlichen Gier des Lüstlings zum Opfer fiel, junge Dienstmädchen, Plätterinnen, Nähmädchen, und, wenn es hoch kam, Ladenmamsells, die zum Tanzboden hinausgepilgert waren und dort von ihm und seinen Spießgesellen aufgegriffen wurden – daher es denn des Sonntags am lebhaftesten in dem Hause mir gegenüber zuging, während die Wochentage ruhiger verliefen.

Übrigens munkelte man auch von beträchtlicheren Triumphen Hempels, die über Sängerinnen und Schauspielerinnen des Stadttheaters, Zirkusdamen, bessere Bürgermädchen und verheiratete Frauen erfochten sein sollten, und ganz im geheimen ging ein Gerücht, daß er sogar von unreifem, grünem Obst, von Dreizehn- und Vierzehnjährigen, seine Hände nicht lassen könne. Doch mußte dies wohl so im Verborgenen geschehen – falls es überhaupt geschah, was im Augenblick dahingestellt sei –, daß es eben bei dem Geflüster blieb und sich kein Anlaß zum Einschreiten von Amts wegen bot, so populär dies auch allenthalben gewesen wäre.

In den Winterkränzchen, beim lodernden Holzstoß des heimischen Herdes, oder zur Sommerszeit, draußen auf Zeidlershöhe, klirrten die Stricknadeln noch einmal so blutgierig und flogen die Blicke doppelt so giftig über die Kaffeetassen, wenn die Rede auf Adalbert Hempel kam. Wehe dem, von dem Ärgernis ausging, zitierten die Frommen mit beflissenem Augenaufschlag, und niemals – darüber herrschte nur eine Stimme – hätten Eltern, die es mit Pflicht und Gewissen ernst nahmen, ihre unschuldige Tochter einem so verkommenen Menschen etwa zur Frau geben dürfen, wenn auch auf der anderen Seite sich nicht verkennen ließ, daß dies vielleicht noch das letzte Mittel gewesen wäre, den Don Juan auf den Pfad der Besserung zu bringen und einen anständigen Menschen aus ihm zu machen.

Auch diese Hoffnung schwand, als eines Tages ganz unversehens Adalbert Hempel seine zwanzigjährige Wirtschafterin heiratete, ein unscheinbares, verschüchtertes Ding, mit dem er, wie sich nun klärlich ergab, ebenfalls seit langem in Beziehung gestanden hatte. Das war zu viel. Der Kessel der öffentlichen Meinung kochte geräuschvoll über. Für ein solches Verhalten eines stadtkundigen Wüstlings gab es keine Beschönigung mehr. Die Akten wurden geschlossen und der Delinquent an allen Familientischen, in sämtlichen Kaffeekränzchen feierlich in effigie gehenkt, gevierteilt und verbrannt.

Wie ich damals gelacht und mir die Hände gerieben habe über den wohlgelungenen Spaß, den sich das Leben mit so vielen würdigen Männern und Frauen ringsherum erlaubt hatte! Das war nun der einst so vergötterte Liebling! Der Stolz der Stadt! Jetzt hatte er sein Dienstmädchen, seine Konkubine geheiratet! Welch ein Wackeln des Kopfes das gab! Das hatte keiner von all den Menschenkennern vorausgeahnt! Keiner von ihnen allen hatte das kommen sehen! Und ich lachte, lachte, lachte in meinen stillen vier Wänden, angesichts des stolz abweisenden Barockhauses mir gegenüber, in dem nun die Dienstmagd als Erbin so vieler steifleinener, hochnäsiger Patrizierfrauen hauste! Lachte über den Weltlauf, bis mir die Tränen kamen!

Aber nicht genug mit dem allen. Adalbert Hempel fuhr – nach einer Anstandspause von wenigen Wochen – in seinem Wandel und seinen Gewohnheiten fort, als sei nicht das mindeste in seinem Lebensstand verändert und das Wort am Altar und der Ring am Finger seien nichts als Luft für ihn. Bald stellte sich auch heraus, daß der Schritt nur wegen zu erwartender Vaterfreuden erfolgt und die junge Frau im übrigen das geblieben war, was sie als Mädchen gewesen, die Wirtschafterin und Dienerin ihres Herrn und Gebieters.

