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Es wurde ein gründlich verregneter Herbst, der des Jahres sechzig. Tag für Tag, den ganzen Oktober hindurch und den größten Teil des Novembers, strömte es aus geöffneten Schleusen auf die fast ertrinkende Erde herab. Ein ewiger Nordwest hatte sich etabliert und blies, bald abflauend, bald sich versteifend, über Stadt und Land. In gewaltigem Kreisbogen von Südwest bis Nordost, wie in unabsehbarer Schlachtreihe, zogen die grauen, grünen, gelblichen, schwarzblauen, brandroten Wolkenschwaden gegen die umwallte und umgürtete Stadt heran, warfen fingerdicke Regenkörner und taubeneigroße Hagelschloßen gegen die triefenden Scheiben, in die durchweichten Gassen, schleuderten Schauer um Schauer auf die morastigen, unbegehbaren Plätze, über die abschüssigen Kirchendächer, durch die berstenden Dachrinnen, pfiffen, schrillten, prasselten um Türme und Schlote, gleich Hunderten von gleichzeitig abgelassenen Raketen, und rückten nach vollbrachtem Werk landeinwärts gen Osten zu ab, während von Westen her unerschöpfbar neue Geschwader und Heersäulen, den Himmel verdunkelnd, heraufstiegen, als sei in den unermeßlichen Blachfeldern da oben eine nie mehr enden wollende Völkerwanderung von Abend gen Morgen im Zuge.

Früher als sonst flammten in den Öfen die Winterfeuer. Nur wer mußte, wagte sich hinaus, auf dem schnellsten Wege zum Ziel. Es war eine Zeit, um unter Dach und Fach zu bleiben, sich einsam zu sammeln beim friedlichen Lampenschein, ein stilles Buch in der Hand, vielleicht ein anderes warmes, blühendes Leben an der Seite, oder, wem dies versagt, mit guten Kumpanen bei der Flasche zusammenzurücken.

Nichts von alledem war so recht mein Fall. Was ich Freunde hätte nennen können, besaß ich kaum. Der einzige vielleicht, der es war, Julius Schwarzwald, lag schon seit September wieder an einem besonders tückischen Anfall darnieder, und es schien wenig Hoffnung, ihn noch einmal durchzubringen. Ich hatte ihn öfters an seinem Krankenlager besucht, in seine müde flackernden Augen geblickt, wortlos, da Sprechen verboten war, seine kalten, knochigen Hände gedrückt und war im Innersten erschüttert, seines nahen Endes fast gewiß, wieder meines Weges gegangen.

Auch dies also vorbei, soweit menschliche Berechnung mitsprach. Der letzte, der mich noch mit meiner Jugend, meiner Umgebung, mit der Stadt überhaupt verband, lag im Sterben! Was sollten mir die anderen, mit denen ich in dieser oder jener Weinhandlung, am Ratskellertisch oder irgendwo sonst zusammengekommen war! Wandelnde Kontobücher das! Personifizierte Schiffsregister, Börsentabellen! Lebendige Anekdotensammlungen und Witzkollektionen! Und immer und überall, wohin man auch kam, er, der Abenteurer, Spieler, Wüstling! Der Verbrecher von Geburt und Natur, wenn auch noch nicht vor dem Strafgesetz, mein Todfeind, er: Adalbert Hempel!

Nein, ich mochte nicht unter diese halb gleichgültigen, halb gehaßten oder verachteten Menschen! Lieber noch mich zu Hause verschließen, in den stillen vier Wänden meiner Bibliothek, wo alte, geschnitzte, vom Atem der Zeit gebräunte Eichenschränke mich mit düsterm Prunk umgaben, und die langen Reihen buntgewürfelter Bücherrücken vergebens den einstigen Freund zu mahnen schienen.

