Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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11 2.

Da sitzt sie denn nun, die »lange Latte«, die »Aufgespillerte«, die »Dreege« (Magere), mit ihren um den kleinen Kopf gewundenen schwarzen Zöpflein, ganz das Abbild ihrer seligen Mutter, einer Feldwebeltochter, deren Vater in der Residenz ein silbernes Porteépée hatte tragen dürfen und der sich unter dem »dummen Bauernvolk« als civilversorgter Kreissteueramtscontrolschreibereiassistent einen Steuerrath selbst gedünkt hatte. Trotzig und scheu, ängstlich und fest, nicht mit Absicht, sondern von Natur so gemischt, hockte das halbreife Mädchen in einem verwaschenen, ehemals röthlich gewesenen Kattunkleide, das ihr schon lange zu kurz und zu eng geworden war, in der Ecke der Kalesche, die langsam die Anhöhen hinaufschleicht, geführt von einem halbwüchsigen Burschen, der die Gäule – sie waren gemiethete, wie der Wagen – schonen soll.

Die alte Dame, die ihr zuspricht sich nicht zu fürchten, sondern der glänzendsten und besten Schicksale gewiß zu sein, ist einem »Nachtmahr« nicht unähnlich. Wenigstens hat sie eine Nase, die in einer beständigen Neigung scheint, auf das vorgestreckte Kinn einen zärtlichen Kuß zu drücken. Zwischendurch ist nach den allgemeinen Gesetzen der Natur, insoweit sie sich auf die Bildung eines menschlichen Antlitzes erstrecken, bei dieser edeln Frau ein Mund anzunehmen; doch suchte man vergeblich nach 12 etwas, was wie zwei Lippen ausgesehen hätte. Sind wirklich die Versinnlichungen solcher Begriffe zwischen der liebevollen Nasen- und Kinnbegegnung der fremden Dame vorhanden, so preßt doch die glückliche Inhaberin derselben sie so zusammen, daß sie nach oben in der Nase, nach unten im Kinn gleichsam mit aufgegangen scheinen. Versucht die Dame ferner, was sie oft thut, über die Oeffnung, so man Mund nennt, ein Lächeln zu zaubern, so sieht man einige Zähne, einsam ragend, wie die geköpften Weidenstumpfe an den Bächlein, die man zu passiren hat. Die Sprache der Dame ist hochdeutsch, soweit ein gewisses Röcheln und Schnurren unartikulirter Zwischentöne es erkennen läßt, sonst sogar was man gewählt nennt und »nicht frei von Bildung«. Leider kommt diese Sprache aber so seltsam zu Gehör, als wenn sich jeder Satz in den innern Gängen der Brust verlor. Wie die herabgelassene Eimerkette eines großen Ziehbrunnens verrollten die hübschesten Anfänge ihrer Reden für das aufmerksame Ohr des sie zuweilen ebenso unheimlich anschielenden Kindes in dunkle und unverständliche Abgründe.

Den Namen ihrer Wohlthäterin und ihren Stand kannte Lucinde, die bereits hinter Langen-Nauenheim der Bequemlichkeit wegen kurzweg in Henriette und hinter dem ersten Nachbardorfe schon noch kürzer in Jette umgetauft wurde. Sie fuhr mit der verwitweten Frau »Hauptmännin« von Buschbeck. Die Dame behauptete in der Nähe auf irgendeinem Rittergute Kapitalien liegen zu haben, welches »Liegen« Lucinde (oder müssen wir auch sagen Henriette?) sich ganz figürlich vorstellte. Woher kam diese Bekanntschaft? Beim Vorbeifahren an Langen-Nauenheim wollte sich die Frau Hauptmännin kürzlich über den Dorfsegen ergötzt haben, der gerade aus dem Schulhause strömte, an den lachenden fröhlichen Kindern, und am meisten wäre ihr, hatte sie gesagt, »Lieb-Jettchen's« Erscheinung aufgefallen, als diese die Kinder gerade 13 aus der Thür entließ und jedem, der nicht Ordre parirte, tüchtig – sie erzählte das soeben lebendig und mit manchem wohlwollenden, leider im Husten erstickenden Hi! Hi! noch einmal, – einen »Starnicksel« mit auf den Weg gab. Denn Ordnung – muß sein! röchelte die Hauptmännin, als der Eimer ihrer Stimme wieder aus dem Brunnen herauskam, und fügte dann nach und nach hinzu:

Setz dich aber gerade, Kind! Schlag mir nicht die Beine so übereinander, langes Ding! Ja, sauge doch nicht so an den Nägeln, Kerl! Guck mir doch nicht zum Schlag hinaus, wenn ich dir's nicht befohlen habe, du –! Ach was, ach was! Nenn mich meine liebe gnädige Frau! Hm, Hm! Lieb-Jettchen! Ja, zieh mir einmal die Schuhe aus, ich glaube, es ist mir ein Stein hineingekommen! Kind, kratz mir ein bissel den Rücken, ich glaube, ich habe was aufgegriffen unter euch verfluch– oder 's ist mein gewöhnlicher Rheumatismus! So, Jette! So! Ha! ha! Ein solcher Name: Lucinde! Wer soll denn das aussprechen! Solche Schullehrermucken! Halt dich gerade, sag' ich! Sitz mir nicht so krummpuckelig! So! Brav! Na! wir werden schon einig werden!

Lucinde that mit Ergebung alles, was ihr auf diese seltsame Art befohlen wurde.

Die gnädige Frau von Buschbeck hatte bei ihrer letzten Bewunderung des langen-nauenheimer Kindersegens dem Vater den Vorschlag gemacht, Lucindens unter allen hervorragende Erscheinung in die große Stadt mitzunehmen, sie wie ihr Kind behandeln zu wollen, sie ausbilden, erziehen, in Musik und Sprachen, schönen Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen. Lucinde hatte dem überraschten und geschmeichelten Vater gelobt, dieser wunderbaren Frau, die auf den Feldern hier ringsum die Kapitalien »liegen« hatte, unbedingt zu folgen und sich zu fügen 14 in allem und in jedem und so ihr Glück zu machen, »was man in Langen-Nauenheim bekanntlich nicht machen könne«, wie er dann selbst hinzumurmelte. Lucinde hatte dabei gedacht: »Wie weit Amerika ist (wo manche Langen-Nauenheimer schon versucht hatten ihr Glück zu machen) das weiß ich!« Sie dankte daher auch, nach dem Ausdruck ihres Vaters, »ihrem Schöpfer«, daß eine solche Frau sich gefunden, die sie so ohne weiteres und geradezu innerhalb fünf Stunden aus dem Nest mit sich heraus und in die Welt nahm. Um elf Uhr hatte die fremde Dame den »Kindersegen« wiederum bewundert, um ein Viertel auf zwölf Uhr die Vorschläge gemacht, um vier Uhr kam sie von den Gütern zurück, auf denen sie Kapitalien »liegen« hatte, die Bedenkzeit, die sie gelassen, war verstrichen, der erste Widerstand Lucindens nicht hartnäckig, ausgenommen was ihre Tauben anbelangte. Diese, wie gesagt und wie wir auf dem Verdeck hören können, nahm sie mit, und so hatte Lucinde nicht einmal vorher noch dem Pfarrer, bei dem sie in »Kinderlehre« ging, oder der Frau Pfarrerin Abschied gesagt, ja nicht einmal gegessen und getrunken. Das Letztere war vorläufig das Schlimmste. Sie suchte der gnädigen Frau den Stein aus dem Schuh, sie kratzte ihr den Rücken, sie hörte nicht blos auf Jettchen, sondern sogar schon auf Jette, nun aber bekannte sie auch, daß sie nichts gegessen und getrunken hätte. Na, das war ja gerade das, wonach die Frau Hauptmännin schon lange hatte fragen wollen, denn ihrerseits behauptete sie auch, zwar nicht Hunger, aber Durst zu haben, doch im nächsten Orte gäbe es ein vortreffliches Wirthshaus, und daselbst ein vortreffliches Bier; und als sie näher kamen, entdeckte sie, daß sie einen andern Ort gemeint hatte – das Wirthshaus da, das kenne sie, – da wäre alles schlecht, das Bier, die Milch, und da ihr selbst der Durst inzwischen vergangen war, so schickte sie die Jette blos an den Brunnen. Die hatte da nun wieder 15 kein Gefäß, aber sie trank aus der hohlen Hand. Daß sie auch Hunger hatte, war in der liebevollen und gründlichen Erörterung über ihren Durst vergessen worden.

