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13

Die Sonne hing als ein großer, gelber Ballon dicht über der dunkeln Waldmauer am westlichen Horizont, als wir in scharfem Trabe die tiefe Senkung der Chaussee hinter dem Fischerdorf und Badeörtchen Z. hinunterrollten und jenseits der Mulde die wieder ansteigende Straße nun in ruhigerer Gangart hinauffuhren. Hier auf der höchsten Höhe der Dünenkuppe, von wo man das graue Straßenband in Wellenlinien bergab, bergauf sich links nach den schwarzen Wäldern hinüberwinden sah, ließ ich meinen Wagen halten und stieg aus. Dicht vor uns, scheinbar fast zu unseren Füßen, und in gewaltigem Bogen bis an den fernsten Horizont gespannt, lag die unendliche Weite der See. Schon während der einstündigen Fahrt von Zeidlershöhe bis hierher hatten wir sie zu unserer Rechten näher und näher herantreten, bei etlichen Einschnitten der Straße wieder verschwinden und von der nächsten Höhe her abermals auftauchen sehen. Aber noch hatte es wie ein dünnes Häutchen von Dunst darüber gelegen, so daß man Himmel und Wasser kaum unterschied und beide in eins zu fließen schienen. Erst jetzt im klaren, reinen Lichte des sinkenden Septembernachmittags begann das Bild sich in seiner leuchtenden Schönheit zu entschleiern. In unabsehbarem Halbrund wölbte sich der tief ultramarinblaue Wasserspiegel unter dem strahlenden Lichtblau des Firmaments. Scharf vorspringende waldgekrönte Landspitzen unterbrachen und belebten den Linienschwung der Küste.

Ganz weit am Horizont, im fernsten, gerade noch erreichbaren Bezirk des Auges, schimmerte aus den blauen Fluten ein schmaler, weißer Dünenstreif, betupft mit winzig kleinen Häuschen, deren rote Ziegeldächer in der Abendsonne funkelten. Das war die weltentlegene, sagenberühmte Halbinsel H., die dort als meilenlange Sandbank die gewaltige, vor uns liegende Meeresbucht begrenzte.

Karola hatte sich im Wagen erhoben und entzückt die Arme ausgebreitet, als wolle sie alle diese jauchzende Bläue mit einer einzigen stürmischen Gebärde an sich schließen, diese grenzenlose Freiheit in einem tiefen, unausschöpfbaren Atemzuge in sich einsaugen. Dann legte sie die Hände an die Wangen und stieß mit ihrer silbernen, glockenklaren Stimme einen langgezogenen jubelnden Ruf aus, der in einem klirrenden, weithin tönenden Lerchentriller endete.

Ich schwieg und lauschte und berauschte mich an der traumhaften, nie wiederkehrenden Schönheit des Augenblicks. Die schrägen Sonnenstrahlen flimmerten in dem jetzt mattgoldenen Haar des hochaufgerichteten, wie entrückten Mädchens und woben etwas wie einen Flammenschein um ihren jugendfrohen Scheitel, so daß sogar mein alter, stumpfsinniger Kutscher Jan, der sich bei den Tönen des Trillers erstaunt umgedreht hatte, respektvoll seine Peitsche senkte.

Seltsam aber, daß mich selbst in dieser Minute seliger Besessenheit meine angeborene, fast visionäre Doppelgesichtigkeit nicht verließ.

»Das alles, was du hier siehst und erlebst,« sagte ich mir, während ich noch immer an dem Bilde von Himmel und Meer und Mädchenschönheit festgebannt hing, »das alles ist gar nicht so, wie du es hier siehst und erlebst. Das alles scheint dir nur so und du weißt genau, daß du nur träumst, und wenn du aufgewacht bist, dann ist der Himmel nüchtern und grau, die Wasser brausen im Sturm, und das blonde Engelsbild mit dem Heiligenschein ist nichts als ein hübsches, sinnliches Augenblicksgeschöpf, das heute dem im Arm liegt und morgen dem.«

Karola stand noch immer hochaufgerichtet im Wagen und starrte mit vorgehaltenen Händen in die unabsehbare Meeresweite, als müsse sie dort irgend etwas suchen, oder als erwarte sie etwas, das aus den Fluten aufsteigen solle.

Plötzlich ließ sie ganz überrascht die Hand sinken und deutete in die Ferne.

»Da liegt ja Land!« rief sie. »Und Häuser! Und alles mögliche! Sogar ein Kirchturm scheint dabei! ... Was ist denn das da so mitten in der See?«

»Das ist die versunkene Stadt, meine kleine angebetete Schönheit!« antwortete ich und stieg wieder in den Wagen ein.

»Die versunkene Stadt?« meinte sie kopfschüttelnd. »Was Sie nicht reden!«

»Vineta, die versunkene Stadt, mein Schatz. Mit lauter Menschen, die eigentlich gar nicht leben, und mit Häusern, die untergehen, wenn man näherkommt. Es gibt manche solche versunkenen Städte. Vielleicht ist unser ganzes Leben nichts anderes, mein Engelsgesicht.«

Jan machte seinen Zungenschnalzer und hob die Peitsche. Die beiden Füchse zogen an. Leicht und glatt, wie auf der niederschwebenden Schaukel, glitten wir in die vor uns aufgetane Talfalte hinab und, seewärts von der Straße abbiegend, auf den ausgefahrenen sandigen Feldweg, an dessen Ende das Buchengehölz mit meinem inmitten eingebauten Landhaus stand. Das dumpfe Rollen der Räder auf dem festgewalzten Straßenkies schwieg plötzlich wie verschluckt, als wir nach dem Feldweg einschwenkten, und die Stille, in die wir beide versunken waren, schien sich enger und enger um uns zu legen, gleich einer luftdichten Kappe, die jeden Ton aufsaugte und körperlos machte. Nur hin und wieder verriet ein kurzes Aufknirschen aus dem tiefen Sand der Geleise, daß wir noch im Stofflichen und in der irdischen Schwere waren.

