Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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134 20.

Zu dem Fluch, der auf dem Theaterleben, mehr als Segen, ruht, gehört die Unmöglichkeit, sich ein Leben lang aus dem Banne desselben zu befreien, wenn in ihm auch nur einige wenige Augenblicke genossen wurden, die glücklich waren. Man hat es gesehen und sieht es täglich, wie derjenige, dem ein kurzes Glück in diesem Wirkungskreise lächelte, ewig von demselben zehrt, immer hofft, daß es wiederkehren müsse, immer glaubt, daß es am Wiedererscheinen nur durch zufällige Umstände verhindert wäre, die sich beseitigen lassen würden. Ein Leben voll Entbehrung und Enttäuschung, ja ein Leben voll Schmach und Entwürdigung kann verloren gehen an diese trügerische Hoffnung.

Noch betrat Lucinde die Bühne nicht und blieb dem Verkehr der übrigen Theaterwelt schon um deswillen fern, weil Madame Serlo sich bei allen Entbehrungen für zu erhaben dünkte über die niedere collegialische Sphäre, der sie jetzt immer mehr und mehr angehören mußte. Um so enger war Lucindens Verbindung mit den Serlo's selbst geworden. Manche Gelegenheit, manche Huldigung bot sich, diesen Bann zu brechen. Nichts mehr konnte sie muthig ergreifen. Mit den kummervollen Zuständen dieser Familie schleppte sie sich so hin und Serlo bedurfte ihrer. Sie hätte nie von sich selbst geglaubt, daß sie einer solchen Anhänglichkeit fähig war.

135 Zwischen ihr und Madame Serlo mußte zuletzt offene Fehde ausbrechen. Der Kronsyndikus antwortete auf keinen Brief; die Kleinodien und werthvollen Kleider waren verkauft; jetzt mußte Lucinde das Brot der Armuth theilen. Sie nahm es in Anspruch mit dem Versprechen, alles einst gut zu machen, wenn sie als Schauspielerin auftreten würde; einstweilen unterrichtete sie die Kinder, sie besorgte die Wirthschaft, sie pflegte Serlo. Gerade aber in diesem letztern, immer nöthiger werdenden Amte begegneten sich mit Haß und Eifersucht beide Frauen, die Alternde, die noch Jugend log, und die Jugendliche, die mit neunzehn Jahren schon die Stirn wie eine Matrone runzeln konnte.

Lucinde hatte vom Arzt gehört, daß Serlo's vorauszusehendes Abscheiden vom Leben noch länger gefristet werden könnte bei sorgsamer Pflege. Madame Serlo war davon selbst überzeugt; sie besaß aber jene schroffe Weisheit der ewig Gesunden, die in jeder Klage eines Kranken Uebertreibung sehen. Kaum war sie selbst jemals krank gewesen; sie erklärte das Kranksein für eine »dumme Angewöhnung«. War sie selbst wie ein Fisch im Wasser, so sollte auch alles um sie her ihr Element theilen. Hatte sie sich gebadet, mit Staubregen überrieseln lassen, kam sie trotz ihrer Jahre strahlend und frisch zum Frühstück, so sollte die ganze Welt nur ihrem Beispiel folgen und es würden alle Husten, Katarrhe, besonders aber die eingewurzelten, aus denen doch wol nur Serlo's ganzer Zustand herzuleiten wäre, für immer verschwinden. Serlo lächelte dazu und Lucinde sagte: Wenn aber gerade die eingewurzelte Einbildung schon den ganzen Menschen regiert und ihm noch manchmal ein bischen wohl wird in der Gewißheit, daß man diese seine Schwäche schont? Das eben darf man nicht! erwiderte Madame Serlo. Man darf keine Irrthümer bestärken, darf keinen übeln Gewohnheiten Vorschub leisten! Wenn sich Serlo nur herausreißen könnte, 136 nur herausreißen wollte, es würde ihm und uns allen geholfen sein!