Vergebens! Ja! Seit einem Jahre – wenn ich mir Rechenschaft gab, wohl so lange, wie diese Krankheit in meinem Blute war – hatte es mich immer seltener zu den hohen, in der Zimmertiefe verdämmernden Regalen hingezogen, in denen, Band an Band, meine Lieblinge von ehedem, die frühen und späten Kameraden meines Lebensweges standen. Welch ein schier unbegreifliches, nur alltäglich gewordenes Wunder, hier den unzerstörbar feinsten Niederschlag zerstäubter Zeiten und Welten, den unvergänglich fernsten Nachhall verbrausten Ringens, Leidens, Denkens gleichsam chemisch kondensiert, als Extrakt und Präparat für den Nachgeborenen überkommen zu sehen, wie etwa der Arzt die Zauberkräfte von hundert Pflanzenleben in eine einzige Pille bannt oder das Aschenhäuflein in der Urne letzte körperliche Kunde gibt von neunzig Jahren des Menschgewesenseins!

Doch was half es, daß ich dies Wunder in all seiner tiefen Unbegreiflichkeit wohl empfand, es aber für mich selbst, für mein eigenes Leben, weniger und weniger zu nützen verstand! Hätte ich auf den verstaubten Brettern nicht so manchen stummen Zeugen eines ähnlichen Zustandes, wie es der meine war, gefunden? Bekenntnisse verwandter Seelen, zerstreut in der Unendlichkeit der Zeiten, die wie ich gelitten und gerungen hatten und unverstanden, zwischen Lächerlichkeit und Tragik in der Mitte, über diese grüne Erde gegangen waren? Ach, ich wußte es wohl, ich hätte von den hohen, schwanken Regalen nicht wenige meinesgleichen herunterholen können, um in ihrem Schicksal mein eigenes zu lesen, in ihrem Bilde mich selbst zu sehen, meine Zukunft an ihrer Vergangenheit zu ermessen und als letztes Remedium mir das Wort Vergänglichkeit in die Seele zu schreiben. Ich wußte das, wußte das alles, und dennoch sagte es mir nichts mehr, hatte keine Macht mehr über mich.

Wenn ich ein Buch vornahm, mich in meinen Polsterstuhl zurücklehnte, Sammlung, innere Einkehr suchte, so begannen in kurzem die Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen, die Gedanken schweiften über den Inhalt des Buches hinaus, verloren den Faden oder hefteten sich an Einzelheiten, suchten Vergleiche und verwarfen sie, bis ich schließlich ermüdet, verdrossen, hoffnungslos den Band beiseite schleuderte und ins Leere zu starren begann.

Also auch hier keine Rettung, nicht Ablenkung, nicht Genesung für mich! Nicht draußen auf dem Lebensmarkt. Nicht drinnen in meiner Einsamkeit.

Nur ein einziges, was mich beschäftigte und erfüllte, sich an meine Fersen heftete, durch meine Tage dämmerte, meine Nächte beschlich. Was wie eine Stechfliege um mich schwirrte und surrte. Mich verfolgte mit der blinden, unbeirrbaren Wut einer fixen Idee. Einer? Eines ganzen Schwarms von fixen Ideen, die Tag für Tag aus dem Brutplatz meines Hirns auskrochen und mir mit ihren Stichen zu Leibe gingen!

Karola! War es noch sie selbst, sie allein, sie das Einzelgeschöpf, worum ich kämpfte, worunter ich litt? Die wohlbekannte, so und nicht anders geartete Schönheit mit den dunkeln Brauen, den dämmergrauen Augen, dem mattblonden Haar? Die kleine, namenlose Statistin, Choristin, mit der blendenden Haut und dem geschmeidigen Wuchs, die vielleicht am Beginn einer glänzenden Karriere stand? (O Zerline! Zerlinchen! Noch klangen mir deine süßen Läufe und Triller nach! Unvergessen waren mir deine graziösen Pas, mit denen du, rhythmisch dich wiegend, über die Schwelle kamst und deinen wehrlosen Masetto in die Arme nahmst!)

Nein, nicht dies und nicht jenes. Kein Einzelfall mehr, Karola genannt – was im tiefsten Grunde mein Leiden bedingte und erschuf. Es war das Weib überhaupt, an dem ich krankte, vielleicht zugrunde ging. Der Inbegriff des ganzen Geschlechts, das aufgestanden war gegen mich, den Mann, und in mir mein gesamtes Geschlecht zerbrach. Die Rache des Weibtums an der Mannheit. Wenn man wollte, auch der Jugend am Alter. Der Triumph des Lebens, das ewig gebar, über den Tod, der ewig zerstörte und verschlang.