Als wir durch das offene Tor in den Park vor meinem Hause einfuhren, war die Sonne soeben hinter den blauschwarzen Wäldern am Horizont verschwunden, wie eine feurige, breitgequetschte Riesenzitrone, die eine verborgene Hand mittels eines unsichtbaren Schnürchens langsam am Himmelsgewölbe hatte heruntersinken lassen.

An der Treppe der Gartenveranda empfing uns Klaus mit einer wohl abgezirkelten Verbeugung, nicht tiefer, als es die Situation gebot, aber auch wieder nicht formlos vertraulich, wozu die Umstände einen minder Gewandten ja wohl hätten verführen können.

»Der Champagner steht im gelben Saal,« meldete er, und sein glattes, gepflegtes Dienergesicht mit den rechts und links abschließenden Bartkoteletten legte sich in die vorschriftsmäßigen Devotionsfalten.

Ich hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in das alte Väterhaus gesetzt. Es stammte aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Mein Urgroßvater, der mehrerwähnte Johann Kaspar Stobäus, hatte es um die Mittagszeit seines Lebens erbaut und sollte manches Mal hier draußen geweilt haben, wenn er sich von seinen viel umfassenden und weitverzweigten Geschäften erholen wollte. Er, der unermüdliche Landerraffer, der heißhungrige Aneigner von Grund und Boden, hatte der Familienüberlieferung zufolge oft stundenlang auf einem und demselben Fleck (den man noch genau zu bezeichnen wußte) hier am Fenster gesessen und hinausgestarrt in das ewig wechselnde, ruhelose Antlitz der See, die sich hinter dem Buchenhang und dem schmalen Strandsaum in blauer Unendlichkeit breitete. Hatte ihn der Gegensatz gereizt zwischen dem sichersten Element, auf dem er mit festen Füßen gewurzelt stand, und dem allertrüglichsten, wohin ihn die lebenslange Sehnsucht des alten Seefahrerbluts lockte und endlich auch auf Nimmerwiedersehen entführte? War ihm, wenn er so von seinem Lehnstuhl unverwandten Auges nach dem Meer hinübersah, wohl eine Ahnung gekommen, daß dort, auf den silbernen und azurnen Fluten, einmal sein Schicksal sich erfüllen und seine Erdenspur zerrinnen werde, wie die weißen Schaumkränze der Wogen in der Sonne aufblitzten und verschwanden? ...

In dem dämmerigen Hausflur, den wir zuerst betraten, war die feuchtkalte, stickige Atmosphäre lange unbewohnt und ungelüftet gebliebener Räume. Wie aus einem Kellergewölbe oder aus einem alten Kreuzgang schlug es uns entgegen und benahm uns den Atem. Karola schien es leise zu frösteln. Wie unwillkürlich drückte sie sich enger an mich, während Klaus uns über die steile Holztreppe in das Obergeschoß voranleuchtete.

Der gelbe Saal lag am Ende des langen, düstern Korridors, dessen morsche Dielen unter unseren Tritten knarrten und ächzten. Der Schein der flackernden Kerzen irrte über die alten Familienbilder rechts und links an den Wänden, umspielte hier und da ein vorspringendes Männerkinn über der Ratsherrenkrause oder im Schoße gefaltete Matronenhände und ließ bohrende Augen, die längst erloschen waren, für eine flüchtige Sekunde im Halbdunkel wieder aufleben. Vor und hinter und über uns schwankten die Umrisse unserer eigenen Gestalten, riesengroß und gespenstisch, neigten und beugten sich in seltsam verwunschenem Reigen, flossen durcheinander und tauchten plötzlich an unerwarteter Stelle wieder auf und führten ein wunderliches Schattenleben, als seien sie gleichsam aus eigenem Recht und unabhängig von uns da.

»Mein Gott, ist das unheimlich hier!« flüsterte Karola und sah wie hilfesuchend zu mir auf.

Ich legte den Arm fester um ihre Hüften und preßte das bebende Mädchen dicht und warm in meinen Besitz. Sie ließ es ruhig geschehen, übergab sich willenlos meinem Herrenrecht. Das Gefühl eines sicheren Triumphs ging in starken Pulsschlägen durch meine Adern.

»Ist es unheimlich hier?« stieß ich heraus. »Recht so, mein Engel! Der richtige Platz für uns zwei. Die alten Herrschaften aus den Goldrahmen sollen uns Gesellschaft leisten. Ein paar tolle Burschen sind darunter. Es würde sich lohnen, ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ich fühlte, wie ein neuer Friesel über den Leib des angeschmiegten Mädchens lief, und ich weidete mich daran. Mir war, als müsse ich dieses blendende, sinnbetörende Geschöpf, das eine so plötzliche unbegreifliche Macht über mich gewonnen hatte, nun meinerseits niederzwingen durch die Kraft des Grauens, die ich diesem alten Hause und den Porträts an der Wand und mir selbst, dem letzten Enkel dieses Hauses und dieser dunkelblickenden Ahnenbilder, innewohnen sah.

»Aber, was die Damen meines Hauses erst für Gesichter schneiden mögen über den neuen Besuch!« rief ich in aufschäumendem Übermut, der mir selbst das Blut in den Adern erschauern machte, riß dem erschrockenen Klaus von hinten her den hocherhobenen Leuchter aus der Hand und schwenkte ihn zu einem schwarzen Frauenbild gerade über unseren Köpfen hinauf. Ein greller Lichtstrahl fiel auf eine lange, spitze, käseweiße Nase, die sich verächtlich zu rümpfen und in die Luft zu heben schien.

Ich lachte laut auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, daß das wurmstichige Holz nur so krachte und der Kalk von den Wänden rieselte.

»Bravo! Sie ärgert sich! Sie hat fi donc gemacht, die Tante Sibylle! ... Ja, ja, diese Damen meines Hauses! Die hatten Zucht und Sitte in Erbpacht genommen. Wenn die jetzt reden könnten.«

Karola wollte mir mit ihrer schlanken Hand den Mund verhalten. Aber ich preßte das zierliche Gelenk in meinen harten Fingern, bis sie einen kleinen Aufschrei tat und von mir abließ.