Dies kalte Wort vom »Herausreißen«, vom Emporraffen war das grausam ewig wiederholte, das in Serlo's Ohr schon seit sechs Jahren mit bohrendem Schmerz wühlte. Er liebte glücklicherweise das Leben selbst und versuchte es, ihm Wohlbefinden und Kraft abzugewinnen, ja abzutrotzen. Brach er nach einer solchen Anstrengung, wo er denn wol auch wieder aufzutreten und sich zu Feuer und Begeisterung zu entflammen wagte, wieder zusammen, untersuchten Aerzte das Geräusch seiner Lungen und entfernten sich mit ernsten Mahnungen an die Gattin, an die »Erzieherin« der Kinder, wie Lucinde genannt wurde, so traten Augenblicke einer völligen Muthlosigkeit ein und Serlo ergriff dann oft, wenn er mit Lucinden allein war, ihre Hand und sagte fast weinend: Wenn ich nur nicht in meiner letzten Stunde noch hören muß, daß ich mir zu viel nachgäbe! Das Wort: Reiß' dich heraus! wird mein Grablied werden! Lucinde versicherte: Ich werde bei Ihnen bleiben! Was sie an diesen bemitleidenswerthen Mann fesselte, war sein Unglück und seine Bitterkeit. Sie befand sich in einer Stimmung, die der seinen nicht unähnlich war. War doch auch ihr Leben gleichsam in einen plötzlichen Stillstand gerathen, in einen jähen Sturz oder wie in eine Versandung. Wo war sie hingerathen? Aus solcher Höhe des Glücks! Auch die ersten Reize desjenigen Eindrucks, den man an ihr den elfenartigen genannt, waren geschwunden; sie war jungfräulich geblieben, aber lange nicht mehr so gefällig, so naiv, so lacertenhaft wie einst. Sie legte keinen Werth mehr auf ihr Aeußeres, sie schmückte sich nicht; die Abneigung gegen die Wassertheorie der mit Fischblut, wie sie sagte, belebten Madame Serlo ließ sie die Vorschriften der Ordnung sogar mehr vernachlässigen als billig. Ihre Gestalt bekam etwas Lässiges. 137 Wochenlang verließ sie das Haus nicht mehr. War sie draußen, so sah sie nur zu den Kindern nieder, die sie beim Spazierengehen führte. Sie war muthlos geworden und so vergrämelt wie ein Mädchen, das jeden Augenblick den Stundenschlag erwartet der beginnenden dreißig Jahre. Nahezu zwanzig zählte Lucinde schon; denn fast zwei Jahre führte sie das herumziehende Leben, das sogar Reiz für sie bekam in den täglichen kleinen Abwechselungen der Bühnenchronik, in der lebhaften und feurigen Anwaltschaft für das äußere Interesse der Familie, der sie sich angeschlossen hatte, endlich innerlich in der Parteinahme für Serlo gegen seine Frau. Es gab Scenen der Erbitterung. Oft genug wurde das Wort gesprochen, daß entweder die Frau oder Lucinde gehen müßte. Serlo, der im Leben auf liebevolle Hingebung keine Ansprüche mehr gemacht hatte, der nur glücklich war, daß noch einmal ein Blick, der Handdruck eines theilnehmenden Wesens ihn lohnen konnte für sein Dulden, Serlo vermittelte diesen Zwiespalt, so gut es ging. Um den Frieden wiederherzustellen, hatte er gewisse Hülfsmittel, die nicht fehlschlugen. Er rühmte, was die Kinder in der Musik für Fortschritte machten; Lucinde unterrichtete sie. Er ließ Lucinden Scenen aus classischen Stücken recitiren. Sie sprach sie mit Verständniß, wenn auch kalt und schwunglos. Die Begeisterung wird der Abend und der Anblick der Zuschauer bringen! sagte der Kranke. Er deutete auf die großen Vortheile hin, die ihnen allen würden geboten werden, wenn Lucinde sich endlich entschließen könnte, in das »so verwaiste und so theuer bezahlte Fach der Liebhaberinnen von Gestalt und Schönheit« einzutreten.

