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18

Als ich am folgenden Vormittag ziemlich spät in meiner gotischen Bettstatt erwachte und über das hölzerne Schnitzwerk des Fußendes die Märzensonne mich recht dreist und listig anblinzelte, da lag es über den Vorgängen des gestrigen Abends wie ein dichter Nebel, der sich nur langsam lichten wollte und selbst dann dem suchenden Auge nur eine beschränkte Fernsicht eröffnete. Was war wirklich von all den wilden Gesichten, die ich gehabt hatte, und was hatte ich nur geträumt? Das war die Frage. Aber bewahrte ich in meiner rechten Handfläche nicht die deutliche Erinnerung an altes, braunes, etwas faltiges und rauhes Leder, über das ich hinweggestrichen hatte, als ich die Hand meines unbekannten Nachbarn ergreifen wollte? Nein, dies war kein Traum! Noch jetzt fühlte ich es geradezu körperlich wie einen alten Handschuh durch die Finger gleiten, nur daß ich ihn nicht hatte festhalten, ihn dem Fremden nicht hatte entreißen können.

Aber was war das? Ich fuhr mit einem Satz in die Höhe. Da lag ja dicht vor meinen Augen auf der Bettdecke genau so ein alter, brauner, verwitterter Lederhandschuh wie der, den ich angefaßt zu haben glaubte. Lag da, als sei er mir von jemand, der hier gewesen, zum Andenken hingelegt worden. Lag ruhig und gleichmütig mit gekrümmten, gleichsam in die Bettdecke gekrallten Fingern da, als müsse das so sein und gehöre sich nicht anders.

Ich richtete mich vollends auf und ließ zwischen Daumen und Zeigefinger den Handschuh hin und her pendeln, so daß die Sonne durch seine Löcher und Nähte schien. Es war wirklich ein merkwürdig alter, arg von der Zeit mitgenommener und zerfressener Handschuh, der außerdem – was mir bei der gestrigen Berührung gar nicht aufgefallen war – lange Zeit im Wasser gelegen haben mußte. Denn seine Finger, die übrigens auch jetzt im Herunterbaumeln noch ihre gekrümmte, krallenartige Form beibehielten, fühlten sich etwas feucht und modrig an.

Ich ließ den Handschuh seitlich neben dem Bett niederfallen und warf mich in die Kissen zurück, während sich jedes einzelne Haar auf meinem Kopf sträubte und der Schweiß mir aus allen Poren brach: Johann Kaspar Stobäus, mein Urgroßvater! Er, von dem die Legende meines Hauses erzählte, daß er noch irgendwie auf Erden umgehe und seinerzeit wiederkommen werde, um seinem letzten Enkel ein großes Unheil und baldiges Ende zu weissagen. Er war es, der mir gestern abend erschienen war und mir den Handschuh gleichsam als Corpus delicti, als unanfechtbaren Beweis seiner Existenz, als Unterpfand seiner Wiederkehr zurückgelassen hatte!

Blitzschnell reihten sich mir die früheren Zeichen, in denen sein Kommen sich angekündigt hatte, zu einer Erinnerungskette zusammen: der Traum jener Nacht, ehe Karola nach D. übergesiedelt war, das gespenstische Aufleuchten seines Bildes in meinem Landhaus bei Z. am ersten unvergeßlichen Liebesabend mit Karola. Und gestern nun sein Erscheinen in eigener Person: Die mittelgroße zierliche Figur, das gepuderte wellige Haar, der kurze graue Zopf, Schnallenschuhe und Tressenrock ... ja, wo hatte ich nur meine Augen gehabt! So war er ja, wie er leibte und lebte, im gelben Saal meines Landhauses bei Z. porträtiert. Sogar das feine mokante Lächeln, das auf dem Bilde um seine Mundwinkel spielte, hatte in der gestrigen Wirklichkeit nicht gefehlt.

Ich wühlte den Kopf in die Kissen, wie um mich zu verstecken, mich zu flüchten vor den Bildern des Entsetzens, die wie schwarze Leichenzüge von allen Seiten konzentrisch sich gegen mich hinbewegten, aber wie fest ich auch die Augen schloß und mir die Ohrmuscheln verstopfte, ich fuhr fort, mit dem inneren Gesicht zu sehen und mit den Ohren der Seele zu hören, was immer in mir und um mich herum sich abspielte und gestern sich abgespielt hatte.

