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29

Ein klarer Januartag glänzte über der Stadt. Die Eisblumen an den Fensterscheiben meines Besuchszimmers glitzerten in der Vormittagssonne. Aber kein Tropfen schmolz ab und rann über den kristallnen Belag. Es war bitterkalt. Ein schneidender Nordost blies durch die leeren Gassen. Vor seinem stahlblanken Atem erstarrte der Hauch des Lebens, kaum daß er die Menschenbrust verlassen hatte. Zuweilen klingelte ein Schlitten kurz und flüchtig vorüber. In der Stube war es totenstill. Die Worte des Mannes im Sofa, mir gegenüber, sind verklungen. Harte, abgehackte, widerwillig herausgestoßene Worte, die sogar im Bitten und Flehen noch den versteckten Hochmut verrieten, fast wie eine geheime Drohung sich angehört hatten.

Ich weiß jetzt, daß der Wüstling und Spekulant, der Spieler und Don Juan, der vor mir im Sofa lehnt und das Gesicht zur Decke kehrt, seine Lebenspartie verloren hat, wenn er nicht bis morgen früh jemanden findet, der ihm hilft. Große Börsenverpflichtungen sind übernommen, müssen gedeckt werden, und der Termin läuft ab. Das lange Vorausgesehene, nun doch fast schreckhaft Überraschende ist da: Hempel und Söhne stehen vor dem Bankerott. Der russische Weizen, viele Jahre ein bewährtes Spekulationsobjekt, hat Rache an seinem Ausbeuter genommen. Statt der erwarteten Hausse ist Baisse eingetreten. Die Differenzen übersteigen die Zahlungsfähigkeit der Firma bei weitem. Das Spiel ist aus.

In mir regt sich das Gefühl des Mitleids mit meinesgleichen. Ein altes Haus, das da zusammenzubrechen droht! Eines wie vor Zeiten das unsere. Aber das kam nur in fremde Hände, verfiel nicht elendem Einsturz. Unser Name blieb, dessen letzter Vertreter ich bin. Dieses hier geht an sich selbst, an der eigenen Morschheit und Brüchigkeit zugrunde. Sei's denn! Was fallen will, das falle! ... Und doch! Wie wenige unserer Klasse sind noch übrig in der Stadt, die das stolze Einst mit dem kleinen Heute verbinden! Wäre es nicht Pflicht, hier zu helfen, zu stützen?

Mein Blick fällt wieder auf den Mann im Sofa, der Arme und Beine von sich gestreckt hat und wie abwesend zur Decke hinaufstarrt. Auf dem gleichen Platz hat vor kurzem Karola gelegen mit gelöstem Haar, Arme, Schultern und Busen frei und bloß, um den weichen, geschmeidigen Leib einen dünnen, fließenden Schal, die schmalen, schlanken, spielenden Füße übereinandergelegt, Zug für Zug so, wie sie dem alten, um die Ecke gegangenen Maler Modell gesessen und wovon das Abbild sich jetzt in meinen Händen befindet. Denn Karola hatte Wort gehalten. Unter dem Tannenbaum am Weihnachtsabend hatte ich das schicksalsvolle Porträt gefunden und mich an seiner delikaten Anmut geweidet. Kein Meisterwerk! Aber von einem gemacht, der sein Handwerk verstand und darüber hinaus etwas wie Andacht, wie Liebe für dieses zärtliche, lockende Fleisch mit hineingemalt hat. Ein Verkünder der Schönheit, der Grazie, der Sinnlichkeit, dieser wunderliche alte Mann, der, nachdem er am Altar des Weibes gleichsam sein letztes Gebet verrichtet, nichts Besseres zu tun gewußt, als sich am Fensterkreuz aufzuhängen. Respekt vor der Leistung! Und ich hatte mich in das Bildnis vertieft, mich hineingelesen wie in ein köstliches Rokokobändchen, hatte geprüft, gemustert, vergleichen wollen, hatte Karola bedrängt, gebeten, bestürmt ... Bis endlich auf dem Platze da, wo jetzt der Spieler und Abenteurer um seinen letzten Einsatz bettelt, unter den Lichtern des Weihnachtsbaumes das Wunder sich erfüllt hat, aus dem Bilde wonnevolles Leben, aus dem Leben wiederum ein neues, schöneres Bild geworden ist.