War der Friede auf diese Weise wiederhergestellt, so erzählte er mit Gemüthlichkeit von seinem vergangenen Leben. Die Schärfe, die er früher besessen, hatte ihn in der Schule der Leiden immer mehr verlassen, nur die bittere Ironie war ihm geblieben, das 138 Salomonische: Alles ist eitel! Er wollte seine Philosophie des Lebens, daß alles Wahn, alles Verkehrtheit und Narrheit wäre, von seinen frühesten Anfängen her beweisen. Besonders lange verweilte er in der Schilderung seiner ersten Anläufe zur geistlichen Laufbahn. Serlo schilderte die Menschen mit derselben Lebhaftigkeit wie die Gegenden. Seit Jahren führte er Tagebücher und las daraus Stellen vor, über deren Bitterkeit und Satire er oft den Kopf schüttelte, gleichsam als wenn er nicht begreifen konnte, wie er einst so hätte denken und fühlen können. Was er dann las, nannte er abgeschmackt, wahnbethört, oft aber auch wieder, offen sich selbst rühmend, klug und treffend. Manchmal, wenn er beim Blättern auf Thorheiten stieß, auf Racheplane, Anfeindungen, die er selbst erlitten oder angezettelt hatte, sagte er mit vollem Ernst: Ich war damals verrückt! Wir alle sind verrückt! Jeder ist's innerhalb seines eigenen Interesses! Und wir wissen es sogar selbst sehr gut! Mindestens, wenn wir zurückblicken und uns vergegenwärtigen, wie wir damals waren, damals das sagen, das thun konnten! Bei anderm, was er erzählte oder las, sagte er dann mit Rührung über sich selbst: Wie gut das von mir war, wie edel! Darf man sich denn nicht selbst lieb haben? Wenn Madame Serlo zuhörte, was selten geschah – sie hatte zu jeder Zeit, nicht blos Abends, einen Schlaf, der nur: Ich will! zu sagen brauchte und sie schon schnarchen ließ – sagte diese: Nein, lies lieber aus dem allen heraus, daß du sonst mehr Courage hattest! Die könntest du noch haben, wolltest du dich nur herausreißen! Herausreißen! Es war das ewige Wort. Das zerschnitt dann wieder alles.

Einige betrügerische Directionen hatten die Familie bis an den Rand der bittersten Armuth gebracht. Lucinde mußte das Opfer, das sie immer in Aussicht gestellt hatte, jetzt endlich vollziehen und einen Schritt thun, der ihr innerlich widerstrebte. 139 Man unterhandelte mit einem ansehnlichen Theater über ihr erstes Auftreten. Die Umstände hatten es gefügt. daß sie den ersten Schritt an die Lampen gerade in jener Stadt thun sollte, in welcher sie einst von der Frau Hauptmännin von Buschbeck in diese wirre Welt war eingeführt worden.

Diese Stadt wiederzusehen, flößte ihr Schauder ein. Jahre waren vergangen, seit sie dort gelebt. Wie mancher konnte ihrer eingedenk geblieben sein! Ein dunkles Gerücht hatte ihr von ihren beiden letzten Geschwistern kein glückliches Wiedersehen in Aussicht gestellt. Beide Knaben sollten aus dem Waisenhause zu Lehrherren gekommen sein, dann sich schlecht bewährt und sogar schon den Gerichten Gelegenheit gegeben haben, sich mit ihnen zu beschäftigen. In der Schweigsamkeit über ihre Angelegenheiten, die ihr eigen war, sprach sie Serlo nur obenhin vom Vergangenen, kein klares Wort von ihren Besorgnissen, sonst würde dieser sie entweder widerlegt oder die Anknüpfung mit der Bühne gerade dieser Stadt widerrathen haben. Die Verhandlung mit dem Vorstande war schriftlich erfolgt; die persönliche Vorstellung fiel nicht ungünstig aus; Lucinde hatte sich Gewalt angethan und machte einen Eindruck, der etwas versprach. Nach Madame Serlo's kecker Aussage hatte sie sogar bereits auf kleinen Bühnen »sechs bis sieben mal mit glänzendstem Erfolg« gespielt. Sie bekam die Zusage daß sie als Jungfrau von Orleans auftreten dürfte. Auch die Bitte um einen veränderten Namen wurde gewährt.