» Wir sind am Ruder!« rief ich, noch einmal den Leuchter schwenkend. »Merkt euch das, messieurs et mesdames! Wir sind am Ruder! Und dieses kleine, entzückende bijou hier, ein lebendiges Menschenbild, bring' ich euch allen zum Trotz in eure moderige Ahnengruft!«

Klaus nahm mir mit einem diskret mißbilligenden Kopfschütteln den Leuchter wieder ab, und während ich in Gedanken mit den Gebeinen meiner Vorvordern Fangball spielte, ohne noch zu ahnen, wie nahe mir ihre Rache schon auf den Fersen sei, betraten wir den gelben Saal.

Es war ein Eckzimmer mit drei Fenstern nach Norden auf die See hinaus und zweien gen Westen, durch die noch das helle Abendlicht der langen Herbstdämmerung hereinfiel. Mattgoldene geblümte Damasttapeten bedeckten die Wände und hatten dem Raum seinen Namen gegeben. Vergoldet waren die geschweiften Füße des Marmortisches, der niedrigen silbergrauen Seidensessel, die zopfigen Lehnen der Polsterstühlchen und des kissenbedeckten Kanapees an der Wand. Vergoldet die zierlichen Säulenkapitäle an dem edlen Bouleschrank mit den Messingleisten, mit den eingelegten Goldarabesken auf schwarzem Ebenholzgrund und mit der graugemaserten Marmorplatte.

Aus der ernsten Umrahmung der holzgetäfelten Decke blickte, in den lichten silbernen Tönen Tiepolos und seiner Schule gehalten, ein großes ovales Deckengemälde wie ein heiter strahlendes Auge auf das Rokoko-Interieur, das sein Zeitgenosse war. Venus, die aus den Fluten steigt, stellte es dar. In einem Gewimmel von Putten, Amoretten und Nymphen, alle gleich nackt und zum Anbeißen appetitlich, stand die Göttin mit langen, schlanken Beinen und rundlichem Oberkörper auf zarten Rosenwölkchen über dem Meeresschlund, der sie geboren hatte, und Rosenwölkchen flatterten rechts und links zu Häupten des nackten Gewimmels und schienen beim hellen Dämmerschein, der durch die Abendfenster kam, in den breiten, tiefen Saal niederzuschweben, als suchten sie sich der freien Anmut und gefälligen Grazie des achtzehnten Jahrhunderts, die ringsum lebend war, schmeichlerisch und liebend anzuschmiegen.

Karola, immer noch in meinen Arm gedrückt, hatte beim Eintritt in den Saal ganz verdutzt dagestanden und nach dem Halbdunkel des Korridors unwillkürlich vor der überraschenden Helligkeit die Augen geschlossen. Ich sah sie gespannt und ihres Eindrucks gewärtig an. Es machte mir eine zunehmende Freude, jede Regung ihrer empfänglichen Seele zu beobachten und zugleich das Bild meiner selbst, der ja als Besitzer aller dieser Herrlichkeit größer und größer vor ihr emporwachsen mußte, nun in ihrer Bewunderung sich widerspiegeln zu sehen.

»Ach, sind die süß, die Seidenstühlchen!« rief sie jetzt in aufrichtigem Entzücken. »Und die Goldtapeten! Und der Marmorkamin!«

Sie hatte sich ungestüm von mir losgemacht und lief durch den Saal, strich liebkosend und musternd über die seidenen Polster und klopfte mit naiver Kennermiene gegen die Ebenholzfüllung des Bouleschrankes.

»Eingelegte Metallarbeit. Rokokogravierung. Handgemacht alles.«

Jetzt war es an mir, mich zu verwundern.

»Ei, sieh mal an! Welche Kennerschaft! Potztausend!«

Klaus hatte den dreiarmigen Leuchter auf den Marmortisch inmitten des Zimmers gestellt und stand in gemessener Haltung an der Tür, ein sanft zustimmendes Lächeln um die Geheimratsmundwinkel.

»Ja, davon versteh' ich was,« nickte Karola eifrig und selbstbewußt. »Papa war nicht umsonst Dekorationsmaler am Stadttheater. Mit den Moden und Stilarten weiß ich Bescheid. Unsere ganze Wohnung haben wir ja mit Stichen und Bildern und Kupfern voll gehabt!«

»Also daher die feine Nase!« warf ich vom Mitteltisch her ein und fühlte mich ganz in den Anblick des blonden Mädchens versunken, wie es, vom Abendlicht umzeichnet, an dem Bouleschrank lehnte und seine Kindheitserinnerungen sprechen ließ.

»Ja, das hat Papa auch immer gesagt,« bestätigte Karola und setzte plötzlich in sehr energischem Ton hinzu, indem sie mit ausgestrecktem Arm auf Klaus deutete: »Was hat denn der Mensch da zu lachen? Er soll sich doch scheren!«

Ich drehte mich zu Klaus um, der hinter mir noch auf der Schwelle stand. Ich konnte mir, ohne es gesehen zu haben, sein hochmütig devotes Gesicht mit der Mischung von steifbeinigem äußeren Respekt und tiefinnerster Überlegenheit genau vorstellen und mußte im stillen über Karolas Scharfblick lächeln.

Klaus' Mienen waren zu Eis erstarrt. Mit dem vorgestreckten Kopf und Nacken und dem nach auswärts gebogenen Gesäß kam er mir vor wie ein etwas schief geratenes Semikolon. In seinem Innern mochte er Karola die Pest auf den Hals wünschen. Aber sein Gesicht verriet nichts davon.

»Abtreten!« kommandierte ich. »Ist der Klingelzug in Ordnung?«

Ich trat, ohne seine Antwort abzuwarten, an die Wand und griff nach dem herunterhängenden goldgestickten Gurt. Es gab ein helles, feines, fast spitziges Klingen durch die tiefe Verschwiegenheit des Hauses, wie von einem Klöppel, der an altes Silber schlägt.

Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Mir war, als müsse im nächsten Augenblick an Stelle von Klaus ein bezopfter und gepuderter Lakai in der Tür erscheinen und sich nach den Befehlen von dero Herrlichkeit, des Herrn Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus erkundigen. Und richtig – wie hatte ich es bis jetzt übersehen können –, da hing ja über dem Marmorkamin, gerade gegenüber der Abendseite, so daß noch das volle Dämmerlicht darum webte, das lebensgroße Bildnis meines sagenhaften Urgroßvaters, aber nicht im schmucklosen, düsteren Ratsherrntalar, wie es in meinem elterlichen Stadthause auf meinen Schreibsekretär herunterblickte, sondern im hellfarbigen, reichgestickten Patriziergewand der Rokokozeit, den Dreispitz auf dem Kopf und den Krückstock in der Hand, zum Greifen lebendig, wie er an Festtagen durch die Straßen von D. und oft auch durch die weitläufigen Zimmer und Korridore dieses Hauses gewandelt sein mochte. Die stahlharten Augen in dem sonst weichlichen und runden Gesicht sahen mich kalt und forschend an. Ein unsäglich feines, kaum faßbares Lächeln zwinkerte um den bartlosen Mund mit den leicht aufgeworfenen sinnlichen Lippen.

Es durchzuckte mich mit einem kurzen Ruck. Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn und sah um mich. Klaus' Semikolon hielt sich noch unbeweglich auf der Schwelle. Karolas zierliches Persönchen stand mit halber Wendung zum Bouleschrank wie vorher, während der Kopf, vom nahen Kerzenlicht beleuchtet, sich nach rückwärts kehrte und die blitzenden Augen das wartende Semikolon im Bann zu halten schienen. Das Hundertstel einer Sekunde mochte vergangen sein, und niemand schien mein Fernsein in den Dämmerungen der Vergangenheit bemerkt zu haben.

»Es ist gut,« sagte ich zu Klaus. »Abtreten! Wenn wir dich brauchen, klingle ich. Man hört es doch bis unten?«

»Die Klingel ist im ganzen Hause zu hören,« erwiderte Klaus und zog sich gemessen zurück.

Karola und ich waren allein einander gegenüber, sie jetzt an der Fensterwand, in der Nähe des Lehnstuhls, der beim Mittelfenster stand, ich noch immer an der Tür, durch die Klaus verschwunden war. Zwischen uns war die Breite des Saales. Irgend etwas, ich wußte selbst nicht was, lag mir auf der Zunge. Aber ich brachte es nicht heraus, obwohl es mich quälte, mich belästigte. Auch Karola war stumm. Die alten Möbel in der Runde schwiegen mit uns und sahen uns feierlich zu. Und doch schien ein geheimes Wispern und Flüstern rings zu gehen. Ich glaubte es deutlich mit dem inneren Ohr zu vernehmen, aber ich konnte es ebensowenig fassen wie die Worte, die mir auf der Zunge lagen und sich immer mehr ins Wesenlose verkrümelten.

»Kleine Tyrannin, du!« sagte ich plötzlich, mir selbst ganz überraschend, und meine Stimme klang fremd und unwahrscheinlich durch den Saal.

Karola hob ein wenig den Kopf und nickte vor sich hin.

»Ja, der Mensch hat mich geärgert. Sind Sie mir bös? Er hat so was Lauerndes im Blick. Als wenn er sich im stillen nur lustig macht.«

Ich drohte ihr mit dem Finger und trat näher an sie heran.

»Man lasse mir meinen Klaus in Ruhe. Solch ein Juwel findet man so leicht nicht wieder.«

»Der Haremswächter!« warf Karola schnippisch hin. »Mit seinem Lachen, seinem zynischen! Wer weiß, wen der hier schon alles hat kommen und gehen sehen!«

»Nicht hier!« wehrte ich ab. »Dies Haus ist rein. Du bist die Erste darin, meine angebetete Menschenfresserin.«

Karola lachte belustigt und geschmeichelt auf.

»O Gott! Seh' ich so aus?«

Ich war dicht zu ihr herangetreten und umfaßte sie mit meinem Blick, ohne zu antworten.

»Fressen Sie mich nur nicht!« meinte sie und schien sich etwas geniert zu fühlen.

»Könnt' ich das nur, du ... du!«

Ich hatte ihre beiden festen Oberarme gepackt und senkte meinen Kopf in die warme duftige Nähe ihres Busens. Wie eine laue Flut umrieselte mich dieses fremde Leben, und alle meine Poren sogen es gierig ein. Es ist Gift, was du trinkst, flüsterte eine Stimme in mir. Das weißt du. Hast es vom ersten Augenblick an gewußt. Und doch mußt du trinken. Bis zur Bewußtlosigkeit trinken, wie der Verdurstende, der sich über die Pfütze wirft. Was ist das, was uns so mit sehenden Augen ins Verderben zwingt? Rätselhafte tödliche Macht! Woher stammst du? Wozu dienst du?

Karola hatte sich in der Umklammerung meiner tastenden Hände ein wenig geduckt, wie ein Kätzchen, das gestreichelt wird und dabei den Augenblick zum Sprunge abzupassen sucht. Plötzlich schnellte sie mir unter den Händen empor, als sei in ihrem Innern eine Spiralfeder losgegangen, und warf den Kopf zurück, daß ihr Chignon sich zu lösen drohte.

»Bin ich wirklich so lebensgefährlich?«

Ich sah sie ernst und gefaßt, mit der Sicherheit des bewußt dem Tode Verfallenen an.

»Lebensgefährlich, jawohl! Das ist das richtige Wort.«

In ihre Augen von ungewisser dunkelgrauer Farbe kam für einen Moment ein blendender sieghafter Glanz. Dann schlossen sie sich, wie um ihren Triumph tief im geheimen und ungesehen auszuleben.

Als sie sich wieder öffneten, hatten sie ihre ruhige Klarheit wieder.

»Wissen Sie auch, daß das sehr leichtsinnig von Ihnen ist?« sagte sie und zog auf eine höchst anmutige Weise die Stirne kraus.

Ich sah sie fragend an.

»Mir so etwas zu sagen,« fuhr sie fort. »Man soll keinem Menschen solche Macht über sich geben. Wenn ich Sie nun recht schlecht behandle, wollen Sie mich dann auch noch haben? Oder bekomm' ich den Laufpaß?«

Ihre Augen umspielten mich ein wenig lauernd und forschend. Ich fühlte die Wahrheit ihrer Worte. Von dieser Stunde konnte mein ganzes künftiges Schicksal abhängen. Danach mußte ich meine Antwort einrichten, so schwer es mir ihre betörende Nähe auch machte.