»Mein Kopf! Mein armer Kopf!« schrie ich in die Kissen hinein und vernahm von neuem die kühle Ironie, den lächelnden Spott des Dämons an meiner Seite, seine verdächtigen Fragen, seine boshaften Anspielungen, das Warnen, Höhnen, Drohen, dieses ganze düstere und unheimliche Crescendo bis zu dem Donnerworte Mord und der furchtbaren Ankündigung seiner Wiederkehr und unseres untrennbaren Verwachsenseins, die mir wie Trauermarsch-Posaunenstöße über meinem eigenen offenen Grabe in die Seele griffen.

Und woher das alles? Warum diese namenlose Qual der Gegenwart und diese unbeschreiblich entsetzensvolle Aussicht in die Zukunft? Weshalb dies alles? Seltsam doch, wie gering mir in diesem Augenblick der ganze Anlaß dazu erschien! Wie unbedeutend und belanglos die Vorgänge, in deren Verlauf ich mich immer tiefer und tiefer in die unterirdischen Schrecknisse meines Ichs verkrochen hatte!

Karola war auf den Schützenhausball gegangen. Und warum nicht? Hatte ich es ihr auch nur verboten gehabt? Weshalb sollte ein junges, lebenslustiges Weib, noch dazu am Theater und mit Theaterblut, sich nicht vergnügen, so gut sie konnte und so lange es ging? Vermochte ich mit den paar flüchtigen Stunden im Hafenstübchen ihren Durst nach Leben und Glück zu stillen? Und hatte ich nicht selbst den Ball besucht, ohne daß sie es wußte, vielleicht ebenfalls in der stillen Absicht, schnell ein Abenteuer dort zu erleben?

Aber nicht das war es. Nicht daß sie auf dem Ball war und tanzte, hatte mich so erregt (obwohl auch dies, wenn ich mir die Wahrheit sagte), aber daß es gerade Adalbert Hempel sein mußte, mit dem sie tanzte, dem sie ein Stelldichein gegeben hatte ... ja, da lag es! Darüber kam ich nicht hinweg! Ein hochnäsiger, aufgeblasener Strohkopf triumphierte über mich, mich! Einer, den ich zehnmal in die Tasche steckte, wenn es darauf ankam, Geist an Geist zu messen! Der in seiner ewigen Öde und Unfruchtbarkeit keine Spur einer Ahnung besaß von den seltenen, geheimen und gefährlichen Pflanzen, die aus der Tiefe meiner vulkanischen Gründe wuchsen! Und dem doch, oder vielleicht gerade darum, die Weiberherzen zuflogen, wie die Fliegen auf den Sirup! Daß sie gerade ihm auf den Leim gekrochen war!

Aber war sie es denn? Hatte der Renommist nicht vielleicht nur geprahlt, nach Renommistenart? Zum mindesten übertrieben, sich aufgeplustert wie der Hahn auf dem Hühnerhof? Sie hatte mit ihm getanzt. Nun ja! Warum nicht? Weshalb nicht mit ihm so gut wie mit jedem anderen? Mußte es Verabredung sein? Kannte ich den Zusammenhang? Mochte nicht ein hämischer Zufall mir eine Nase drehen? Und als winziger Kern der Wirklichkeit blieben Leichtsinn und junges Blut.

Junges Blut! Leichtsinn! Waren sie es nicht gerade, die ich an ihr geliebt, gesucht hatte? Die Farbe, Mut, Erneuerung in mein alterndes Leben gebracht hatten? Die notwendig und unzertrennlich zu ihr und ihresgleichen gehörten, wie der Frühlingswind unstet und flüchtig dahingeht. Wollte ich mir die Stirn von ihm kühlen, ferne Düfte von ihm herüberbringen lassen, so mußte ich wohl auch dulden, daß er kam und schwand, wie es ihm gefiel, und vielleicht noch andere mit gleich holder Gunst beschenkte. Deshalb Mord und Vernichtung? Das Todesurteil über ein blühendes Leben?

