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12

Auf Zeidlershöhe war die Stille des Montags. Gestern, an dem schönen Herbstsonntag, mochten Scharen von Spaziergängern sich vor die Tore der Stadt ergossen und hier ihren Nachmittagskaffee mit den berühmten Waffeln genommen haben. Da pflegten die Backeisen über dem Feuer keinen Augenblick zu rasten, das Kuchenschmalz tropfte prasselnd auf die glühenden Herdringe, und Tassen und Kannen klapperten auf der Veranda draußen, von wo man den Blick hinüber nach der fernen See genießt.

Ich vermied es im allgemeinen, mich unter dieses kaffeetrinkende und kuchenschmausende Sonntagspublikum zu mischen. Die Nähe des schwatzenden und schmatzenden Familienglücks, das sich an den Gartentischen breit machte, war mir von jeher in der Seele zuwider, und wenn die Blicke der eifrig strickenden Tanten und Basen über den Wollstrumpf weg in die Runde flogen und die Stricknadeln rhythmisch dazu klirrten, so klang es mir immer wie das feine blutgierige Surren von Stechmücken, die auf Beute gingen.

Welch ein nicht auszudenkender Gedanke, mich einmal eines Sonntags mit Karola in diese Spießbürgerwelt zu wagen, wo jeder einzelne Clan gegen den andern auf der Lauer lag, und doch alle zusammen wie durch einen geheimen Schwur gegen den Eindringling von außen verbunden schienen! Konnte da nicht aus der Mückenschar, deren Stiche nur juckten, ein Wespenschwarm werden, der tödlich zu stechen verstand?

Der Gedanke reizte und belustigte mich, während wir in den totenstillen Wirtschaftshof einfuhren. Hier schien man nach den Mühen des gestrigen Tages in den üblichen sechstägigen Wochenschlaf versunken, denn weder der Hausknecht erschien, noch selbst der Hofhund Karo, ein riesiger und gefährlicher Neufundländer, schlug an.

Ich zog die alte verrostete Hausglocke an dem hölzernen Hintertor, indes Karola von ihrer Wagenecke aus sich neugierig und gespannt auf dem Hof umsah. Nach einigen Minuten schlürften innen Schritte. Ein wütendes blutrünstiges Gebell, das plötzlich abbrach. Karo hatte mich von innen her erkannt. Riegel wurden zurückgeschoben. Der Wirt stand vor mir und begrüßte mich mit leidlicher Höflichkeit, während ein verständnisvolles Augenblinzeln sich aus dem verwitterten Gesicht zu Karola hinüberstahl und gleichzeitig Karo mir zum Willkomm die beiden mächtigen Tatzen auf die Schultern legte.

»Bekommen wir zu essen, Grabowsky?« rief ich ihm zu. »Schnell! Wir verhungern sonst!«

»Wenn's nicht anders ist!« meinte er, nicht gerade ermunternd. »Irgend was wird's wohl noch geben von gestern ... Steigen Sie man aus, Fräuleinchen.«

»Und eine oder zwei von Ihren guten Flaschen ganz hinten aus dem Verschlag können Sie aufmarschieren lassen, Grabowsky,« ordnete ich an und half Karola mit ihrer nicht allzu umfänglichen, aber doch etwas hinderlichen Krinoline aus dem Wagen.

»Immer verrückter die Welt!« hörte ich Grabowsky im Abgehen brummen. »Jetzt kommen sie schon am Montag! Man wird bald gar keine Ruh' mehr haben.«

Unter den würfelförmig geschorenen herbstbraunen Linden des alten Gartens machten wir es uns an einem der grüngestrichenen Holztische bequem.

»Was ist das da?« fragte Karola und deutete über das zu unseren Füßen liegende Weideland mit den eingewirkten gelben Stoppelvierecken hinweg auf einen hellen Saum, der sich in sanftem Schwung am Horizont hinzog.

»Das ist der Strand, süße Karola,« erwiderte ich. »Die Sonne scheint gerade darauf. Man sieht ordentlich den weißen Sand in der Sonne blitzen.«

»Dann ist das also dahinter das Meer?« fragte sie mit offenem Munde.

»Allerdings, mein Schatz. Was sich da wie eine tiefblaue Glocke über den Horizont spannt ...«

»Das hab' ich für den Himmel gehalten,« fiel sie ein.

»Das könnte man meinen. Am Himmel ziehen nur keine Segel, mein Kind.«

»Ich bin wirklich dumm!« lachte sie und schlug sich vor den Kopf. »Natürlich, die Segel dort! Eins, zwei, drei, vier Stück. Jetzt erkennt man's deutlich. Also das Meer, das wirkliche Meer!«

Sie klatschte entzückt in die Hände, mit jenem Ausdruck kindlicher Freude, der ihr schon vorher mein ganzes Herz gewonnen hatte.