Madame Serlo konnte diese Entscheidung, die sich noch vierzehn Tage hinzog, am Orte selbst nicht abwarten. Einmal hätte man des bessern Eindrucks wegen eine gute und geräumige Wohnung nehmen müssen, deren Preis die vorräthigen Mittel überschritten haben würde; dann aber auch war ihr eine Stellung angeboten worden bei einem jungen Fürsten, der erst 140 vor kurzem sein Regiment angetreten hatte und für sein Land eine neue Aera beginnen wollte durch Verbesserung des Ballets seines Hoftheaters. Schon war diese unglückliche Familie so weit gekommen, daß sie auf den Erwerb durch ihre Kinder sehen mußte. Diese entschloß sich die Mutter jenem jungen Fürsten für sein Ballet anzubieten. Lucinde verstand von der Welt genug, um den Seufzer und das bittere Lächeln sich deuten zu können, als Serlo dies hinter seinem Rücken gemachte Arrangement erfuhr. Zu krank, um die Reise schon jetzt wieder fortzusetzen, nahm er Abschied von den Seinigen. Als er die Kinder küßte. standen ihm Thränen in den Augen. Er schien die Ahnung zu haben entweder, daß er sie nicht mehr wiedersähe oder welcher Zukunft sie entgegengingen.

In dieser Stadt mußte endlich über Lucinden alles, was an ihrem Lebenshimmel sich düster und unheildrohend zusammengezogen hatte, zu gleicher Zeit ausbrechen. Erst suchte sie niemanden auf, verbarg sich auf ihrem Zimmer, studirte mit ängstlicher Spannung ihre Rolle. Sie fragte sich, ob sie nach der alten Magd sich erkundigen sollte, die ihr zur Einsegnung einst das Gesangbuch geliehen? Ob sie suchen sollte von ihr manches in Erfahrung zu bringen, was sie und die Ihrigen betraf? Es war gefahrvoll für die Stellung, die sie jetzt in der Gesellschaft einnehmen mußte, und doch hätte sie gern von mancherlei gehört, vom Stadtamtmann, von Herrn Guthmann, von der bewußten Dame aus der Gesellschaft, von der bösen Buschbeck, von Oskar Binder, von der Heimat, vor allem von ihren beiden Brüdern. Sie wurde letzteres endlich Serlo schuldig, der ihr die Pflicht, sich um diese, erst jetzt von ihm in Erfahrung gebrachten Geschwister zu bekümmern, als unerläßlich vorschrieb. Sie erwiderte: Warum gerade diesen Kelch, Serlo? Wir sind ein Nest wilder Wasservögel gewesen! Wir flogen aus und hatten 141 keinen Trieb, zusammenzugehören! An unserer Mutter lag's! Wir liebten den Vater, haßten die Mutter, aber unserer aller Art war und ist dennoch nach ihr. Wenigstens zu jener Frau versprach sie zu gehen, bei welcher ihre Schwester gestorben war.

Und da erfuhr sie vielerlei. Der Stadtamtmann war aus politischen Gründen in den Zeiten einer ewigen Gährung beungnadet und versetzt worden; die Frau Hauptmännin war aus der Stadt verschwunden und vielleicht an den Rhein gezogen, wo sie eine Schwester haben sollte. Der junge Commis, mit dem sie vor vier Jahren in die Welt gegangen, verbüßte noch sein Verbrechen des Kassendiebstahls und der Wechselfälschung im Zuchthause; der Kaufmann Guthmann hatte fallirt und war mit jener vornehmen Dame, nachdem er sich von seiner Frau, sie sich von ihrem Gatten hatten scheiden lassen, in die weite Welt gezogen. Ihre eigenen Geschwister? Die hatten nicht gut gethan. Von ihren Meistern kamen sie in eine neuerrichtete Besserungsanstalt im Innern des Landes. Bei allen diesen herzzerreißenden Mittheilungen trommelte es in den Straßen wie sonst und die Querpfeife schrillte und die Commandos der Wachtparade hallten wider und die Brunnen gingen wie sonst und auf dem größten Platze der Stadt riefen die Kinder wie sonst ein berühmtes Echo wach und glänzende Carrossen rasselten aus den Gasthöfen, weil im Lustpark des Fürsten, dem Schauplatz der ersten Triumphe des »Hessenmädchens«, heute, wie sonst, die berühmten Wasser sprangen.