Aber wenn nun zuletzt doch wieder der Tod das Leben bezwang? Das Alter die Jugend? Der Mann das Weib? Mit Gewalt oder mit List? Heimlich oder offenbar? Sei es, wie es sei! Wie hatte das der Fremde damals, auf dem Fastnachtsball, in Worte gefaßt? Vernichtung entweder dem Bilde in meinem Herzen oder dem Urbild in Person! Aber wie das Bild in meinem Herzen vernichten, da im Gegenteil seine Züge tiefer und tiefer mit mir verwuchsen und aus dem bloßen Zufallserlebnis, danach es zu Anfang sich angelassen, immer mehr ein typisches Mannes- und Menschenschicksal zu werden schien? Also Tod, wenn nicht dem Trugbild der Phantasie, dann dem lebendigen Urbild selbst? Gott! Gott! Wenn jetzt das Phantom mir wieder erschiene und sein Raunen, Flüstern, Einblasen von neuem begänne? Würde ich noch Kraft, Widerstand genug besitzen gegen das Gift, das mir der Hauch seines Mundes in die Ohren träufelte? Mußte ich nicht Tag für Tag, Stunde um Stunde seiner Wiederkunft gewärtig sein, als deren sichtbares Zeugnis ich den pergamentbraunen, stockigen, wie vom Meeresgrunde heraufgeschwemmten Handschuh über meiner Lagerstatt aufgehängt hatte? Jeden Morgen beim Erwachen fiel mein erster Blick auf die fünf leicht gekrümmten, gleichsam von innen her aufgeblähten Finger an der Wand, die sich dicht über meinem Kopf in die weinroten Laubgewinde der Tapete einzukrallen schienen. Konnte nicht über Nacht der zweite Handschuh sich dazugesellt haben und neben seinem Zwillingsbruder herunterbaumeln? Auch tagsüber sah ich mich dann und wann nach dem seltsamen Mahner um, ob sich keine Veränderung, kein Zeichen daran bemerkbar mache.

Aber nichts dergleichen war zu entdecken. Der Handschuh rührte und regte sich nicht, bekam auch keine Gesellschaft an der Wand, faßte sich aber merkwürdigerweise noch ebenso feucht und modrig an wie am ersten Tag und behielt, auch wenn man darüber strich, seine sonderbar gekrümmte und gekrallte Form. Bei Tage hatte er eigentlich kaum etwas Auffallendes mehr für mich. Nur des Nachts vor dem Einschlafen, wenn das Kerzenlicht darüber geisterte und die Schatten der Finger wie Polypenarme an der Tapete hinaufkrochen, fröstelte es mich manchmal, und ich zog das Bettuch dichter um mich zusammen, als könnten diese Finger, die bald wie Würste aufquollen, bald wie Riesenspinnen ins Unendliche wuchsen, sich im Schlaf um meine Kehle legen und ich müsse mich davor zu schützen suchen.

Eigentümlich war es dabei, daß alle diese Gedanken und Vorstellungen, diese Ängste, Ahnungen, Bangigkeiten, die sich um das Wiedererscheinen des rätselhaften Fremden drehten, in gar keine Beziehung zu dem in meiner Bibliothek hängenden Bilde meines Ahnherrn treten wollten. Wie oft, wenn die innere Unruhe mich von den Büchern fort und hin und her durch den tiefen, dämmerigen Raum trieb, hatte ich mich vor das Porträt gestellt, das den Urgroßvater im schwarzen Ratsherrntalar mit weißer Halskrause wiedergab, und hatte die stumme Frage nach wann und wo hinaufgerichtet. Aber nichts hatte mir aus den unnahbar ernsten Zügen geantwortet, die sich in puritanischer Ehrbarkeit vor dem taumelnden, entwurzelten, sinnentollen Nachfahren zu verschließen schienen.

Nein, zwischen dem Manne und mir war kein Echo, kein Klang und Widerklang, nicht die Spur einer inneren Verbindung. Dieser hochmütige Patrizier, dem die Gewohnheit des Kommandierens aus dem Gesichte sprach, hätte nie daran gedacht, sich aus seiner Grabesruhe zu bemühen, um irgendeinen verrückten Enkel vor irgend so etwas wie einem Federball zu warnen.