»Ja, das ist das Meer,« wiederholte ich und rückte dichter an ihre Seite. »Die heilige Salzflut, wie die Alten sagten. Wie gefällt Ihnen das, mein kleines angebetetes Fräulein?«

»Oh! Schön! Schön! Herrlich! Wunderschön!« rief sie mit ihrer süßen, melodischen Stimme. »Die hab' ich nämlich noch nie zu Gesicht bekommen, die echte, wirkliche See. Das Haff schon. Das ist ja nicht so weit von uns. Aber noch niemals die echte, wirkliche See.«

»Und ich bin es, der sie Ihnen zum erstenmal zeigt,« sagte ich. »Also hab' ich doch Hoffnung, Ihnen in Erinnerung zu bleiben.«

»Ja, unbedingt!« nickte sie. »Sie sind mir jetzt für immer mit der See verbunden. Wenn ich später mal wieder ans Meer komme, werd' ich an Sie denken, daß Sie der erste waren, mit dem ich's von weitem gesehen habe.«

Ich nahm ihre Hand und streichelte sie.

»Das freut mich, Karola. Sie müssen nämlich wissen, ich bin aus einem alten Seefahrergeschlecht. Ich habe das Gefühl, wir gehören zueinander, die See und ich. Und wenn wir beide, Karola, jetzt auch zusammenkommen, dann gibt das einen guten Bund zwischen uns dreien.«

Sie antwortete nicht, sondern sah wie verloren in die Weite, hinüber nach dem blauen Meeresbogen, der über den Horizont gespannt war. Ich legte den Arm um ihre Taille und zog sie näher an mich heran. Sie wehrte sich nicht, lehnte sich mit einem leise verhauchenden Seufzer an meine Brust. Ich strich mit der Handfläche leise tastend über das weiche seidige Haar, so daß ich es in den Fingerspitzen prickeln fühlte. Dann erhob ich ihr Gesicht ein wenig zu mir und drückte auf die halbgeöffneten Lippen mit dem dazwischen schimmernden Zahnschmelz einen ersten heißen, langen, durstigen Kuß.

Grabowsky kam und brachte zu essen. Auch eine verspinnwebte Flasche war aus dem Keller gestiegen. Ich goß zwei Gläser des alten, weichen Bordeaux rasch nacheinander hinunter. Er schmiegte sich wie Öl über den Sturm da innen. Karola hatte zuerst nur am Rande ihres Glases genippt. »Mein Gott, der schwere Wein!« meinte sie. Aber ich kannte keine Gnade und hielt ihr das Glas so lange an den Mund, bis sie sich fügte und es austrank.

Grabowskys kalter Schweinebraten schmeckte wie der erlesenste Leckerbissen. In Liebesgeschichten und Romanen pflegen ja Verliebte gewöhnlich über Hunger und Durst erhaben zu sein. Nun, was mich betrifft, so kann ich wohl sagen, ich habe nie mit solchem Appetit gegessen wie bei einem zärtlichen Tete-a-tete.

Auch Karola griff kräftig zu, was meinen Gefühlen für sie nicht den geringsten Abbruch tat. Ich habe, wie man sieht, mit beiden Füßen auf der Erde gestanden und das gleiche auch an den Frauen geschätzt, die ich geliebt und besessen habe. Das ätherische Von-der-Luft-leben so vieler weiblicher Wesen hat mich nie gereizt, und wenn Karola von jener Art gewesen wäre, die durchsichtig wie ein Mondstrahl durchs Leben zu gleiten scheint, so wäre vielleicht diese ganze Geschichte ungeschrieben geblieben.

Statt dessen sah ich zu meinem Vergnügen, wie sie sich das schwarze Landbrot dick mit der gelben Weidebutter bestrich, den weißen Schweinebraten in tüchtigen Schnitten dazu aß und mir, nach dem ersten Sträuben, auch mit dem dunkelroten Bordeaux wacker Bescheid tat.

»Sie sind ein famoses Mädchen!« sagte ich kauend und klopfte ihr wohlgefällig auf den schöngewölbten Nacken, während ich mit der Linken mein Glas an das ihre stieß. »Sie gefallen mir jeden Augenblick besser, Sie kleine, süße, mollige, appetitreiche Schönheit! Recht so! Nur immer zugegriffen! Grabowsky bringt mehr.«

»Ja, ich kann tüchtig essen,« nickte sie und bediente sich von neuem. »Und hier braucht man doch mit der Butter nicht zu sparen. Bei Mama ist das was anderes. Die schmiert so, wie der Barbier einseift. Erst wird bestrichen und dann wieder abgekratzt. So macht's Mama auch.«

Ich mußte mehr noch über ihren Ton und den drollig eifrigen Ausdruck ihres Gesichtes als über den Einfall selbst lachen.

»Also so sparsam ist die Mama?« fragte ich.

»Aber natürlich! Das muß sie doch auch, bei uns acht Frauenzimmern. Die anderen liegen ihr ja alle noch auf dem Halse. Ich bin doch die Älteste.«

»Gewiß auch die Hübscheste!« warf ich ein.