Lucinde kam zu Serlo und sagte: Ich bringe trockenes Reisig zum Einheizen! Winterholz! Ganz wie die alte Lene, die im langen-nauenheimer Forst frei sammeln durfte! Sie erzählte dann.

Serlo erwiderte: Das ist die Welt!

Der Tag kam heran, wo an den Straßenecken zu lesen war: »Die Jungfrau von Orleans. Romantische Tragödie von Schiller. 142 Jeanne d'Arc: Fräulein Konstanze Huber, als Gast.« Sie hatte, sie wußte selbst nicht warum, den Namen des Pfarrers von Eibendorf angenommen. Ihre Befangenheit steigerte sich am Morgen vor dem verhängnißvollen Tage bis zur zaghaftesten Furcht. Man hatte sie im Bureau und auf der Probe mit einer scheinbar zuvorkommenden, dem Erfolg jedenfalls mistrauenden Artigkeit behandelt. Daß man den Versuch überhaupt wagte, war eine Gefälligkeit gegen Serlo, der aus frühern bessern Verhältnissen unter dem Personal einige theilnehmende Freunde hatte. Lucinde brachte von der Probe keine erfreuliche Stimmung heim und erzählte, was sie aus dem Benehmen der Mitspielenden herausgefühlt. Serlo lag auf dem Sopha ausgestreckt – gerade von Tag zu Tag wurde sein Befinden bedenklicher – er sprach mit einer eigenthümlich peinlichen Aufregung:

Nehmen Sie's doch, liebe Freundin, ganz so wie es ist! Gerade da, wo man aus der Verstellung eine Kunst gemacht hat, läßt man sich im gewöhnlichen Leben ganz so gehen. wie man ist! Es gönnt Ihnen eben niemand einen Erfolg, selbst die nicht, die Sie um meinetwillen protegiren! Höchstens eine alte gutmüthige Person, die Sie ankleidet und dabei an ihr Trinkgeld denkt! In dieser Laufbahn muß man sich eben alles selbst erobern!

Lucinde sprach die Befürchtung aus, daß ihre frühern Verhältnisse hier bekannt geworden sein dürften und gegen sie sprechen würden. Sie werden selber für sich sprechen, erwiderte Serlo, wenn Sie nur in Ihrer ersten Scene gefallen haben! Man braucht in dieser Rolle nur laut und deutlich das zu sagen, was vorgeschrieben steht!

Lucinde war am Tage der Vorstellung in der Stimmung, die sie selbst mit der Erwartung verglich, hingerichtet zu werden. Hätte sie nicht den unabweislichen Zwang gehabt, schon auf die kleine Summe rechnen zu müssen, die sie für diesen Abend als 143 Ehrensold zu erwarten hatte – Serlo bedurfte gerade jetzt wieder der sorgsamern ärztlichen Pflege und mancher bessern Auswahl in seiner Kost – sie würde, wie sie sagte, diesen Kelch an sich haben vorübergehen lassen.

Wie sie um vier Uhr sich rüstete, dann ihre Wäsche durch ein gemiethetes Mädchen ins Theater schickte und sich halb zögernd hierauf selbst auf den Weg machen wollte, war Serlo ein wenig eingeschlummert. Sie blickte aufs Sopha. Seine Augen waren geschlossen. Er athmete schwer. Sein Husten, dem nachzugeben die Brust kaum noch Kraft hatte, machte sich nur in stoßweisen Krämpfen bemerkbar, wie bei den intermittirenden Athemzügen eines Sterbenden. Dieser Zustand beunruhigte sie nicht. Sie hatte ihn schon oft erlebt, schon oft hatte man das Erlöschen der Lebensflamme ganz nahe geglaubt. Sie legte dem Schlafenden ein Kissen unter den Kopf, rückte einige Stühle dem Sopha näher und wollte jetzt gehen, so sehr ihr auch beinahe die Sinne schwanden.