Noch gärt mein Blut von der süßen Trunkenheit der unvergeßlichen Vision. Aber was hat der fremde Mensch da mit ihr zu tun? Ich streiche mir über die Stirn, bin erwacht. Adalbert Hempel sitzt vor mir. Um seine Mundwinkel spielt noch immer, selbst noch in dieser Stunde, das dünkelhafte Lächeln, das mich bis in meine Träume verfolgt hat. Ich sehe es deutlich, so sehr er sich bemühen mag, es zu verwischen, sehe den zwölfjährigen, blonden Gecken durch Straßen der Vergangenheit stolzieren, umschwärmt von Bewunderung, Anbetung, Vergötterung, sehe die verzerrte Grimasse des in seiner Heimlichkeit ertappten Lümmels vom Beischlag drüben zu meinem Fenster herauf. Blitzschnell zieht alles, alles an mir vorüber: Die Ritte und Wagenfahrten des Mädchenjägers auf die Tanzböden hinaus, Geschrei und Gelächter der Heimkehrenden draußen auf der Gasse und drüben im Haus, dieser ganze Aufmarsch gekaufter und bezwungener Weiblichkeit wie hinter einem siegreichen Sultan, und das vor meinem Fenster, alles wie mir zum Hohn, das näselnde Auftrumpfen am Ratskellertisch, immer wieder er, der Herzensbrecher, der Weiberheld, der mit Namen, Adressen, Abenteuern wie mit Brosamen um sich wirft, endlich der Abend des Schützenhausballes, wir drei in der Loge über dem Menschengetümmel, wieder das überlegene Lächeln auf dem verhaßten Gesicht, Karola unten im Saal, an die Wand gedrückt, des Augenblickes wartend, wo er kommen, sie nehmen, mit ihr davonreisen wird, während der Narr hier das Nachsehen hat!

Blutströme stürzen aus meinem Herzen, das wie von einem Krampf geschüttelt hin und her zu fliegen scheint, glucksen in meinen Adern, gurgeln durch die Kehle in die Schädelwölbung hinauf, daß es mir rot vor den Augen wird und meine Sinne schwindeln. Aber ich bleibe unbeweglich und aufrecht im Sessel sitzen, während meine Hände die Lehne rechts und links umspannt halten und meine Lider sich schließen, gleichsam um die Augen nach innen gehen zu lassen, nur erst wieder Stille und Ordnung in die entfesselten Nerven zu bringen. Und es gelingt. Wie ich die Lider wieder öffne, ist Ruhe geschafft. Ich bin kalt und klar wie nur je und sogar imstande, meine Worte mit einem höflichen, bedauernden Lächeln zu umkleiden, ganz im gewohnten Stil unseres Verkehrs.

»Ich würde Ihnen gern zu Diensten stehen, Herr Hempel, aber ich bin auf Monate hinaus festgelegt. Sie können sich denken, daß man seine Dispositionen nicht von heute auf morgen trifft. Meine Papiere sind so, daß ich sie ohne Verlust nicht verkaufen kann. Ein anderer Teil steckt in Hypotheken. Sehr schade, daß ich gerade jetzt nicht liquid bin. Aber als Kaufmann werden Sie das begreifen. Wären Sie vor einem Jahr gekommen! Oder vielleicht wieder in einem Jahr! Hat es nicht wenigstens Zeit?«

»Wenn es die hätte, dann würden Sie mich schwerlich hier sitzen sehen, Verehrtester! Solche Gänge macht man wohl nicht zum Spaß. Am allerwenigsten zu Ihnen hin.«

Die Stimme kommt gequetscht und heiser heraus. In den Augen mir gegenüber lese ich, daß sie das Spiel verloren geben. Schon beginnt die wahre Natur sich zu äußern.

Ich zucke mit den Achseln, bleibe kühl und gleichmütig, je mehr ich dem andern das Blut zu Kopfe steigen sehe.

»Unmöglich! Beim besten Willen unmöglich!«

»Ist das Ihr letztes Wort? Ich gebe Wechsel bis Ultimo! Verlangen Sie Prozente, so hoch Sie wollen!«

»Bedaure lebhaft, Herr Hempel! Aber solche Geschäfte macht ein Stobäus nicht.«

»Es ist ja nur eine augenblickliche Klemme!« schreit der andere mit der überschnappenden Stimme eines Ertrinkenden, der nach Atem ringt. »Ich rapple mich schon heraus. In drei, vier Wochen bin ich wieder hoch. So helfen Sie mir doch in Dreiteufels Namen! Helfen Sie mir!«

»Unmöglich! Ich sagte es schon. Und ich denke, wir brechen die Unterredung ab.«

»Unsere Väter waren befreundet!« kreischt die Stimme mir gegenüber.

»Wir sind es ja leider nicht.«

»Unsere Häuser sind mit die ältesten am Platz! Haben Sie kein Fünkchen von Standesgefühl?«

»Unsere Begriffe von Standesgefühl dürften sich schwerlich decken, Herr Hempel. Der eine hält es für standesgemäß, ganze Hekatomben von Weibern, von armen Geschöpfen zur Strecke zu bringen ...«

»Also daher die Wut?! Daher das Gift?!«

»Der andere sieht keine Veranlassung, sein Geld einem prädestinierten ... na, sagen wir Bankerotteur nachzuwerfen, der ja doch über kurz oder lang an seiner eigenen ... na, sagen wir Unzulänglichkeit zugrunde gehen muß.«

Mein Gegenüber ist wie unter einem Peitschenhieb in die Höhe geschnellt. Auch ich habe mich aus meinem Sessel erhoben. Wir stehen Auge in Auge. Der Größenunterschied zwischen uns scheint aufgehoben.