Es war schon Abend, als die Kutsche endlich in der Residenz anlangte. Die Laternen brannten schon, nach Ansicht mancher Opponenten der Communalverwaltung sehr düster und sehr sparsam; für Lucinden war's Feenbeleuchtung. Der arme Tropf sah sich wirklich an den himmelhohen Gebäuden, an den Lichtern, an den Carrossen und den vielen Menschen »satt«. wenn auch die Frau Hauptmännin, als die müde Kalesche so schlaftrunken über das Straßenpflaster hintaumelte, jetzt ein Nachtessen, das sie sogar ins Französische übersetzte und Souper nannte, in glänzende Aussicht stellte.

Die Passagiere hielten dann in einer der lebhaftesten Straßen. Lucinde und der junge Wagenlenker luden das Gepäck ab, auch die Eier, auch die Zwetschen, auch den Bienenhelm und vor allem den Taubenschlag. Alles kam durch gemeinschaftliche Anstrengung drei Treppen hoch hinauf. Niemand oben empfing sie. Lucinde mußte vor einer verschlossenen Thür die Herrlichkeiten hüten, bis die Frau Hauptmännin erst nachgekommen war. Und sie kam dann mit den heftigsten Verwünschungen über die Höhe des Trinkgeldes, das der kleine Knirps von Kutscher gefordert hatte. Dazu die drei Treppen; sie brauchte Zeit, bis sie sich sammeln und das Vorlegeschloß ihrer Wohnung prüfen konnte. Nachdem dies geschehen und genug gerüttelt und gerasselt worden war, schloß sie auf und Lucinde trat in einen kleinen Gang, zu dessen Rechten die Küche lag. Hier machte die vornehme Dame Licht und beaufsichtigte den weitern Transport des Mitgebrachten. Beim Verschließen der Eier im Küchenschrank beleuchtete sie einen steinhart gewordenen Laib Brot. Ja so! sagte sie. Unser Souper! Da, Jettchen, rasch! Flink! 16 Drüben im Laden! Wo ist denn meine Börse! Hole – hier!

Lucinde sollte rasch hinunterspringen und gegenüber in einem Laden frisches Brot holen, auch von nebenan Butter und von noch weiter nebenan aus einem Keller Rettiche, die delicat schmeckten, besonders wenn man, sagte Frau von Buschbeck, einen Salat draus machte mit Essig und Oel . . . Wie das alles so wonnig mundete! Als aber Lucinde schon im Gehen war und noch einmal zurückkehrte, weil sie das Geld ja vergessen hatte, sagte die freundliche, liebevolle Dame:

Kindchen, bist doch wol zu müde, wol auch zu fremd, und wirst's wol nicht finden.

Nun schnitt sie schon von dem alten Brote vor und holte aus einem andern Schrank mit kostbarem Porzellan von buntgemaltem meißener Rococo ein allerliebst geformtes Näpfchen, freilich nur mit Salz gefüllt. Aber, »Salz und Brot macht die Wangen roth!« sagte sie lachend, und – Lucinde aß Salz und Brot.

Doch da purren und gurren ja noch die lieben Täublein in dem Waschkorbe! Den armen Dingerchen muß drinnen recht bang geworden sein und verschmachtet sind sie gewiß auch. Morgen sollte der Tischler kommen, hatte es auf der Landstraße geheißen, und sollte auf dem Dach eine wundervolle Vorrichtung treffen, einen Taubenschlag, der nie einen Marder zulassen würde. Einstweilen aber wurde jetzt die Höhlung unter dem Feuerherd ausgeräumt und eins nach dem andern von vierzehn der trefflichsten veredelten Feldflüchter in diese unbequeme Wohnung eingelassen. Einen Vorbau machte man aus umgekehrten Schemeln, Besen, ausgebreiteten Scheuerlappen. Die »gnädige Frau« lachte ganz vergnüglich über die lieben Thierlein, nahm den Sack mit Zwetschen und ging erst jetzt in ihre vordern Zimmer. Auch 17 hier erfolgte erst die Prüfung der vorgelegten Schlösser. Auch hier erfolgte erst ein behutsames Aufschließen und ebenso sorgfältiges Wiederanziehen der geöffneten Thür. Lucinde wurde nicht aufgefordert zu folgen.

