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Am 12. September 1859 hatte ich einiger wichtiger und dringender Geschäfte wegen eine Reise nach K. anzutreten. Ich ließ mir von meinem Bedienten die Reisetasche für mehrere Tage packen und fuhr gemächlich zum Bahnhof. Es war ein schöner wolkenloser Spätsommertag von milder Wärme und der durchsichtigen Reinheit, die dieser Jahreszeit eigen ist. Die Brust atmet freier als sonst, und das Leben erscheint für Augenblicke leicht und heiter wie ein Kinderspiel.

Etwas von dieser Stimmung wirkte noch in mir nach, als ich schon im Zuge saß und das vieltürmige Stadtbild, umrahmt von grünen Wällen und ragenden Bastionen, langsam am hellblauen Himmel verbleichen sah, bis schließlich nur noch der klotzige Würfel von Sankt Marien über den Horizont ragte und am Ende dann auch dieser entschwand.

Ich hatte die Fenster meines Kupees geöffnet und ließ meine Augen über die gelben Stoppelfelder in die Weite gehen. In diesem Umkreise hatte einst mein Urgroßvater, der Ratsherr Johann Kaspar Stobäus, seine Liegenschaften gehabt und ein tätiges und fruchtbares Wirken entfaltet, ehe der dunkle Abenteuerdrang unserer Familie ihn überfallen und den Sechzigjährigen zu der großen Weltumsegelung getrieben hatte, auf der er in geheimnisvoller Weise verschollen war.

Aus meiner frühesten Erinnerung dämmerte mir das Bild dieses sagenhaften Urgroßvaters, der in unserer Geschichte eine so große Rolle gespielt hatte und von dem meine uralte Kinderfrau, jetzt längst gestorben, mir versicherte, sie habe ihn noch persönlich gekannt und sei auf der Langen Brücke zugegen gewesen, als er auf Nimmerwiedersehen sich einschiffte.

Ich weiß nicht, ob es das alte Familienmöbel sehr genau mit der Wahrheit genommen hat. Der Zeit nach konnte ihre Erzählung ungefähr stimmen, und jedenfalls hatte sie mir einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, vor allem ein Umstand darin, bei dem mir regelmäßig die Haare zu Berge standen und das Gruseln über den Rücken lief. Der Urgroßvater, so hieß es nämlich, sei noch gar nicht gestorben, sondern halte sich irgendwo auf einer weltentlegenen Südseeinsel oder im hinterwäldlerischen Amerika verborgen und warte, bis seine Zeit erfüllt sein werde. Fragte ich Frau Julchen – so hieß das alte Inventar –, wann das sein werde, so schüttelte sie abwehrend den Kopf, holte irgendwo eine große Horndose hervor und nahm eine mächtige Prise. Dann zog sie mich schnaufend an ihren Ammenbusen, streichelte mir über das Haar und sagte nur: »Armes Kerlchen! Armes Kerlchen!«, wobei gewöhnlich eine dicke braune Schnupftabaksträne auf mich heruntertropfte.

So unangenehm mir das war, eine kribbelnde Neugier lockte mich doch immer wieder zu dem Thema zurück, bis ich endlich, schon etwas größer geworden, auch den Schluß der Familienlegende erfuhr. Der Urgroßvater sollte danach so etwas wie die Rolle einer weißen Frau bei uns spielen. Sein Wiedererscheinen werde den Untergang unseres Hauses ankündigen. Er werde kommen, um seinem letzten Enkel ein großes Unglück und das nahe Ende vorauszusagen und sich dann, nachdem seine Zeit erfüllt sei, für immer schlafen zu legen.