Da blickte der Kranke empor. Ich habe Sie ganz wohl gehört, liebe Freundin! hauchte er leise. Ich werde Sie doch so nicht gehen lassen – ohne meinen Segen?

Nun richtete er sich ein wenig auf und sprach mit erhöhter Stimme: Lucinde, wenn Sie spielen, denken Sie nur nicht an die paar Menschen, die Sie vor sich sehen, sondern allein an die Menschheit im großen und ganzen! Verachten Sie die, die Sie sehen, und lieben Sie die, die Sie nicht sehen! Lassen Sie die Hörer fühlen, daß Sie eine Prophetin sind, die in diesem Augenblick jeden beschämen will, der im Gemeinen und Geringen lebt! Das Auge sieht den Himmel offen – es hört keine Dissonanz dieses elenden Lebens mehr! Dort oben, so glauben Sie in dieser Rolle wenigstens, wird alles Harmonie werden! Dort werden wir erfahren, warum wir hienieden die volle schöne 144 Ahnung des Glückes haben durften und doch so viel leiden mußten! So hab' ich als Kind immer den Märtyrern nachgefühlt, wenn die um ihren Glauben so Grauenvolles erfahren mußten. Knien mußt' ich dann in der Einsamkeit und denken: Nun kommt nur heran, ihr römischen Landpfleger und Proconsuln alle! Gebt mir nur die tödliche Wunde! Das wird mich gleich in die Freuden des Paradieses versetzen! Dieser Glaube ist hin. Aber wenn er uns irgend noch einmal aufleben kann, ist es in der Poesie. Blicken Sie nur immer empor und thun Sie sich nichts auf den schönen Harnisch zugute! »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!« Wer da auf Bertrand zuspringt und sich wie eine Amazone geberdet, hat schon verloren! Für diese Seherin, die ihre Zukunft kennt, ist das Ueberbringen dieses alten kriegerischen Schmuckes eine ganz einfache, sich von selbst verstehende Bestätigung ihrer Vision der Gottesmutter. Von da an beginnt in ihr die festeste Zuversicht und eine einfache, demüthige Unterordnung unter den Rath des Verhängnisses! Mit dem Himmel spricht sie, wie andere mit sich selbst. Vergleicht sie ihre schwache Menschenkraft mit der Größe der ihr gestellten Aufgabe, dann darf sie einen elegischen Ton anschlagen, zu dem jedoch die Musik der Verse nicht zu viel verleiten darf. Mitleid mit sich selber fühlt sie, sie spricht es aus, wenn sie Lionel sieht. Warum sie gerade den liebt, nachdem sie Tausende von Männern gesehen – ich weiß es nicht, beste Freundin! Ist es, weil nun doch einmal Lionel vom ersten jugendlichen Helden und Liebhaber gespielt werden muß – obgleich die Rolle undankbar ist – der Dichter wollt' es einmal so. Es ist kein Werk des Genius, dies Drama; es lag dem Schöpfer im Gemüth, nicht im Verstande; es will einfache kindliche Hingebung bei allen – beim Publikum und beim Spieler. Aus diesem Geist heraus sprechen Sie getrost! Dann noch: »Leichte Wolken heben mich!« und geben Sie Acht,

145 Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide!
Hinauf – hinauf – die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!

Jetzt, da Lucinde sich zu ihm niederbeugte, küßte er ihr noch die Stirn, lächelte, neckte sogar, sprach von der Art, wie sie beim Hervorruf sich zu verneigen hätte, rieth ihr Vorsicht an im Gefecht mit Lionel – dann winkte er mit stummer Handbewegung – So ging sie.