»Schuft!« kreischt der andere. »Schuft! Ich habe es immer gewußt!«

»Bitte, ganz wie Sie wollen! Sie sind entschuldigt. Wer am Pranger steht, darf schimpfen, soviel er will.«

Das Weiße unserer Augen züngelt ineinander wie zwei Flammen, die sich vermählen wollen. Aber meine Miene bleibt kalt und gemessen, und ich lächle wieder ein wenig dazu, während ich den anderen unverwandt fixiere, jede seiner Bewegungen überwachend wie einer, der gegen ein gefährliches Wild auf dem Anstand liegt.

Ein paar Sekunden vergehen. Dann regt sich das Wild. Die Spannung ist gebrochen. Der Ausdruck letzter, hilfloser, sprungbereiter Verzweiflung, den ich soeben noch sah, weicht aus dem Antlitz mir gegenüber. Der alte zynische Hochmut, nur noch verstärkt, grinst mich an.

»Na, dann adieu! Schlafen Sie sich auf Ihrem Geldsack aus! Und wenn Sie unser Blondchen sehen, so grüßen Sie sie schönstens von mir! Sie soll sich keine roten Augen anweinen. Ablösung vor! Und vielleicht gibt es ein Wiederkommen. Die Geschichte ist noch nicht ex.«

Eine letzte Grimasse des Hasses, des Hohns, die ich mit einem Lächeln eiskalter Verachtung erwidere, und der andere ist zum Zimmer hinaus.

Fast genau wie damals vom Beischlag zu meinem Fenster herauf!, fällt mir ein, die zwanzig Jahre, die gleich einer dünnen Staubschicht über dem Erinnerungsbilde liegen, scheinen wie weggeblasen. Was ist Einst, was Jetzt? Was Raum und Zeit? Die Grenzen verfließen, der Blick verschwimmt, und da man ihn wieder erhebt, ist alles um einen, in einem verwandelt, und doch im Kerne wieder alles wie einst. Ewiger Widerspruch in sich selbst! Wer ihn löste, hätte das Rätsel des Menschen gelöst.

Lebenslange Feindschaft war es, die damals begann. Nun ist sie aus. Ich weiß, wir haben uns zum letztenmal gegenübergestanden. Es ist leerer Selbstbetrug, das mit dem Wiederkommen. Den bringt kein Schiff mehr zurück. Nicht aus der neuen Welt und nicht aus der alten. Mein ureingeborener Widersacher, mein Feind von Ewigkeit her ist fort, ist tot! Ich aber lebe und bin! In mir ist es sonderbar still und wie ausgelöscht. Kein Fünkchen von Haß mehr. Die Glut verglomm. Ich könnte wie mit einem Bruder mit ihm zusammensitzen. Und doch weiß ich, wenn ich dies alles noch einmal zu leben hätte, der ganze Knäuel sich wieder von vorne abzurollen begänne, – es würde alles genau auf dieselbe Weise sich wiederholen, Haß würde von neuem Haß, Liebe abermals Liebe, Glück und Verderben wiederum Glück und Verderben, alles, alles würde das Gleiche sein. Also lebte doch das, was tot scheint, und was lebendig schiene, wäre im Grunde doch tot ...?

Furchtbarer Wirbel der Begriffe, die für andere die eisernen Klammern des Denkens bilden, wohin treibst du mich noch, so kurz vielleicht, ehe ich für immer versinke ...?!

Am Tage nach dieser Szene brachten die drei Blätter der Stadt die öffentliche Bestätigung dessen, was ich privatim schon wußte: Adalbert Hempel flüchtig gegangen, das Hempelsche Haus bankerott. Woran sich in dem gottesfürchtigen »Dampfboot«, das auch das frühere Eingesandt gegen Hempel enthalten hatte, noch allerlei fromme Betrachtungen über das Mahlen gewisser Mühlen und den Finger des Allmächtigen knüpften. Da Fallissement und Flucht des Spekulanten den meisten ganz überraschend kamen, so war die Aufregung und Bestürzung allenthalben groß, und eine neue, letzte Woge der Empörung, höher als alle früheren, ergoß sich über das Andenken des teuren Verdufteten, der nicht versäumt hatte, das noch vorhandene Bargeld der verkrachten Firma als Wegzehrung mit in die Neue Welt zu nehmen.

Dort hat sich, um diesen Faden gleich hier zu Ende zu spinnen, anderthalb Jahre später, kurz vor Karolas Untergang, sein Schicksal erfüllt, indem ihn in einer Goldgräberstadt des fernsten kalifornischen Westens bei einer Schlägerei um ein Weib das Messer eines Nebenbuhlers etwas zu tief zwischen die Rippen traf. Merkwürdigerweise hat mich die Kunde davon gerade am Abend von Karolas Ende und unter sehr sonderbaren Umständen erreicht, da ich sie, wie man sehen wird, auf rein transzendentalem Wege – ich kann es nicht anders nennen –, jedenfalls ohne Vermittlung der überseeischen Post erfuhr, die erst viele Wochen später, als ich schon in der Untersuchungshaft saß, hier eintraf und auch gar nicht früher hat eintreffen können, wie ein Blick auf den Atlas und in die Schiffskurse beweist.


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