Lächerlicher Einfall das! Und die Erinnerung sprang aus der düsteren Abgeschlossenheit meiner Bücherregale hinüber in den weiten lichten Tanzsaal meines Landhauses bei Z., wo aus einem Gewimmel von Amoretten die nackte Venus von der Decke herunterblickte und gegenüber den Abendfenstern jenes andere Porträt meines Ahnherrn über dem Marmorkamine hing. Seit dem ersten Liebesabend mit Karola – über ein Jahr war es her – hatte ich keinen Fuß mehr in das Haus gesetzt, und selbst meine Phantasie hatte die Vorgänge von damals am liebsten nur scheu umschlichen. War es Wirklichkeit, was ich gesehen und erlebt hatte, und was doch weder Karola noch Klaus zum Bewußtsein gekommen schien? Das Aufleuchten des Ringes? Die erhobene Hand mit dem Krückstock? Das Versagen des Klingelzuges? War das wirklich gewesen oder hatte ich es nur geträumt? Aber wo lag dann die Grenze überhaupt zwischen Wirklichkeit und Traum? Konnte dann nicht auch alles andre, was ich dachte, tat, sah, empfand, nur in meiner Einbildung bestehen?

Mir wirbelten die Sinne, wie von einem Erdbeben geschüttelt. Wieder wie damals im gelben Saal begannen die Grundlagen meines Seins, der feste Unterbau von Ursache und Wirkung, auf dem unser Leben fußt, ins Schwanken zu geraten. Da war Vorsicht am Platz! Besser, solche Gedanken gar nicht erst wachzurufen. Den Boden, aus dem sie wuchsen, zu meiden. Jeder Gelegenheit, die sie neu befruchten konnte, aus dem Wege zu gehen.

So hatte ich seit länger als einem Jahr diesen Bezirk weder äußerlich, noch gleichsam innerlich betreten, wie etwa der Hindu oder Feueranbeter einen heiligen Hain, über dem das Grauen der Götter wohnt, in weitem Bogen umkreist, höchstens im unbewachten Moment oder öfters noch im Traum seine Augen hinüberschweifen läßt, um dabei zu entdecken, daß er auf irgendeine geheimnisvolle Weise doch mit jedem Schrittbreit dort drüben Bescheid weiß.

Ja, sonderbar! Obwohl ich geflissentlich die Augen zu schließen pflegte, so oft diese Bilder mir wiederkommen wollten, so erinnerte ich mich doch Zug um Zug jeder Einzelheit aus jener unvergeßlichen Dämmerstunde zwischen Wollust und Grauen, unter den Schauern von Liebe und Tod. Und sah mit besonderer Deutlichkeit grade auch das Porträt über dem Marmorkamin, auf das durch die Abendfenster ein letzter Schimmer wie von untergegangenen Tagen fiel. War es wirklich ein und derselbe Mensch, dessen Erdenbild hier in meiner Bibliothek und dort im Vätersaal verewigt war? Kaum eine Ähnlichkeit bestand zwischen dem finstern Bürgersmann in schwarzer, freudloser Ratsherrntracht und dem anmutigen, reichgekleideten Kavalier mit dem mokanten Augenzwinkern und dem sinnlichen, genießerischen Lächeln um Mund und Kinn. Nur der Ausdruck der Augen selbst, das Kalte, Sichere, Beherrschende darin, war hier und dort der gleiche. Sonst lag eine Welt zwischen den beiden Gesichtern. Hatte vielleicht nur die Verschiedenheit zweier malerischer Temperamente dasselbe Modell auf ganz entgegengesetzte Weise widergespiegelt, oder war wirklich von ein und demselben Grundpfeiler aus die Brücke geschlagen zwischen zwei Enden der Welt, und Kontraste, die einander fast ausschlossen, in einer einzigen Natur vereinigt gewesen? Welch ein Mann mochte das dann gewesen sein! Wie überlegen in seiner schöpferischen Vielheit und Urkraft dem dünnblütigen Enkel, der sich nur der einen Seite dieser Natur nahe, der andern um so entlegener fühlte! Und der in einem ihm selbst unerklärlichen Widerstreit doch grade des Nahverwandten, räumlich Entfernten, nur mit geheimem Grauen als eines ihm drohenden Verhängnisses gedenken konnte, während ihn die räumliche Nähe des andern kalt und gleichgültig ließ. O Rätsel des Menschenhirns, Gleichungen mit einem Dutzend von Unbekannten, wer findet die klarste und knappste Formel für eure Lösung?