Nur ein einziges Zugeständnis hatte er gemacht: Der Schauplatz seiner Abenteuer wurde vom Ehesitz weg in sein Geschäftskontor verlegt. Hier empfing er zu bestimmten Abendstunden die wechselnde Schar bereits bekannter und besessener Mädchen, etwa wie der Arzt seine Sprechstunde abhält, ließ sich von Schwestern und Freundinnen wiederum deren noch unbekannte Freundinnen, Kusinen, Schwestern zuführen und vermehrte in stiller, emsiger Arbeit seinen Kundinnenkreis, also daß es ihm wie einem Pascha, der mit den tüchtigsten Händlern in Beziehung steht, nie an junger, frischer Ware für seinen Harem gebrach.

Dazu wollte es die Laune des Geschicks, daß er gerade um diese Zeit bei seinen Getreidespekulationen besonders vom Glück begünstigt wurde und in russischem Weizen über Nacht bedeutende Gewinne machte, die das etwas unsichere Fundament seines Hauses neu befestigen halfen.

In der Stadt hatte man sich wohl oder übel mit ihm abgefunden. Aus den Berechnungen streitbarer Mütter mit mannbaren Töchtern war er durch seine unqualifizierbare Ehe ohnedies ausgeschieden. Jetzt schien das Glück selbst auf seine Seite getreten. Der Erfolg hatte für ihn entschieden. Nun gut! Man konnte ihn nicht hindern, sich auf seine Art auszuleben. Aber man wollte wenigstens gesellschaftlich nichts mit ihm zu tun haben. Die Türen aller besseren Häuser blieben ihm und seiner Frau verschlossen. Für die Familien war er in Acht und Bann. Nur die Männer kamen geschäftlich mit ihm zusammen, des Mittags auf der Börse, oder wenn das Geschäft es verlangte – manchmal auch ohne das – im abgeschlossenen, dämmerigen Weinkontor, wohin das Auge der gestrengen Ehegattin nicht reichte.

Hier gingen schlüpfrige Bücher aus seiner vielhundertbändigen Sammlung von Hand zu Hand, Nuditäten in allen Positionen wurden unter dem Tisch herumgezeigt und mit sachverständigem Schmunzeln begutachtet, und Zötchen und Anekdötchen von unzweideutiger Art machten das Behagen der wiehernden Kennerschaft vollständig. Adressen wurden notiert und ausgetauscht, weibliche Reize bis ins geheimste zerlegt, geprüft und abgeschätzt, genossene Freuden mit allen Einzelheiten und voller Namensnennung zum besten gegeben. Hinter verschlossenen Türen, in gutbürgerlicher Heimlichkeit und Stille, vollzog sich da eine wohlorganisierte Liebesbörse, von der manch untadliger Familienvater und gottgefällig einherwandelnder Würdenträger hinter dem Rücken der ahnungslosen Eheliebsten zu profitieren wußte.

Damals war ich mit Adalbert Hempel in nähere Verbindung getreten. Junggeselle, wie ich war, hatte ich ihm, der wenigstens als Junggeselle lebte, in dem engen Kreise, der unsere gemeinsame Welt umschloß, nicht dauernd aus dem Wege gehen können. Zudem bekenne ich offen, daß auch mich – und mich schließlich mit besserem Rechte als die Ehemänner unserer Tafelrunde – die bequeme Gelegenheit jenes Liebesmarktes in die Gesellschaft lockte. Alles in allem ist es ja eine Assoziierung mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit geblieben, wenn ich mich auch zuweilen nicht gescheut habe, die Konjunktur wahrzunehmen und das eine oder andere der ausgebotenen Mädchen mit Beschlag zu belegen. Immer war es doch ein tiefes, abgründiges, wie angeborenes Mißtrauen, was zwischen mir und Hempel stand und unsere Beziehungen durchfröstelte. Fremd und beobachtend saßen wir uns selbst in den Stunden fröhlicher Weinlaune gegenüber. Alte Feindschaft war es, was er in meinen Augen lesen mochte, und höhnische Überlegenheit antwortete mir aus den seinen, in deren unruhigem Flackern mir noch immer die Erinnerung an jene ferne, stumme Hundeszene zu leben schien.