»Es gibt eine Grenze für Tyrannenmacht,« sagte ich bedeutsam lächelnd und drohte ihr mit dem Finger. »Auch der Unterjochte kann einmal aufstehen und Vergeltung üben. Bitte sich das gegenwärtig zu halten!«

Es mußte etwas in meinem Blick, im Ton, im Ausdruck meines Gesichtes liegen, was ihr momentan Respekt, vielleicht Furcht einflößte. Sie sah mich halb ungläubig an, ob es mir auch wirklich ernst sei. Ich ließ mich nicht beirren, hielt die Maske meines bedeutsamen und gefahrdrohenden Lächelns fest. So standen wir uns kurz gegenüber, die Augen fast scherzhaft ineinander geheftet, wie zwei Gegner sich noch einmal ironisch messen, ehe sie zum Kampf auf Leben und Tod antreten.

Ich hatte mir vorgenommen, unter keinen Umständen das erste Wort zu sprechen. Der Bogen sollte gespannt bleiben, bis Karola der Situation müde werden und sich besiegt geben würde. Sie ihrerseits schien das gleiche zu denken und mir standhalten zu wollen. Aber als sie eine Zeitlang in meiner unbeweglichen Miene gelesen hatte, verlor sie die Geduld, zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Mein Wille hatte sich als der stärkere erwiesen.

»Nun?« fragte ich triumphierend und ärgerte mich im selben Augenblick, daß ich nun doch zuerst gesprochen hatte.

»Warum quälen wir uns eigentlich so?« erwiderte Karola und wiegte den Kopf hin und her. »Das ist doch Unsinn! Ich bin ein ganz harmloses Geschöpf. Man muß mich nur nehmen, wie ich bin. Und Sie sind hoffentlich auch kein solcher Tiger, wie Sie sich den Anschein geben?«

»Ich bin um den Finger zu wickeln, mein süßes Kleinod!« sagte ich versöhnt und beglückt. »Wenn es eine nur richtig versteht!«

»Das will ich schon besorgen!« sagte Karola lachend. »Und jetzt geben Sie mir von Ihrem Champagner zu trinken. Oder ist das recht unverschämt von mir?«

»Ganz und gar nicht, mein Engel,« gab ich lachend zur Antwort. »Betrachte dich als Herrscherin hier.«

Ich schenkte die Gläser voll, die auf einem Tischchen zur Seite des Kanapees standen.

»Meiner blonden Königin!« sagte ich und erhob meinen Kelch.

Wieder begegneten sich unsere Augen, aber diesmal wie von Menschen, die bereits ihre Kraft gemessen und vorläufig Waffenstillstand geschlossen haben.

Sie trank ihr Glas kostend und schlürfend leer, während sie mich unverwandt im Auge behielt. Dann, mit der charakteristischen Gebärde, die ihr eigen war, den Kopf zurückwerfend:

»Das schmeckt! Ja, Champagner! Das ist was für mich.«

Sie machte einige beflügelte Schritte durch den Saal, eine Melodie vor sich hinträllernd. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kam zurück und stellte sich wieder vor mich hin.

»Sie wundern sich über meine Lustigkeit? Und vorher im Garten hab' ich nicht bis drei zählen können? ... Ja, so bin ich. Ich weiß selbst nicht wie. Mal so und mal so. Ich kann lachen und weinen in einem Atem. Mama sagt oft: Mädchen! Aus dir soll man klug werden! Aber mir muß es nur gut gehen. Dann geh' ich auf wie die Porzeln am Ofen.«

Ich bekam einen vollen, dankbaren Augenaufschlag, der mir bis ins Innerste drang und ihr wieder mein ganzes Herz zufliegen ließ. Ich drückte innig ihre Hände. Sie schien es im Eifer der Rede kaum zu bemerken, sprudelte nur so weiter.

»Mir ist, als wenn das alles hier zu mir gehörte. Es klingt ja dumm. Aber ich bin sehr für Pracht und Luxus. Ich könnte mit vollen Händen hinauswerfen, wenn ich's hätte.«

Ich nickte ihr lächelnd zu.

»Glaub' ich unbesehens, mein Schatz.«

»Ja, merkwürdig! Vorher auf dem dunkeln Gang, unter den Ahnenbildern, da hatt' ich Angst. Am liebsten wär' ich ausgerissen. Aber dann hier im Saal war's gut. Wie kommt das nur? Ich habe das Gefühl, als wenn ich hier unter den Damasttapeten und den Seidenstühlen und bei der nackten Venus da oben zu Hause bin.«

Sie erhob ihr Glas zu der schwebenden Göttin auf den Rosenwölkchen, lächelte ihr zu und trank. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht. Ihre Stimme dämpfte sich zu einem geheimnisvollen Flüstern.

»Glauben Sie, daß es hier auch spuken kann?«

»Schon möglich,« scherzte ich. »Sogar höchstwahrscheinlich. Bitte nur abzuwarten.«

»Schaurig!« sagte sie und schüttelte sich. Aber im Nu hatte sie ihren Leichtsinn zurück.

»Eigentlich hab' ich gar keine Angst mehr. Ob das der Champagner macht?«

Ich hatte ihr von neuem das Glas kredenzt und wir tranken beide im gleichen Zug. Die Dämmerung, die durch die Abendfenster glomm, war bleicher geworden. Die brennenden Kerzen des Armleuchters auf dem Marmortisch begannen heller zu leuchten. Die entfernteren Partien des Saales, die Ecken und Winkel, traten tiefer in den Schatten.

Karola trällerte im Tanzschritt durch den Saal und blieb neugierig vor dem Marmorkamin stehen.

»Wer ist denn das da? Der bezopfte alte Herr? Der hat so etwas Sinnliches im Gesicht.«

»Vielleicht steigt er herunter und erzählt uns etwas von seinen Liebesgeschichten.«

Ich hatte das, hinter Karola stehend, gesagt und dabei über ihre Schulter weg zu dem Bildnis meines Ahnherrn aufgeblickt. In diesem Augenblick – war es die ungewisse Beleuchtung, war es der Geist des Champagners – schien es mir, als habe seine Hand mit dem Krückstock ganz leise sich bewegt. Einen Augenblick fühlte ich es wie kaltes Eisen im Rücken. Aber ich war merkwürdig schnell gefaßt und tippte Karola ein wenig auf die Schulter.