Nein! Nein! Tausendmal nein! Dem Dämon, der seine Hand auf mich legte, nicht diese Gewalt über mich! Zurück in die Nacht mit ihm, aus der er gekommen! Die ihn ausgespien, mir zur Qual, zum Entsetzen, zum Irrsinnigwerden! Zurück mit ihm, als sei er nie gewesen! Keine Erinnerung mehr an ihn! Ausgelöscht! Zu Tode erschöpft von all der wühlenden, bohrenden Angst und von einem fürchterlichen Schweißausbruch wie ausgewunden, sank ich kraftlos in die Kissen zurück und schlummerte von neuem ein.

Als ich um die Mittagsstunde wieder erwachte und aufstand, war mir leichter. Nur wie eine ferne dunkle Wolkenwand säumten die Phantome der Nacht und des Morgens den Horizont. Über mir war der Himmel rein und licht. Aber konnte die Wolkenwand nicht jeden Augenblick wieder emporsteigen und mein Leben bedrohen? Vielleicht kam die Erleichterung auch nur daher, daß ich nach der überstandenen Attacke einfach noch zu schwach für neue Erregungen war.

In diesem Zustande einer milden Rekonvaleszenz empfing ich Karola nachmittags im Hafenstübchen. Als ich unten die Hausglocke belfern hörte (diesmal sogar besonders hartnäckig und boshaft) und gleich darauf Karolas schnellen, flüchtigen Schritt auf der Treppe unterschied, fühlte ich doch das Bedürfnis, so erschöpft ich war, meine Stirn in strenge Falten zu legen, und auch mein Herz, das sich müde wie ein Karrengaul hinschleppte, begann wieder rascher auszugreifen.

Karola stand in der Tür, hübscher, einladender als je, und sah mich im Lehnstuhl am Fenster sitzen. Sonst pflegte ich aufzustehen und ihr entgegenzugehen. Sie musterte mich einen Augenblick, schloß die Tür hinter sich, kam näher und blieb wieder stehen.

»Sind Sie krank?« fragte sie hastig.

Ich schüttelte nur den Kopf und blickte sie an.

»Also schnell! Was hab' ich wieder verbrochen?« haspelte sie heraus und machte einen weiteren Schritt.

Ich zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten.

»Ich muß doch wieder was verbrochen haben?« wiederholte sie in ihrer schnellen, unsicheren Art, die ich an ihr kannte, wenn etwas nicht in Ordnung war. »Sicher! Sie machen solch ein Gesicht.«

»Hast du ein schlechtes Gewissen?«

»Ich kenne doch Ihr Gesicht. Also schnell heraus damit! Oder ich kehre wieder um und gehe.«

Ich streckte die Hand nach ihr aus und zog sie näher.

»Du bleibst!«

»Ich mag nicht wie eine Angeklagte dastehen!« schmollte sie, indes die mir wohlbekannte Falte zwischen ihren dunklen Brauen erschien. »Was ist es denn? Gewiß hat Ihnen wieder jemand was zugetragen.«

Ich richtete mich in die Höhe und blickte sie von oben herunter an.

»Wo warst du gestern abend?«

Ich sah, wie sie errötete und, um es zu verbergen, vielleicht auch, um Zeit zu gewinnen, ihren Kopf zurückwarf, als sei ihr Chignon verschoben.

»Gestern abend? Im Theater! Wir hatten ›Robert und Bertram‹. Ich mußte ja auch in dem dummen Chor mitsingen.«

»Und nachher? Wo warst du?«

»Zu Hause! Warum?«

»Und dann?«

»Im Bett! Was fragen Sie soviel?«

»Und zwischen zu Hause und Bett?«

Die Röte, die ihr auf Wangen, Hals und Nacken stand, hatte sich tiefer gefärbt. Sie machte eine unwillige Gebärde und wandte sich ab.