Dies alles aber ging nur im stillen vor sich. Sprachen wir, so lag es wie ein glattes, höchst verbindliches Lächeln über unseren Worten, und je stärker die innere Reibung war, desto liebenswürdiger und gefälliger gaben sich die Formen des äußeren Verkehrs.

In den letzten Monaten waren wir seltener zusammengekommen. Ich hatte mein geheimes zweites Dasein mit Karola gelebt, hatte im Ratskellerstübchen still vor meinem Glase gesessen und mich dem Austauschverkehr der Mädchenbörse ferngehalten. Adalbert Hempel seinerseits hatte sein gefährliches Börsenspiel mit Getreide und Weibern fortgesetzt und es gerade in letzter Zeit wieder so arg getrieben, daß sich eine neue Welle der Empörung in der Stadt gegen ihn erhoben hatte. Das »Dampfboot«, eines unserer drei Zeitungsblätter, hatte in einem Eingesandt von der zunehmenden Ruchlosigkeit gewisser berufsmäßiger Wüstlinge und Sonntagsschänder gesprochen, deren gemeingefährlichem und geradezu verbrecherischem Gebaren endlich ein Ziel gesetzt werden müsse. Der Artikel machte die Runde am Ratskellertisch und wurde eifrig debattiert, auch die Frage nach dem unbekannten Verfasser war aufgeworfen worden, ohne eine Lösung zu finden. Adalbert Hempel hatte mit seinem ironischen und dünkelhaften Lächeln dabei gesessen, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an.

Und was würde das Ende von alledem sein? fragte ich mich, als ich mir so das Leben des Mannes, der da über die Logenbrüstung lehnte, durch den Kopf hatte gehen lassen. Was würde das Ende vom Liede sein?

»Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen?« fragte in diesem Augenblick Julius Schwarzwald über sein halbvolles Rotweinglas weg und blinzelte Adalbert Hempel an, der immer noch in abgekehrter Haltung, mit aufgestütztem Kopf, das Tanzgewühl unten im Saal durchmusterte.

»Wie ein Piratenhäuptling oben auf dem Ausguck!« fuhr Schwarzwald sich selbst beantwortend fort. »Was für eine besondere Prise haben Sie denn wieder in Sicht? Welchem reizenden Holdchen soll heute das Schnupftuch geworfen werden?« Er hüstelte etwas und lachte in sich hinein. Es klang rauh und krächzend, wie wenn die Töne über ein Reibeisen gingen. Dann wandte er sich an mich.

»Man sollte wirklich versuchen, ihm mal so ein Dingelchen abzujagen. Für reifere Herren mit halber Lunge und einem gesegneten Auswurf heißt es nur leider ›Hände von so etwas weg!‹ Aber du, mein Kerlchen, hast du nicht Lust, ihm ein bißchen ins Handwerk zu pfuschen?«

Ich zuckte mit den Achseln und schwieg. Aus irgendeinem Grunde, ich wußte selbst nicht recht warum, war mir das Thema peinlich. Schwarzwald sog in kleinen kostenden Schlucken, wie es seine Art war, an seinem halbvollen Bordeauxglase und ließ Tropfen für Tropfen über die Zunge rollen. Hempel machte eine halbe Wendung zu uns. Wieder lag auf seinen Zügen das unerträglich gespreizte und selbstgewisse Lächeln, um dessentwillen ich ihm hätte ins Gesicht schlagen mögen! Eben öffnete er den Mund, als die Militärkapelle, die sich eine Zeitlang verschnauft hatte, mit einem schmetternden Galopp wieder einsetzte und seine Worte verschlang. Die Paare unten fegten durch den Saal. Dumpfes, rhythmisches Füßestampfen mischte sich mit dem quiekenden, näselnden, durchdringenden Schnedderengdeng der Hörner und Trompeten. Eine Wolke von Staub, Schweiß, Tabaksqualm dampfte aus dem Gewühl ineinander geknäuelter und verstrickter Leiber zu unserem Logensitz herauf und legte sich zwischen uns und die Tanzenden.