Da stand sie nun, todmüde, in der linken Hand ihr hartes Brot, in der rechten eine Küchenlampe. Sie durfte nicht näher kommen, weil erst gestern gescheuert worden war, und die Decken lagen noch nicht wieder, die kostbaren, zusammengerollten, über die Lucinde einigemal im Vorsaal gestolpert war. Es verging wol eine Viertelstunde, bis die Frau Hauptmännin zurückkehrte und Licht gemacht hatte. Wie sie sah, daß Lucinde so im Vorsaal stand und unnützerweise den leeren Wänden leuchtete, sagte sie:

Donnerwetter, Kind, das Oel ist theuer! Du kannst jetzt zur Ruhe gehen!

In der Küche gab es noch einen gemüthlichen Verschlag in die Mauer hinein. Dort öffnete die gnädige Frau und zeigte Lucinden etwas, was wie ein Bett aussah. »Jettchen« allerdings war so müde, daß sie nicht einmal ihre Bewunderung vor diesem Bette, das man wieder unsichtbar machen konnte durch zwei Thürflügel, aussprach. Sie war nur froh, den mitgenommenen Vorrath von Erbsen, den sie vorhin ausgeschüttet hatte, unterm Feuerherde verknuspern zu hören; ein paar ihr sehr liebe Kropftauben gurgelten ihre Atzung ganz hörbar hinunter.

Na, und nun kleide dich aus! Gute Nacht! Schlaf nicht zu lange! Träume gut! Sage: Ich wünsche Ihnen wohl zu schlafen, meine liebe gnädige Frau! Na, wird's? Nein, ordentlich! Ich – wünsche – Ihnen – wohl – zu – schlafen, – meine – liebe – gnädige – Frau! So! Das war recht! O, wir verstehen uns schon! Wir passen zusammen! Um fünf Uhr aber Reveille! Verstanden? Gute Nacht!

Ahnend, was Reveille sagen wollte, und doch recht 18 ungewiß, ob sie wirklich am Ziel der verheißenen Seligkeiten war, ging Lucinde, sich reckend und dehnend, barfuß und im Hemde, noch einmal nach vorn und sah durch die Glasthür. Der Vorhang ließ ein Ritzlein offen, durch das sie hindurchschielte. Ei, kaut nicht die gnädige Frau gerade ihre Zwetschen frisch aus dem Sack heraus? Es muß doch wol sein, wenn's auch ein Anblick war, als wenn zwei concentrische Mühlräder sich umeinander drehten, nur jedes nach entgegengesetzter Richtung hin . . . Und wie die Zwetschen auch schwierig zu schroten waren, so mundeten sie der gnädigen Frau doch vortrefflich, sodaß sie schon einen Haufen Steine vor sich hin und zwar sehr sauber auf ein Papier gelegt hatte. Sie hielt offenbar ihr »Souper« und blinzelte dabei so listig mit den Augen ringsum wie eine Katze, die sich auf ihre nächtliche Wanderung nach Mäusen freut, und sonderbar – auch mit den Steinen liebäugelte sie, als wenn die der lockendste Speck wären, an den noch jemand anderes anbeißen sollte. Und endlich gar noch sonderbarer! Wenn die schwarzen Augen der gnädigen Frau einen recht stechenden Glanz bekamen, dann schien sie ganz blind zu werden. Lucinde wußte das schon aus Vorkommnissen der Reise; auch sie beobachtete scharf. Jetzt bewegte sich der Vorhang. Rasch schlich sie zur Küche zurück, wo sie sich ihren Bettkasten heraustappte und sich zusammengekrümmt auf einen Strohsack niederwarf. Die Lade war zu kurz für ihren aufgeschossenen Wuchs. Doch entschlummerte sie bald; ja, sie hatte sogar die angenehme Ahnung – morgen in der Frühe Wonnen des Paradieses zu entdecken.


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