»Pst! Still! ... Pst! Sieh' mal da hin!«

Sie fuhr mit einem unterdrückten Schrei zusammen und sank wie hilflos zu mir zurück, so daß ich die warme, schwer atmende Last ihres Körpers voll in meinen Armen fühlte. Ich hielt sie von rückwärts her fest umschlungen und richtete meinen Blick unverwandt auf das Bild über dem Kamin.

Kein Zweifel! Die Hand auf dem Krückstock bewegte sich. Bewegte sich beinahe unmerklich, aber sie bewegte sich. Kein Zweifel! Sie bewegte sich. Und jetzt ... jetzt ... blitzte da nicht im Strahl des Kerzenlichts für einen Moment der Ring am Finger auf? Seltsam nur, daß das Gesicht sich so unbeweglich hielt! Die Augen starrten auf mich herunter, als wollten sie mich auf meinem Platz vor dem Kamin für immer festnageln.

Wie lange ich so gestanden und hinaufgeblickt habe, das regungslose Mädchen im Arm – ich weiß es nicht. Mir war, als sei ich aus der Zeit gestrichen und die Zeit aus mir. Ich stehe nur und sehe die kalten stieren Augen auf mich geheftet, sehe die Hand sich bewegen. Es ist die rechte Hand, sage ich mir. Der Ring am Finger blitzt. Und die Hand hebt sich. Hebt sich sachte, sachte, Strich um Strich. Hebt sich höher und höher, wie von einer furchtbaren magischen Gewalt im Innersten beseelt. Hebt sich leibhaftig faßbar aus dem Rahmen des Bildes. Der geschwungene Krückstock scheint in der Luft zu schweben. Will er auf mich heruntersausen? Ich stehe und warte und bin auf das Letzte, Äußerste, Unsagbare gefaßt. Alle Sinne in mir sind kalt und still und gleichsam unbeweglich, wie man die Uhren stillstehen läßt, wo ein Toter im Hause liegt. Nur mein Auge lebt und nimmt das Bild der grauenvollen Hand mit dem bläulich leuchtenden Stein am Finger bis in seine tiefsten Tiefen in sich auf. Dies Bild wirst du jetzt sehen, solange du lebst, denke ich mir. Im Schlafen und Wachen, wo du gehst und stehst, wird diese galvanisierte Hand um dich sein. Auf deinem Sterbebett wird sie über die Bettdecke kriechen und sich eisig um deine röchelnde Kehle legen.

Plötzlich fällt mir ein, daß ich noch immer das entgeisterte Mädchen in den Armen halte. Du mußt etwas tun, sage ich mir. Vielleicht sie aufs Kanapee betten, ihr Kölnisches Wasser zu riechen geben. Am besten, man riefe Klaus. Wenn nur die Augen mich nicht auf dem Platz festhielten. Und dann die Hand! Die grauenvolle Spukhand mit dem blitzenden Stein, der sich in mein Gehirn zu bohren scheint! Nur wegsehen können! Nicht daran denken müssen!

Irgendwo höre ich etwas knistern. Sind es Schritte auf dem gedielten Boden? Ist es ein Seidenkleid, das leise näherrauscht? In weiter Ferne ein dumpfer Schlag. Vielleicht ein Gartentor, das der Seewind zufallen ließ. Vielleicht jemand, der ging, oder einer, der kam. Und wenn die Saaltür jetzt aufspringt ...

Ich müßte schreien, wie der Wahnsinn schreit! Aber alles bleibt still. Ich fühle, wie die Kerzen auf dem Marmortisch hinter mir flackern. Wohl ein Luftzug, der kalt durch den Saal streicht. Aber ich sehe das Flackern nicht. Sehe nur den ungewissen Widerschein auf dem Bild zu meinen Häupten und sehe noch immer die erhobene Hand wie von einer mattleuchtenden Flamme transparent durchglüht.

Wo ist der Ring? frage ich mich. Nur die Hand leuchtet noch. Der Ring erlosch. Alles erlischt. Auch Spuk und Grauen. Jetzt bist du gefeit. Du hast gesehen, was nur Auserwählten beschieden ist, und hast es bestanden. Unter Millionen bist du ein einziger. Auch du trägst jetzt das geheime Leuchten um dich. Fortan gibt es keine Finsternis mehr, wo du bist. Größeres, Furchtbareres, Grauenvolleres kann keiner erfahren. Du hast durch das Tor des Todes geblickt und lebst.

Ich gebe mir einen gewaltsamen Ruck, wie man, halb wachend schon, einen schrecklichen Traum abzuschütteln sucht. Und doch fühle ich zugleich, es ist kein Traum. Alles ist wahr und wirklich, was ich hier sehe und erlebe. Der Ruck durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag. Die Lähmung, die meine Beine wie mit Zentnergewichten festgehalten hat, weicht. Heiße Blutwellen stürzen durch meine Adern, jagen von Kopf zu Fuß, von Fuß zu Kopf und schmelzen den eisernen Ring, der mir Stirn und Brust einzuschnüren schien. Schritt um Schritt zurückweichend, die Augen immer im Bann der langsam verbleichenden Geisterhand, in den Armen die hingegebene Fülle des ohnmächtigen Mädchens, erreiche ich das Kanapee, bette die gelösten Glieder geschwind auf die Kissen und stürze zum Klingelzug, um Klaus herbeizurufen.