Opferrauch, der aus den Tiefen der Staubgeborenen zum Hochsitz thronender Götter steigt! dachte ich mir und sah mit einem sonderbaren Gefühl entrückter Erdenferne auf das heiße, bunte, quirlende Maskengewimmel hinab. Was war es denn noch, das uns hier oben gemein war mit denen da unten? Herdenvieh stampfte, blökte, gröhlte in blindem Taumel durcheinander und wußte nicht, von wannen es kam, noch wohin es ging, nur daß die Stunde dazu da sei, zu taumeln, zu rasen und solche wie sie selbst zu erzeugen, die einst wiederum ihre kurze Stunde des Rausches erleben und abermals ihresgleichen in die Welt setzen würden, unbewußt ihres Woher und Wohin. Ein kribbelnder, krabbelnder, dunkler Knäuel von Namenlosen, eingehüllt in einen wallenden Mantel von Dampf, Schweiß, Stank, und fortgerissen alle miteinander von unbegreiflich sinnlosen Gesetzen, dem Abgrund der Vergessenheit entgegen ...

Die Trompeten setzten mit einem kreischenden, zerrissenen Akkord ab, die Hörner und Posaunen hörten auf zu brummen. Eine augenblickliche, gleichsam körperlich hörbare Stille trat ein.

»Also jetzt beichten Sie mal, Hempel!« begann Schwarzwald wieder und räusperte sich von neuem. »Nach wem gucken Sie sich da den ganzen Abend die Augen aus? Und das Herzchen will scheinbar nicht kommen. Ei, ei, passiert das Ihnen sogar? Als Toggenburg sind Sie mir neu. Man wird alt wie 'ne Kuh und lernt immer noch zu, pflegte meine selige Mutter zu sagen.«

Schwarzwald lachte wieder in seiner kratzigen Art vor sich hin und hustete ein weniges dazu.

Hempel machte eine ungeduldige Bewegung und schlug mit der flachen Hand auf das Holz der Logenbrüstung.

»Hol' der Teufel die Warterei! Die Kleine scheint's zu verstehen. Ich hätte schwören mögen, daß sie auf meinen Brief hin kommt. Schade um das schöne Bukett!«

Schwarzwald nickte anerkennend und strich sich mit seinen wächsernen Fingern den Bart.

»Mit Buketts fahren Sie auf? So schweres Geschütz? Also was Besseres offenbar? Ein befestigter Platz sozusagen? Keine einfache, offene Landstadt, die man im Sturm einnimmt? Aber wie verirrt sich das auf den Schützenhausball? Renommieren Sie auch nicht, mein Bester? Was meinst du dazu, mein Junge?«

Schwarzwald hatte die letzten Worte an mich gerichtet und dabei das linke Auge schalkhaft zwinkernd zugekniffen. Ich sah wieder das hochmütige, herausfordernde Lächeln in Hempels Gesicht und fühlte den Drang, es ihm heimzuzahlen.

»Schon möglich!« warf ich sehr kühl und gleichgültig hin. »Es wird ja auf keinem Gebiet so viel aufgeschnitten wie in puncto Liebe und Weiber. Aus irgendeinem kleinen unbedeutenden Dings von Stubenmädchen, das seinen Besen führt ...«

»Die Hand, die Samstags ihren Besen führt ...« schaltete Schwarzwald ein, der als ein belesener Mann mit seinem Goethe Bescheid wußte.

»Also aus etwas ganz Alltäglichem und Nichtssagendem, das jeder Fleischergeselle und Hausknecht ebenso haben kann,« fuhr ich fort, »wird eine große Geschichte, eine gewaltige Eroberung, etwas höchst Abenteuerliches, ein ganzer Roman gemacht, und auf einmal steht man vor Stadt und Land als ein fürchterlicher Weiberheld, als der größte Don Juan des Zeitalters da.«

»Soll das auf mich gemünzt sein?« fragte Hempel, halb über die Schulter herüber.

»Nicht im geringsten!« erwiderte ich mit einem höchst verbindlichen Lächeln. »Ich wüßte nicht, wieso? Ihre Triumphe in puncto Veneris sind ja stadtbekannt. Sogar die Blätter bestätigen es Ihnen. Hier im ›Dampfboot‹ steht es ja schwarz auf weiß.«

Ich hatte das Zeitungsblatt, das ich zufällig bei mir trug, aus der Tasche gezogen und deutete auf die rotangekreuzte Stelle.