Der November war zu Ende gegangen. Ich hatte Karola seit jenem Septembernachmittag, wo sich mir zum erstenmal die volle Schönheit ihrer reif gewordenen Stimme enthüllt hatte, nicht mehr bei mir gesehen. Hätte ich nicht schwören mögen, wie sie mir damals ihr Verhältnis zu Bninsky gebeichtet, mich dann als Zerline wieder versöhnt, entzückt hatte, sie werde mir von jetzt an auf ihre Art treu bleiben, ihrem einzigen Freunde, wie sie mich nannte, der sie verstand, dem sie sich offenbaren konnte, ohne als eine Verworfene behandelt zu werden? (Treu bleiben innerhalb der Grenzen ihrer Natur, die nun einmal auf die Veränderung und nicht auf das Dauernde ging!) Und wäre ich nicht, während ich dies in gutem Glauben geschworen hätte, zugleich im Innersten überzeugt gewesen, daß es auch in Zukunft genau so zwischen uns bleiben werde wie bisher? Daß ich schon beim nächsten Mal sie wieder umsonst erwarten, sie mich von neuem im Stich lassen, ich wie ein Besessener toben, sie zur gleichen Stunde, ohne sich etwas Böses dabei zu denken, mit einem anderen zusammensein, ich zu vergessen, zu überwinden versuchen, sie im Kreislauf der Dinge, sobald sie wieder Freundschaft, Aussprache oder sonstwas brauchte, reuig und schuldbewußt wie nur je zu mir zurückkehren werde?

Ach ja, so schwören wir in einem Atem für und gegen, sehen alles kommen und können nichts vermeiden, hoffen immer das Beste und fürchten zugleich das Schlimmste, wissen nicht zu erzwingen und nicht zu entfliehen, und sind am Ende nicht gescheiter, als wir am Anfang waren! Narrenschicksal! Menschenlos!

Ich weiß, die Neunmalklugen und -gerechten werden mich darum einen Schwächling, Lumpen, Charakterlosen, vielleicht einen Geisteskranken schelten. Aber was hätte ich tun, wie ein Ende machen sollen? Hatte ich nicht jedes nur Erdenkliche versucht, und alles war gescheitert? Ich hatte gegen mich selbst gekämpft, wie ein Mensch nur kämpfen konnte, hatte mir an den unzwinglichen Wänden meines Ichs den Kopf blutig gestoßen, war gegen mich angerannt, wie der Stier gegen seinen Verfolger, hatte mich selbst gleichsam auf die Hörner genommen (Ironie der Sprache!), mich in die Luft geschleudert und wundenbedeckt, mit zerbrochenen Gliedern zu Boden fallen lassen. Ich war in die Welt hinausgeflohen, hatte mich in die Einsamkeit verkrochen, war dem Taumel, dem Rausch, der Betäubung in die Arme gesunken, hatte in den Büchern Linderung, Genesung gesucht. Alles umsonst! Fühlte ich nicht, wie ich mich nur immer tiefer in die Leidenschaft, und sie sich in mich, verbissen hatte? Was also blieb noch übrig zu tun? Mußte nicht dieser ganz fürchterliche und hoffnungslose Krankheitsprozeß sich immer von neuem wiederholen, solange einer von uns beiden auf der Welt war, also die Gefahr der Ansteckung weiterbestand? Und sollte nicht auch zwischen einzelnen Menschen, namentlich zwischen Mann und Weib, ein ähnliches Gesetz in Kraft sein, wie es in der Völkergeschichte besteht? Daß sie sich gleichzeitig anziehen und abstoßen, nicht mit und nicht ohne einander leben können und schließlich eines von beiden vom Schauplatz verschwinden muß, wobei dann nicht selten alle beide sich vernichten? ...


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