Und nun – man lächle! man schüttle den Kopf! nenne mich einen Irrsinnigen! – nun geschieht die zweite Unbegreiflichkeit dieses ewig denkwürdigen Abends: ich ziehe den Gurt der Klingel, der neben der Tür an der Wand herunterhängt, ziehe ihn, wie ich es vor einer Viertelstunde in Gegenwart von Klaus getan habe. Aber was ist das? Kein Ton erklingt. Alles bleibt stumm wie zuvor. Im ersten Moment, da mir noch der silberne, etwas spitzige Klang von vorhin im Ohr liegt, glaube ich, nicht richtig gehört zu haben, und ziehe noch einmal kräftig und nachdrücklich an dem Gurt. Ziehe wiederum und abermals und zum fünften, sechsten Male und horche ... horche ... horche umsonst. Bange Stille draußen auf dem Gang. Tonlose Beklommenheit rings im halbdüstern Saal. Ich ziehe, zerre, wüte, hänge mich mit ganzer Schwere an das breite Gurtband, als müsse ich es aus dem eisenfesten Mauerwerk herausreißen ... Vergebens! Das Silberglöckchen schweigt wie der Mund eines für ewig Verstummten, an dessen Sarg man um Antwort klopft.

Da packen mich, stärker noch als soeben beim Aufleuchten der gespenstisch bewegten Hand, das Grauen, das Entsetzen. Mir ist, als beginne der sichere Grund unter meinen Füßen zu weichen und ich sei im Begriff, ins Bodenlose zu stürzen. Die festen Mauern irdischer Gesetzmäßigkeit, in denen unser Leben sich nach Ursache und Wirkung vollzieht, scheinen wie von übermächtigen und geheimnisvollen Gewalten umgeblasen. Alles um mich herum und in mir selbst wankt. Ich brauche einen Menschen, an den ich mich klammern, zu dem ich mich vor mir selbst retten kann, oder ich breche zusammen.

Der nächste Augenblick findet mich wieder am Kanapee, wo ich Karola noch immer ohnmächtig in die Kissen gelehnt glaube. Aber welche Überraschung! Sie sitzt aufrecht da, vielleicht noch ein wenig angegriffen, etwas blaß wohl, aber völlig bei Sinnen, und sieht lächelnd auf mich nieder, der ich leidenschaftlich ihren Leib umschlinge.

»Karola!« stöhne ich. »Kind! Süßes, einziges Mädchen!«

»Was ist geschehen?« lächelt sie, wie aus einem Traum. »Haben Sie Angst um mich gehabt? Mir wurde auf einmal so schwach. Vielleicht der Champagner.«

»Sonst nichts?« stammle ich. »Das ist alles?«

»Was denn noch?« fragt sie ganz verwundert und beugt sich über mich. »Was haben Sie denn, Sie Ärmster? Sie sind ja totenblaß.«

Sie weiß nichts! denke ich mir und atme aus tiefster Brust auf. Sie hat nichts gesehen und stand doch dem Bilde so nahe wie ich. Also nur ein Blendwerk meiner Sinne! Ein grauenvoller Traum mit offenen Augen! Ich bin wieder wach. Alles ist gut.

Ich drehe leise den Kopf in den Schultern nach rückwärts. Die Kerzen im Armleuchter brennen ruhig und gleichmäßig. Die Dämmerung schwand. Draußen ist Nacht. Das Bild über dem Marmorkamin hängt im Halbdunkel. Nichts deutet darauf hin, daß irgend etwas geschah.

Ein Gefühl unendlicher Erleichterung, wonniger Genesung nach hitziger Fieberattacke, flutet durch meine Glieder und löst die übermenschliche Spannung der Sinne.

»O du ... du ... du Himmelsbild!« ächze ich entzückt und umfange den warm atmenden Mädchenleib von neuem mit meinen Armen. »Ein Glück, daß es dir wieder gut geht! Daß ich deine Augen wieder sehe! Die lachenden, sinnlichen, verliebten Augen! Die sind wie das Leben selbst. Man möchte darin untergehen.«

Ein schneller, heißer Schauer schien über ihren Leib zu fliegen, als seien meine Worte ein warmes, weich rieselndes Bad für sie. Sie schlang ihre Arme fester um mich und drückte meinen Kopf an ihren Busen. Zum erstenmal glaubte ich zu fühlen, daß von meiner Glut ein Funke auch auf sie hinübergesprungen war.

»Sie sind doch ein guter Mensch,« sagte sie und hatte ein weiches Seufzen dabei, das mir durch und durch ging. »Sich so um mich zu ängstigen! Ganz kreideweiß sind Sie gewesen. Aber das kommt und geht so bei mir. Deshalb hoff' ich noch nicht zu sterben. Das heißt, wer weiß! Einmal kann es auch aus sein.«

»Nie! Nie!« wehrte ich ab.

Sie warf den Kopf zurück und hatte um die leicht geöffneten Lippen wieder das sinnliche Lächeln, das mich toll machte.

»Jetzt wollen wir das alles vergessen,« sagte sie nach einem Augenblick. »Wollen lustig sein und das bißchen Leben genießen. Wo ist der Champagner? Er ist zwar Gift. Aber her damit!«

Ich wollte mich gerade nach der Flasche umwenden, als sich plötzlich eine bekannte Stimme vernehmen ließ, die aus der Richtung der Tür her kam.

»Der gnädige Herr hat geklingelt? ... Hier hab' ich gleich noch zu trinken gebracht. Befiehlt der gnädige Herr sonst noch was?«

Ich fuhr von neuem zusammen. Wie war das nur möglich? Klaus stand in der geöffneten Tür, würdig wie immer, und balancierte in der Linken Tablett und Champagnerflasche, während er mit der Rechten einen zweiten brennenden Armleuchter emporhielt. Ich hatte geklingelt, sagte er! Aber ich wußte doch, daß kein Ton zu hören gewesen war, so sehr ich gerissen hatte. Wußte es, wie ich von meiner eiskalten Hand, meiner glühenden Stirn, meinem schnellklopfenden Herzen wußte. Wie war das nur möglich? Bei Gottes Barmherzigkeit! Wie war das möglich?

»Hast du gehört, daß ich geklingelt habe?« sagte ich und wandte mich fassungslos zu Karola.

»Kann sein,« erwiderte sie leichthin. »Ich weiß es nicht genau. Aber mir war so, als ich aufwachte.«

Klaus hatte den zweiten Armleuchter auf den Tisch gestellt, Tablett und Flasche zwischen die beiden brennenden Leuchter. Es sah sonderbar feierlich, wie eine Art von weltlichem Tabernakel aus.