Hempel lächelte wieder von oben herunter.

»Kennen Sie vielleicht den Verfasser?«

»Ich? Warum?«

»Ich möchte ihm einen Dankbrief schicken, Verehrtester. Er hat mich ins schönste Licht gestellt. Die kleinen Mäuschen werden jetzt erst recht Lust haben, anzubeißen.«

»Bravo! Gratuliere!«

Ich sagte es mit lächelndem Munde, wie er, und unsere Blicke tauchten ineinander. Aber zwischen dem Lächeln hier und dort stieg schattenhaft, gespenstisch, wie Bankos Geist, nur ihm und mir und keinem Dritten sichtbar, die Erinnerung an jene Hundeszene am Beischlag auf. Ich sah, wie die Augen mir gegenüber starr, eisig wurden. Feindschaft bis zum Tode! las ich darin, und Feindschaft bis zum Tode! gaben ihm die meinen zurück.

Schwarzwald hatte während unserer stummen Kriegserklärung in sich versunken dagesessen, die müden Blicke unter den schweren Augendeckeln ins Leere gerichtet, als sei sein Geist bereits auf der Rekognoszierung in außerirdischen Bezirken begriffen. Jetzt schien ihn unser Schweigen wieder zu sich selbst zurückzurufen. Er fuhr sich wie erwachend mit der abgezehrten Hand über die scheckigen Backen und streichelte den leblosen, kränklichen Vollbart. Sein Ton klang in einer gemachten, absichtlichen Heiterkeit.

»Also, um auf die Dame mit dem Bukett zurückzukommen, die unseren schönen Adalbert so schnöde im Stich läßt, wie heißt sie? Wo konditioniert sie? Name, Alter, Stand, Wohnort? Sonstige zweckdienliche Angaben und Referenzen?«

»Der Name tut vorläufig nichts zur Sache,« erwiderte Hempel, wieder mit seinem vielsagenden, impertinenten Lächeln. »Alter achtzehn Jahre.«

»Achtzehn Jahre!« wiederholte Schwarzwald und pfiff schrill durch die Zähne. »Wer noch einmal achtzehn wäre! ... Und weiter im Text?«

»Wohnort natürlich hier. Das heißt, noch nicht lange. Erst seit dem Herbst.«

»Stand? Beschäftigung? Russische Fürstin? Polnische Gräfin? Einfaches Von?«

Schwarzwald blinzelte wieder in seiner schalkhaften Art und hustete mit leiser Anzüglichkeit.

»Diesmal nicht!« entgegnete Hempel mit unbeirrtem Lächeln. »Aber beim Theater.«

Eine schnelle heiße Blutwelle schoß mir von Kopf zu Fuß. Ich fühlte mein Herz ein paar Schläge lang heftig gegen die Rippen pochen. Mir war, als müsse man es hören, müsse mir mein mühsames Atemholen anmerken können. Ich zog das Taschentuch und wischte mir über die Stirn ... Ein paar Sekunden, und es war vorüber. Niemand hatte etwas bemerkt.

»Aha, beim Theater!« bestätigte Schwarzwald und nickte beifällig. »Doch mal was anderes! ... Dem Bukett nach rate ich auf die Primadonna.«

»Oder die Primadonna a. D., die Pellerini!« warf ich mit gespielter Harmlosigkeit ein, hinter der sich lauernde Ironie und giftiger Hohn versteckten. Ich hatte meine äußere Haltung vollständig wieder. Mein Herz ging in raschen, aber unhörbaren Schlägen. Alle meine Nerven waren wie in einem Punkt gesammelt. Gleichsam eine Mobilmachung meiner gesamten inneren Reserven, meines ganzen Menschen gegen den Feind mir gegenüber, dem ich sein Geheimnis ablisten, von dem ich Gewißheit haben mußte. Gewißheit! Brauchte ich noch Gewißheit? Hatte ich sie nicht schon? Stimmten die Andeutungen und halben Worte des unerträglich lächelnden Burschen nicht Zug um Zug auf Karola? Konnte es noch Zweifel geben? Und doch! Das Leben schlüpft in tausend und aber tausend Masken. Eine Tücke des Zufalls konnte mich äffen. Ich mußte Gewißheit haben!