In der Garderobe war man freundlich. Darsteller geringerer Rollen machten ihr Lobsprüche über ihr Aussehen als Hirtin; aber bedenklich war ihr schon, daß sie irgendwo zwischen den Coulissen hörte, sie wußte nicht von wem: »Ganz das Hessenmädchen!« Dann saß sie, ehe noch der Vorhang aufging, unterm Drudenbaume. Aus den Coulissen wurde sie lorgnettirt. Gestalt, Kopf, Auge, alles war bedeutungsvoll, wenn nicht zu scharf, zu stechend, auch zu widersprechend der äußern Befangenheit. Der Director ermunterte sie.

Als der Vorhang aufgezogen und der Dialog im Beginn war, durfte sie schweigen. Sie konnte sich Muth fassen, die zahlreich versammelte Menge zu übersehen. Statt jedoch jetzt nach Serlo's Anweisung mit aller Gewalt an die Abwesenden zu denken, in die Höhe und gen Himmel zu blicken, unterschied sie gerade die Anwesenden. Ihr scharfes Auge zeigte ihr diese Persönlichkeit und jene, sie sah die Plätze. wo sie früher selbst gesessen. Ihr Sinn wurde zerstreut und der erste wohlthuende Eindruck, den sie machte, hielt sich nicht. Man fand sie hager, eckig, unsicher, man sah Verstand, wo man Gefühl erwartete. Die begeisterte Kraft eines hohen Willens schien ganz zu fehlen. Das Vorspiel ging wol ohne Störung vorüber, der Ton hinter der Scene wurde jedoch schon spöttisch. Um ihr gleichsam zu schmeicheln und sie für den ausgebliebenen Beifall zu trösten, 146 sprach man laut von der Indolenz des Publikums. Hier und da hörte sie Worte aus der bekannten Parodie des Abschieds Johannens von ihrer Heerde. Auch die Schlußworte wiederholte jemand: »Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!«

In Harnisch und Helm sah Lucinde imposant genug aus. Dies schöne natürliche Haar in schwarzen Locken, diese dunkeln Augen, dieser schlanke, jetzt für die Kriegerin nicht mehr zu hohe Wuchs! Sie hätte sich nur zu ermannen, die Stimme zur Kraft und Entschiedenheit zu erheben brauchen und würde sich vor Demüthigung gerettet haben. Aber sie blieb zerstreut, muthlos, außerhalb der Situation, versäumte die Stichwörter, sah und hörte nur auf das, was sie umgab. Von allem, was Serlo angerathen, that sie das Gegentheil. Sie liebte ja auch die Menschheit nicht, sie haßte sie! So schleppte sie sich durch den ersten Act, schwunglos, und bei aller Schärfe ihres äußern Ausdrucks, ihres Verstandes, bei allem Reichthum ihrer Lebenserfahrung erschien sie ein großes, unreifes Kind. Der Schluß des Actes blieb ohne Beifall, ja er erweckte im ganzen Theater das laute Ausbrechen der Verwunderung.

Hatte sich ihre erste Jugendgeschichte verbreitet, ihr Ursprung von einem Dorfe der Nachbarschaft, ihr Dienstverhältniß im Hause des frühern, exilirten Stadtamtmanns, oder war durch eine Darstellerin der Isabeau das Publikum zur Heiterkeit gestimmt – im zweiten Acte wurde die Aufnahme bedenklich. Das Lager der Engländer wird vorgeführt, der Streit der Heerführer folgt, ihre Aussöhnung. Nun muß dem Darsteller des Lionel einfallen, zu betonen: »Glück zu dem Frieden, den die Furie stiftet!« Es war dies eine von den feinen Nuancen, die entstehen, wenn die sogenannten »denkenden Künstler« zu »denken« anfangen. Alles lachte hellauf. Jeder sah die Erscheinung der corpulenten und so grimmigen Isabeau im Geiste als Furie vor sich. 147 Nun kam die Verwandlung. Johanna sollte Burgund und Frankreich versöhnen. Kein Ton war jedoch Lucinden fremder als der, Streitende zu versöhnen. Bei den schwach gehauchten Worten: »Und einen Donnerkeil führ' ich im Munde« klatschte jemand ironisch. Man lacht aufs neue; sie verliert die Besinnung und kann sich zu den letzten Worten nicht mehr sammeln. Der Vorhang fällt, ehe sie die Scene ganz beendet hatte. Sie taumelt in die Garderobe zurück. Dieser Traum ihres Lebens war wieder zu Ende.