»Wenn Sie's schon wissen! Meinetwegen! Es ist nichts Schlimmes dabei.«

»Schämst du dich nicht?«

»Weshalb denn?« fragte sie geärgert und kehrte mir wieder ihr Gesicht zu. »Ich habe ja nichts getan! ... Und überhaupt, was wissen Sie denn?«

»Du warst auf dem Schützenhausball!«

»Aber nur bis halb eins! Um eins lag ich im Bett.«

»Fragt sich nur in welchem? Zum Beispiel bei Herrn Adalbert Hempel!«

»Pfui! Der unausstehliche Mensch!«

»Mit dem du den ganzen Abend getanzt hast!«

»Er hat mich engagiert. Ich kann ihm doch keinen Korb geben.«

»Er hat dir sogar Blumen geschickt. Ein großes Bukett. Kann ich's mal sehen?«

Karola machte eine überraschte Wendung, so daß ich sie nun wieder voll ins Auge fassen konnte, während ich immer noch ihre Rechte gefaßt hielt.

»Das hat er Ihnen wohl selbst erzählt?« sprudelte sie höchst gereizt heraus. »Woher sollten Sie's sonst wissen! Das Klatschmaul, das! Das sieht ihm ähnlich! Ich hab' den Menschen gleich nicht leiden können.«

»Weshalb hast du mir nichts davon gesagt?« fragte ich, halb versöhnt durch die letzten Worte, deren aufrichtiger Ton mir wie Musik in die Ohren klang.

»Wovon?« meinte sie. »Von dem Bukett? Das ist doch nicht so wichtig. Man bekommt so viele.«

»So? So?« sagte ich, wieder etwas herabgestimmt. »Nein, ich meinte, daß du auf den Ball gehen willst.«

»Ich hab' ja gar nicht die Absicht gehabt. Aber in der Garderobe sprachen sie so viel davon, daß es so schön sein soll und daß man sich's ansehen muß! ... Ich hab' doch nicht ahnen können, daß Sie mir darauf kommen werden. Sie sind ja schlimmer als ein Polizist. Man muß sich wirklich in acht nehmen vor Ihnen.«

»Siehst du das jetzt ein, mein Schatz?« sagte ich, aus erleichtertem Herzen lachend über diese wundervolle Selbstverständlichkeit, die so ganz mit sich eins war, und zog die holde Last mit beiden Armen auf meine Knie. »Siehst du das ein? Ich bin überall und nirgends. Ich dringe in die verborgensten Falten deiner treulosen Seele. Beherzige das! ... Und wehe dir, wenn ich entdecke, daß du mich mit einem anderen betrügst!«

Sie machte eine abwehrende Geste und wollte etwas sagen, aber ich verhielt ihr mit beiden Händen von rückwärts den Mund.

»Rede nichts! Ich weiß, daß du's tust oder tun wirst, vielleicht schon getan hast. Aber weh' dir, wenn ich dahinter komme! Ich will nichts davon sehen.«

Karola hob mit einer beschwörenden Gebärde den Arm und sagte mit dem ehrlichsten Ton, den man sich denken konnte:

»Ich will nicht gesund aus dem Zimmer gehen, wenn Sie so was von mir entdecken! Ich hab' ein ganz reines Gewissen. Ich hab' mir nichts gegen Sie vorzuwerfen. Absolut nichts.«

»Schon gut!« nickte ich. »Unser Pakt gilt!«

Wir schwiegen beide. Karola, die noch auf meinem Schoß saß, schien über etwas nachzudenken, was sie lebhaft beschäftigte. Plötzlich schüttelte sie den Kopf und wandte mir ihr Gesicht zu.

»Nein, wie Sie das mit dem Schützenhausball herausbekommen haben! Das hätt' ich nicht für möglich gehalten.«

Ich antwortete nichts, genoß nur den warmen Druck ihres elastischen Körpers auf meinen Knien.

»Sind Sie mir noch böse?« fragte sie und sah mich forschend an. »Sagen Sie's schnell! Sonst geh' ich sofort weg.«

»Nein, ich bin dir nicht böse!« erwiderte ich und schloß sie leidenschaftlich an mich. »Man kann dir ja nicht böse sein, du süßes, entzückendes, ungetreues, verderbtes Geschöpf! Du lachende Sünde, du!«

Ich fühlte, wie ein Schauer das warme Leben vor mir durchrann. Ihr Kopf sank nach rückwärts gegen meine Brust. Ihr Atem ging schwach. Mit geschlossenen Augen, halbgeöffneten, wartenden Lippen, zwischen denen der weiße Zahnschmelz schimmerte, überließ sie sich meinen Küssen.


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