Hempel hatte mir von der Seite einen erstaunten, etwas mißtrauischen Blick zugeworfen.

»Die Pellerini?« meinte er. »Wie kommen Sie auf die?«

»Ich denke, Sie sind befreundet mit ihr?« erwiderte ich unbefangen, indem ich mich an eine frühere Andeutung Hempels erinnerte.

Er schüttelte verwundert den Kopf und kratzte sich hinter den Ohren.

»Habe ich Ihnen das gesagt?«

»Aber gewiß! Erst neulich.«

»Dann wird es wohl stimmen. Nämlich sonderbar ... Sie steht nämlich wirklich mit der Kleinen in Verbindung.«

»Mit welcher Kleinen?« fragte ich möglichst unschuldig und dann mit der Miene plötzlichen Begreifens. »Ah so, die Kleine, die Sie erwarten? Also nicht die Pellerini selbst?«

»Wenn ich Antiquitäten suche, gehe ich zu Meseritzer und nicht auf den Ball,« sagte Hempel mit hochmütigem Achselzucken und warf einen neuen Blick in den Saal hinunter, wo die Paare sich soeben zum Kontertanz ordneten. »Übrigens immer noch den Teufel im Leibe, die Pellerini!« setzte er nach einem Augenblick hinzu. »Trotz ihrer vierzig Jahre. Rasse hat die Kanaille!«

»Ein Weib wie auserlesen zum Kuppler- und Zigeunerwesen,« zitierte Schwarzwald mit ruhiger Beschaulichkeit. Es klang dumpf wie aus Kellertiefen herauf.

»Die geborene Kuppelmama, die im Notfall auch selber noch anbeißt!« fuhr Hempel meditierend fort. »Mit ihrem Schnurrbärtchen! ... Na, warum nicht? Wer sich für Hautgout begeistert. Halten Sie sich dran, mein Verehrtester!«

Die letzten Worte waren ostentativ an mich gerichtet. Ich zwang mir ein Lächeln ab und verbeugte mich.

»Sehr freundlich! Aber das überlasse ich Ihnen.«

»Danke! Das haben wir nicht nötig. Es wächst ja junges Gemüse genug.«

Er trällerte ein paar Töne vor sich hin und wandte sich wieder der Betrachtung der Tanzenden zu, die jetzt in Reih' und Glied einander gegenüberstanden. Ich hätte ihn in diesem Augenblick ohrfeigen oder mit einem Fußtritt in den Saal hinunterwerfen mögen. Aber ich hielt an mich und blieb ruhig.

»Wirklich erst achtzehn Jahre alt, Ihre neue Eroberung?« lächelte ich. »Und beim Theater? Und Schülerin der Pellerini? Ei! Ei! Erzählen Sie doch.«

Es mußte etwas im Ton meiner letzten Worte liegen, was ihm auffiel.

»Ein andermal!« sagte er kühl, indem er mir einen schnellen Seitenblick zuwarf. »Das Geschwür scheint mir noch nicht reif zu sein. Außerdem haben Sie recht: man muß nicht aus jeder Bagatelle eine große Geschichte machen. Der liebe Gott hat ja für Nachschub gesorgt. Da unten schmachten so viele hübsche Mädchen, so viele süße Dinger nach einem warmen Abendbrot ...«

Er stockte plötzlich mit offenem Munde. Seine Augen waren, indem er sprach, von neuem in den Saal hinunterspaziert. Unwillkürlich folgte ich der Richtung, während mein Herz wieder hörbar zu hämmern begann und alles Blut aus meinem Gesicht entwich. Wer war es, die er dort unten entdeckt hatte? Ich beugte mich hinter der Logenwand, die mich verbarg, etwas vor und suchte mit meinen Augen die lebendigen Mauern zu durchdringen, die sich im Rhythmus des Kontertanzes gegeneinander hin bewegten, sich verflochten, sich verschmolzen, wieder sich auflösten, kehrt machten und von neuem Stirn gegen Stirn sich ineinanderwanden und zusammenschlossen, begleitet vom langsamen Marschtakt der Blasmusik.