Da nun nach dem raschen Tode meiner Eltern und fast meiner ganzen Verwandtschaft ich beinahe als der einzige von der Familie zurückgeblieben war, so mochte die gute Alte ihre eigenen Gedanken haben, wenn sie mir dies erzählte und mich dabei in meiner nichtsahnenden Kindlichkeit vor sich sah. Mir selbst hat sich ja die ganze Tragweite der Prophezeiung erst viele Jahre später enthüllt, aber ihr vorausgeworfener Schatten hat mich doch von Jugend an begleitet und hat mir das bißchen Sonnenschein verdunkelt, das selbst mir im Leben beschieden gewesen ist.

Kaum ein Tag meines späteren Daseins, wo mir nicht die Erinnerung an jene Kindergeschichte auftauchte und mich, je mehr die Jahre vorrückten, mit immer schwereren Ahnungen beschlich. Glichen nicht die Umstände meines Lebens genau den Voraussetzungen, unter denen die Sage sich erfüllen sollte? Unser altes Handelshaus in fremde Hände übergegangen. Unsere Familie durch schnelles Wegsterben dezimiert. Ich selbst, der Letzte meines Namens, der es nach menschlicher Voraussicht auch bleiben würde, da ich längst entschlossen war, nicht zu heiraten. Stimmte nicht alles bis auf den Schluß, der noch ausstand, aber zu seiner Zeit schon kommen würde, wie die Prophezeiung besagte?

Auch während der fünfstündigen Fahrt nach K. zogen mir solche Gedanken durch den Kopf. Aber gerade an jenem Tage, wie ich mich deutlich erinnere, hatten sie nicht die lähmende und verdüsternde Macht über mich wie sonst. Der lichtgoldene Spätsommer, durch den mein Bummelzug dahinfuhr, hatte es mir mit seiner fließenden und schmeichelnden Heiterkeit angetan, wie ich mich denn immer als ein sehr feinfühlig reagierendes Wetterinstrument erwiesen habe. Besonders Herbststimmungen haben ihren Widerklang in mir gefunden, und die Hauptentscheidungen meines Lebens, wozu ich wohl auch meine Geburt rechnen darf, sind in den Herbst gefallen. Vielleicht wird es folgerichtig auch mit meinem Tode so sein Anmerkung des Herausgebers: Der Erzähler hat sich geirrt. Er ist am 17. März 1864 gestorben..

Aber ich komme auf die Fahrt nach K. zurück. Etwas Klingendes und Schwingendes und zugleich Tiefresigniertes war in mir, welches offenbar der sonnenbeglänzten und doch sichtlich altersmüden Septemberwelt da draußen entsprach. Ich war achtunddreißig Jahre alt und also schon auf der absteigenden Seite des Lebens. Selbst Alltagsmenschen pflegen gegen die Vierzig hin einen Schimmer von Nachdenken und Melancholie um die Stirn zu bekommen. Wie viel mehr eine Natur wie die meine, die sich wohl einbilden darf, wenn auch nicht im Vollbringen, so doch im Wollen und Verstehen über das Maß des Gewöhnlichen hinauszuragen. Jedes Menschenwesen stellt ja doch einen Mikrokosmus, eine Art von beseeltem und bewußtem Weltkörper dar, dessen Werden und Vergehen ihm selbst gleichbedeutend mit dem der Welt überhaupt ist. Grund genug, das Altern als unsere größte und konsequenteste, ja als unsere eigentliche und wesentliche Tragödie anzusehen, es die Tragödie des Lebens zu nennen. Denn keinem bleibt sie erspart und für jeden vollendet sie sich mit unbedingter und unentrinnbarer Tragik, nämlich mit seinem Untergang.

Das ist es, was zu einer bestimmten Wendezeit die Stirn des Gewöhnlichen wie des Hochbewußten mit einer geheimen Wehmut zu umwittern scheint. So sah auch ich mich damals in voller Klarheit als den tragischen Helden der eigenen Lebenstragödie. Mit dem Schmerz aber, der darin lag, genoß ich zugleich die Wonne des unbeteiligten Zuschauers, der seinen bewunderten Helden im Kampf gegen das ewige Schicksal unterliegen sieht.


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