»O nein! Da sind noch ein paar. Die werden auch mal was. Mama ist ja so eine schöne Frau. Auch heute noch. Fragen Sie nur den Konsul.«

Sie warf mir über das Butterbrot weg einen schelmischen Blick zu. Als ich schwieg, fuhr sie lebhaft fort:

»Denken Sie sich, mein jüngstes Schwesterchen ist erst fünf Jahre alt. Denen steht das noch alles bevor, was ich schon hinter mir habe. Die sollen froh sein, solange sie noch Mamas Butterbrot haben ... Butterbrot und Schweinebraten! Ja, den gibt es bei uns nur alle heiligen Zeiten.«

Sie hielt inne und schien über etwas nachzudenken. Dann, als sei es ihr eingefallen:

»Ach überhaupt! Hier so zu sitzen, die alten Bäume und den blauen Himmel über sich, draußen steht der Wagen, man kann fahren, wohin man will, braucht niemanden zu fragen und freut sich, daß man lebt ... Das ist was anderes, als so Abend für Abend in dem alten Kasten auftreten, in dem schmutzigen Elysium. Vormittags die Proben, abends die Vorstellung. Nichts als seine Beine zeigen. Sich angaffen lassen. Die Schuhriegelei von den Kolleginnen, die schon was sind oder sich's einbilden! Am schlimmsten und hochnäsigsten ist natürlich die dumme Kuh, die Direktorin! Und er ... na, von ihm will ich schon gar nicht reden. Er ist wieder zu liebenswürdig ... Oh! Schrecklich!«

Sie hatte die Worte sehr schnell und eifrig und um so drolliger herausgesprudelt, je ernster es ihr damit war.

»Eine hübsche Schilderung!« sagte ich lachend. »Und ich glaubte, Sie seien so gern beim Theater?«

»Aber nicht beim Elysium! Sie haben ja keine Ahnung, wieviel man da einstecken muß. Zuerst hab' ich gedacht, ich ertrag's nicht, diese Schimpfereien, diese Gemeinheiten! Was einem nicht alles an den Kopf geworfen wird! Ach ja, der Mensch hat's nicht leicht.«

»Aber er hält's aus,« setzte ich hinzu, als ich sie mit ihren kleinen, weißen, spitzigen Mauszähnen in das knusperige Butterbrot einbeißen sah, daß man es leise krachen und knacken hörte.

»Ja, Sie haben recht,« nickte sie wieder. »Das sag' ich alles jetzt. Aber wenn ich mir dann wieder denke: Wie gut hast du's eigentlich, daß du bei der Bühne sein kannst, wirst von allen Menschen gesehen und gehört, kannst dich in deiner ganzen Glorie zeigen, von hinten und von vorne, alles, was du hast und bist! Brauchst keinem andern Rechenschaft abzulegen! Andere müssen irgendwo in den Dienst. Werden erst recht geknechtet und geknufft. Und du bist frei wie der Vogel in der Luft. Jeden Abend, wenn der Vorhang aufgeht, kann das Glück auf dich warten. Das große, unbekannte, märchenhafte Glück ... Nein, da möcht' ich mit keinem in der Welt tauschen.«

Sie hatte den Kopf zurückgeworfen. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie fuhr sich mit der Hand über das krause aschblonde Haar.

»Und einmal wird es ja auch kommen,« setzte sie tief aufatmend hinzu. »Einmal wird es auch da sein, das Glück. Das weiß ich genau. Und dann ... dann ...«

Ich ergriff ihre beiden Hände und zog sie auf meinen Schoß. Sie sträubte sich nicht viel und sank halb seitwärts an mich heran.

»Es ist schon da!« flüsterte ich. »Es ist schon da, das Glück!« und fühlte die warme bebende Last ihres weichen Körpers dicht in meinen Armen. Ihr Kopf war nach rückwärts gesunken, ihre Lippen geöffnet, als warteten sie. Und ich beugte mich darüber und küßte diese wartenden Lippen, küßte und küßte sie immer wieder, bis uns beiden der Atem verging.

»Mein Gott, Sie bringen mich ja um!« seufzte sie schwach.

»Siehst du! So sieht es aus, das Glück!« sagte ich und entließ sie mit einem letzten Druck aus meinen Armen.

»Also Sie sind das Glück?« meinte sie mit einem schwachen Lächeln, während sie sich auf ihren Stuhl zurücksetzte und ihre Krinoline glatt strich.

»Hast du dir das nicht gleich gedacht, süße Karola, als du mich an dem Abend in der Loge sahst?«

»Gesehen hab' ich Sie wohl, und daß Sie immer zu mir hinguckten. Aber daß Sie das Glück sind ...«

»Das hast du dir ein bißchen anders vorgestellt, schöne Karola, das Glück, nicht wahr? Mit einem mächtigen Schnauzbart und Sporen an den Stulpstiefeln, nicht wahr?«

Sie sah mich an und schien mich im stillen mit irgendeinem von ihren Traumbildern zu vergleichen. Dann zog sie die Brauen zusammen und sagte, indem sie die Lippen etwas spöttisch aufwarf:

»Ach was weiß man, was das Glück ist! Der Augenblick ist alles. Das ist das Glück.«


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