War es Karola, die er entdeckt hatte? fragte ich mich mit fliegenden Herzschlägen, indes meine Augen wie irre Vögel über das Gewoge da unten hinkreisten, auf und ab, vorwärts und rückwärts schossen und blindlings an Saalwände, Logenbrüstungen und Türpfosten stießen. War sie es wirklich? Konnte es möglich sein? Träumte ich nicht nur, und der nächste Augenblick brachte mir ein befreiendes, aufatmendes Erwachen aus dem Alp, der mir an der Gurgel saß und das Herz springen ließ?

Hempel hatte sich erhoben.

»Ich sehe nicht ein, was man hier oben verloren hat,« sagte er und lächelte wieder in seiner dünkelhaften Art. »Versuchen wir's mal da unten beim Volk! Man muß dem Glück die Hand bieten. Wer mitgeht, dem zeig' ich was.«

Wieder tauchte sein Blick hinunter in den Saal, über den Reigen der avancierenden Paare hinweg, und meine Augen folgten ihm tastend, spähend, Schritt für Schritt sondierend, bis sie schräg gegenüber an der Saaltür, im Halbdunkel der überschattenden Logenbalustrade, den Zielpunkt des anderen, eine wohlbekannte, zierliche Gestalt entdeckten.

Ja, sie war es! Karola und niemand anders stand da, hart an die Wand gedrückt, im Schutze des Dämmerlichts, und doch meinen, in diesem Moment pfeilscharfen Blicken deutlich erkennbar, als hätte ich sie auf Armesnähe vor mir.

Sie trug ein enganliegendes, kurzgeschürztes Maskenkostüm, allem Anschein nach das einer Italienerin oder Zigeunerin, wie ich sie im Troubadour-Chor gesehen hatte. Hals, Arme und Schultern waren frei. Ein bunter Kaschmirschal – ein Geschenk von mir – war lose darübergeworfen. Das aschblonde Haar floß aufgelöst nach rückwärts. Ein Knoten schien es im Nacken zusammenzuhalten. Das dünne rote Röckchen reichte knapp bis über die Knie. Ich erkannte die festen runden Waden über den zierlichen Knöcheln, die immer von neuem mein ganzes Entzücken gewesen waren, und meine Fäuste ballten sich zusammen.

So war es denn wahr! Was ich längst geahnt, wovor ich bewußt immer wieder die Augen geschlossen hatte: Sie betrog mich! ... Karola betrog mich! Betrog mich gerade mit dem, der mir von allen Menschen der verhaßteste, der widerwärtigste, der unerträglichste war! Mit meinem ureingeborenen, von Ewigkeit her mir vorbestimmten, in alle Ewigkeit hin mit mir verwachsenen Todfeinde! Mit meinem angestammten Erzgegner und Widersacher durch alle Zeiten und Welten! Meinem eigenen, gleichsam umgeschaffenen und ins Gegenteil verkehrten Spiegelbild und zweiten Ich, das unausrottbar war wie ich selbst, oder nur in der gleichen Stunde mit mir! Ihm war sie ins Garn gegangen! Wie durch ein Naturgesetz gerade ihm! Unter Hunderten, Tausenden gerade nur ihm, dem Einen, Einzigen, der sie nicht haben durfte, wenn noch Verstand, Einsicht, Güte im Weltlauf waren, und der wie durch eine ungeheuerliche, persönlich gegen mich gerichtete Bosheit des Geschicks nun gerade erst recht sie bekommen hatte! Der eine Einzige, Unmögliche unter Tausenden von Gleichgültigen, denen ich sie in diesem Moment gegönnt hätte, ohne mit der Wimper zu zucken! Ein Einziger dies und unausdenkbare Bitternis durch ihn, mit ihm, und Legionen dort, die mich kalt, unbewegt, steinern gelassen hätten, und dennoch diesem Einzigen das Los zugefallen, mich, gerade mich, zu vergiften, zu martern, um den Verstand zu bringen! Warum gerade mich? ... Und warum gerade er? ... Wahnsinn! Wahnsinn! Mußte ich ihn nicht vernichten, austilgen, wie man seinen eigenen Schorf abkratzt, sich seinen Grind mit den Nägeln herunterreißt, mit den Zähnen wegbeißt, immer tiefer und tiefer ins Blut, ins Mark hinein, bis alles zusammen ausströmt, Wut, Haß, Qual, Erinnerung und Leben ...?!


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