»Aber gewiß hat der gnädige Herr geklingelt,« bemerkte Klaus in seiner diskret korrigierenden Weise. »Sogar recht kräftig ein paarmal nacheinander. Man hat es durchs ganze Haus bis in den Garten gehört.«

»Natürlich! Natürlich! Es war ja auch laut genug,« beeilte ich mich zu erwidern und legte die Hände an den Kopf, als müßte ich mich überzeugen, ob er noch an seinem Platze sei oder nicht.

Ja, das war er! Ich lebte! Ich atmete! Sprach, fühlte, dachte wie jeder andere vernünftige Mensch. Nur mein Blut hämmerte gegen die Schläfen. Da mochte es sitzen. Ich war der Überreizung meiner Sinne erlegen. Nichts Übernatürliches wirkte mit. Keine dunklen, tückischen, unfaßbaren Mächte trieben ihr Spiel mit mir. Nur mein Blut, meine Nerven hatten rebelliert. Ich wollte sie mit Champagner und Küssen niederkartätschen.

»Heute ist Feiertag,« sagte ich zu Klaus. »Du kannst dir auch eine Flasche zu Gemüte führen.«

Klaus trat mit einem tiefen Bückling den Rückzug zur Tür an.

»Aber hüte dich, daß du mir nachher keine Geister siehst!« rief ich ihm zu.

Ich bemerkte noch, wie sich um seinen Mund ein paar tiefe, vieldeutige Falten gruben. Dann war er fort.

Ich stand vor Karola, die immer noch etwas matt sich in die Kissen zurücklehnte, und entkleidete sie mit meinen Blicken.

»So! Jetzt wollen wir trinken. Heute ist Feiertag.«

Sie hob ein wenig den Kopf und lächelte.

»Ist Feiertag für Sie? Warum?«

»Weil ich heute etwas erlebt habe, was wohl nie wiederkommt.«

»Und was ist das? Sie machen einen neugierig.«

»Nein! Erleben werde,« verbesserte ich mich, unwillkürlich ablenkend. »Denn heute wird mir die heidnische Göttin Venus leibhaftig auf Erden erscheinen.«

»Da schwebt sie ja schon,« meinte sie mit einem geheimen Lächeln, das mich zu verstehen schien, und deutete zur Decke hinauf.

Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe schoß.

»Ich will sie hier unten auf der Erde haben!« stieß ich heraus. »Dicht vor mir! Zum Greifen nah! Und ich verspreche, sie trotzdem nicht anzurühren, wenn sie's nicht selber will.«

»Ach, das sagt man so, und nachher hält man's nicht. Ihr Männer seid alle gleich. Warum ist man auch so ein schwaches Geschöpf!«

Wieder hatte sie das weiche, sinnliche, aufreizende Lächeln, von dem ich noch verrückt werden konnte.

»Ich will dich sehen, wie die da oben!« stammelte ich. »Ich will dich als Göttin sehen und nichts weiter. Ich will vor dir knien und dich anbeten und nicht mehr. Und ich weiß, ich bin nicht der erste, der dich so sieht. Also gehorche!«

Sie wollte eine abwehrende Gebärde machen, aber ich packte mit hartem Griff ihr Handgelenk.

»Ich weiß es! Ich weiß es! Rede nichts! Meine innere Stimme sagt es mir. Also tu, worum ich dich bitte. Tu's! Tu's! Oder sonst ...!«

»Man muß sich fast vor Ihnen fürchten,« sagte sie kopfschüttelnd, halb widerstrebend, halb schon bezwungen, und nestelte unwillkürlich an ihrem Kleid, während eine warme Röte ihr über Stirn und Wangen floß.

Ich sah es und krampfte meine Hände ineinander, um an mich zu halten.

»Nein, nein, es geht wirklich nicht,« sagte sie mit dem letzten Versuch eines innerlich schon gebrochenen Widerstandes. »Sie sind doch kein Maler. Vor Malern, das heißt, vor einem, hab' ich mich schon so sehen lassen. Das geb' ich zu. Aber sonst noch nie. Das schwör' ich bei Gott!«

»Und ich schwöre, ich bin tausendmal mehr als ein Maler! Ich bin ein unsterblich verliebter Mensch, der Geister sieht und auch sonst nicht ganz richtig im Kopfe ist!«

»Das stimmt,« bestätigte Karola aus vollem Herzen und hatte den obersten Haken ihrer Taille geöffnet, so daß man ein Stückchen ihres weißen Halses sah.

»Karola! Mädchen! ... Göttin! ... Venus! ...«

Ich heftete einen glühenden Kuß auf diesen Ausschnitt blendenden, lockenden Fleisches.

Sie suchte mich schwach von sich abzuwehren. Ihr Atem strich warm und schwer über mich hin. Ich fühlte mich taumeln und mußte mich gewaltsam zurückreißen, um meinem Worte treu zu bleiben.

»Sie sind ein gefährlicher Mensch!« klagte sie. »Man muß tun, was Sie wollen. Aber nehmen Sie sich in acht, wenn ich Sie mal quäle!«

Kleid, Krinoline, Schuhe und Strümpfe waren von ihr geglitten. Ich verfolgte jede Bewegung ihrer Hand mit entflammten Augen, genoß im voraus das Kommende und kostete, was meine Augen schon besaßen, wieder und wieder nach.

»Das Licht! Das dumme Licht!« schmollte sie und schien sich abwenden zu wollen. »Löschen Sie's doch aus! Bitte! Bitte!«

Aber ich war hartherzig und ohne Gnade.

»Ich will meine Göttin sehen, vor der ich knie.«

Sie warf das Letzte von sich und ließ sich in einer unbefangenen, anmutigen Weise, die mir vollends den Verstand raubte, in die weichen Kissen des Kanapees zurücksinken.

»Bin ich ein gehorsames Mädchen?« flüsterte sie und sah mich betörend an.

Ich nickte, in ihren Anblick versunken und ganz wie von Sinnen.

»Ich bitte um etwas zu trinken,« flüsterte sie wieder. »Mich dürstet.«

Ich reichte ihr den gefüllten Kelch, und während sie ihn hoch zu der Göttin erhob, die ihresgleichen war, bedeckte ich ihre Knie mit einer Flut von Küssen.


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