Als der Vorhang aufs neue aufgehen soll und alles um sie her grauenhaft still ist, kommt der Vorstand der Bühne, ein freundlicher, wohlwollender alter Herr, dem die jüngere Generation den Ruf verschaffen wollte, »einen Misgriff nach dem andern« zu machen, und ließ die Frauen aus der Garderobe treten. Er sagte Lucinden mit mildem, aber entschiedenem Tone: Liebes Kind! Sie werden nicht weiter spielen! Auf den Proben konnt' ich diese Unsicherheit nicht erwarten; Sie sind entweder nicht bei der Sache oder talentlos! Unsere gewöhnliche Darstellerin hat sich bereits angekleidet und wird die Rolle zu Ende führen! In dem Augenblick hörte man auch schon den stürmischen Beifall, mit dem die »echte Johanna« empfangen wurde.

An Selbstbeherrschung fehlte es Lucinden nicht. Nun bekam sie Haltung. Doch wenn sie auch hätte in Vorwürfe oder Klagen ausbrechen wollen, der Director würde sie nicht angehört haben. Man rief ihn in die fürstliche Loge. Hohn verfolgte die Unglückliche nicht, als sie sich umgekleidet hatte, ihrem Mädchen ihre Sachen gab und in Begleitung desselben nach Hause ging. Sie mußte die ganze Länge der hintern Bühnenwand passiren und vor allen denen, die zu dem kommenden Krönungszuge gehörten, vor mehr als hundert Menschen, vorübergehen. Der Spott schwieg. Massenhaft verhöhnt der Mensch den Unglücklichen nicht. Einzelne lassen sich zwar den Hufschlag des Esels 148 auch dann nicht nehmen, und so sagte denn auch Einer: Gute Nacht! Da lachten freilich alle, aber nur über den Muth, jetzt einen solchen »Witz« zu machen. Man sah., als sie durch die Leute ging, auf den Sprecher, nicht auf sie.

Lucinde war auf der Straße, in der Dunkelheit der Gassen. Die Menschen, die ihr begegneten, wußten nichts von ihrem Geschick und darin fand ihre starke Natur schon wieder Kraft, schon wieder Anhalt. Nur Serlo wiederzusehen, zu dem so zurückkommen zu müssen – das benahm ihr den Athem. Sie, die sich der Zeit nicht mehr entsinnen konnte, seitdem sie geweint, fühlte. daß sie sich jetzt in Thränenströmen baden müßte, wenn sie in sein Zimmer träte, der Schein der kleinen Lampe, bei dem er zu schlafen pflegte, auf sein Antlitz fallen würde und sie ihm berichten müßte, wie es ihr ergangen –

Mühsam stieg sie, keuchend, an der Lehne der Treppe sich haltend und die erstaunten Fragen der Dienerin, die aufrichtig gemeinten Trostgründe derselben, die von einer angelegten Kabale sprach, nur mit Stillschweigen aufnehmend, in ihre Wohnung hinauf. Je näher sie dem dritten Stock kam, desto schneller ging sie. So hatte sie nie noch das Bedürfniß gehabt nach einer Stelle, um niederzusinken, so nie noch nach einem Menschen, dem sich auszuweinen, so nie die Wonnen des Trostes geahnt, der in einer einzigen rein, aber auch ganz rein und selbstlos, mitfühlenden Seele liegen kann.

Niemand von den Wirthsleuten, bei denen sie wohnte, hörte sie kommen. Alles war im Theater! Sie drückt die Thür auf, sie stürzt auf das Sopha zu, sie hat ihre ganze Kraft in dem Hülferuf: »Serlo!« gesammelt –

Der lag, von der kleinen Lampe beschienen, auf dem Sopha – Er schlief nicht mehr – Stirne, Wange, Hand waren kalt –

Er war todt.


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