Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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60 7.

In dieser Stellung blieb Lucinde wol eine Stunde.

Oft schon hatte sie versteckt auf Bäumen gesessen, aber in solcher Angst und Kraftlosigkeit noch nie. Mit den über einen gewaltigen Ast ausgelegten Armen hing sie mehr, als sie auf einem untern mit den Füßen stand. Der Schweiß, der ihr von der Stirn troff, mußte ihr gut thun; sie behielt wenigstens die Besinnung und diese lieh dem Körper Kraft.

Lang hingen die Haare, das weiße Kleid war zerfetzt, ihr rother Shawl war irgendwo hängen geblieben. Ihr ganzes Sinnenleben spitzte sich nur auf das Gehör zu. Wenn ihr Auge über etwas funkelte, war es ein Blatt, das rauschte, ein Käfer, der summte.

Sie besann sich sogleich darauf, daß sie ungewiß sein konnte, ob sie so mehr vor den Häschern als vor ihrem Begleiter geflohen war. Als sie nichts hörte, keine Menschentritte, kein Geräusch von Waffen, konnte sie endlich die Miene so verziehen, daß die weißen Zähne eine Weile hervorstanden, wie immer, wenn sie spöttisch lachte. Es war ein Lachen, das den Reiz zum Weinen unterdrücken sollte. Es war ein Lachen, das allmählich in ihrem Innern so platzgriff, daß es sich auch äußerlich geltend machte. Sie lachte, wie die Verzweiflung pflegt, wenn sie nicht mehr aus noch ein kann. Sie überlegte, was nun alles 61 kommen konnte! Wenn sie aus dieser Lage nichts Neues und Unerwartetes erlöste, sah sie Demüthigungen entgegen, die grauenhaft waren.

Alles blieb still . . . Sie traute sich die Kraft zu, niederzusteigen.

Der Gedanke: Wie, wenn sie durch die Nacht so hinwandern könnte, durch die Wälder, die Berge, über die Meere – bis Amerika! der stand ihr so lange bei, bis sie wieder auf ebenem Boden war und dann freilich bald vor Erschöpfung zusammensank. Sie hatte seit dem gestrigen Tage keine Nahrung zu sich genommen. Nun lag sie kraftlos und griff nach den Zweigen der Sträucher über sich und beugte diese zu sich nieder, hoffend auf Erquickung. Nirgends eine Frucht. Etwas weiter sah sie Erdbeerbüsche, aber schon waren die Früchte abgestreift. Dies bewies ihr wenigstens Menschennähe. So lag sie lange; sie legte den Kopf über die gekreuzten Arme und schmachtete so hin.

Seit lange hatte sie solche Einsamkeit auch ihres Innern nicht gefühlt. Doch mit Thränen konnte ihre Natur sich nicht helfen. Vor acht Tagen – da hätte sie – beinahe geweint, als sie das Haus des edeln Mannes, des Stadtamtmanns, verließ. Da auch weinte sie, als die alte Köchin im obern Stock, von der sie Abschied nahm, tröstend und doch kopfschüttelnd gesagt hatte: Jettchen, Jettchen, Sie werden noch Traurigeres in der Welt erleben, als das ist! Sie hatte schon seit lange nicht mit der Alten gesprochen, weil sie zu stolz geworden war. Aber lange hatte die Rührung nicht gedauert. Sie wühlte schon damals nach einer Genugthuung. Da sich keine fand, da ihr überall der Weg versperrt war nach der Seite hin, wo allein ihrem Stolze genügt werden konnte, so war sie bereit gewesen, das Netz, das sie überspann, zu zerreißen und mit Oskar Binder in die weite Welt zu gehen. Wie das so war und werden konnte, hatte sie 62 nicht besonders überlegt. Nun sah sie's und neu genug waren die Folgen. Jetzt blickte sie in einem Walde einsam hinein in Moos, Farrnkräuter, Sträuche mit Blüten und Beeren, die zum Herbste reiften –! Was ihr wol dieser Herbst noch bringen wird!

Aber zunächst galt ihr Blick dem Wald. Die kleinen Käfer und Insekten um sie her konnte sie noch verfolgen, wie sie sprangen und sich kugelten und auf Halme kletterten, die am Gewichte derselben zusammenknickten. Es regt sich doch alles, es nährt sich doch alles! Das zu denken, auch jetzt zu denken, war längst ihre Art, und so elend ihr zu Muthe blieb, aufstehen würde sie doch, dachte sie, wenn nicht gleich jetzt, doch noch vor Abend; und zurückdenken mochte sie am wenigsten; aufrichtig beklagen, sich etwas vorwerfen, bereuen, das hatte sie nie vermocht, und wenn sie sonst gestraft worden war, Thränen kannte sie auch da nicht. Ihr Vater weinte dann wol statt ihrer und seufzte: Ganz wie die Mutter!

Nach einer halbstündigen Ruhe raffte sie sich auch wieder in die Höhe. Sie ordnete ihr Haar, soweit es ging, erschrak zwar über den Zustand ihres Kleides, versuchte jedoch weiter zu kommen. Sie hielt sich an die Zweige und Stämme. Einen Weg fand sie nicht. Sie war tief im Dickicht und doch war ihr's manchmal, als läutete von irgendwoher eine Glocke. Dann war's blos wieder ein Summen im Grase oder im Ohre. Einige hundert Schritte brachte sie so vorwärts; weiter trug sie nun ihre Kraft nicht mehr.

Es war an einem wunderschönen Platze, wo sie zusammensank. Der Wald wurde hier lichter, die Birken ragten wieder, Erlen und auch Weiden kamen. In der Ferne sah sie sogar noch Schilf, dicht verwachsen; nun mußte ein Wasser kommen. Sogar Schwalben schossen daher, die sonst im Walde nicht wohnen. Auch eine Lerche wirbelte ein Abendlied in der Luft. Aus dem 63 Schilfe blickte manche dunkelblaue Blume ihr entgegen. Weiße Nymphäen sah sie auf kleinen Wässerchen. Das Gras um sie her war von Vergißmeinnicht gezeichnet. Aber immer müder und müder wurde ihr zu Muth. Rings der große schweigende Kranz des Waldes, hier ein kleines Wassereiland, darüber der blaue Himmel mit einigen wie durchsichtigen Rosenwölkchen in allerhöchster Höhe. Sie blickte noch einmal empor, dann faßte sie, wie um sich zu halten, einen Büschel blauer Glockenblumen und lag nun so, diese in der Hand haltend, ohne Bewußtsein. Eine grüne, behend dahinschlängelnde Eidechse, die sie im Sinken unter einem feuchten, moosbewachsenen Steine aufscheuchte, sah sie wol noch, aber sie fürchtete sie nicht mehr.

Als Lucinde erwachte, war es dunkler Abend.

Ihre Ohnmacht war in Schlummer übergegangen. Sie erwachte an derselben Stelle.

Obgleich sie schwer geträumt hatte und im Traume weit entrückt gewesen war in ferne Lande, so erkannte sie doch sogleich den Ort wieder trotz der Dunkelheit.

Nur Gesellschaft hatte sich eingefunden. Es saß ein Mann neben ihr.

Es war ein ihr völlig Fremder und doch erfüllte er sie nicht im mindesten mit Schrecken.

Seine Geberde war auch zu sprechend für die Gefahrlosigkeit seiner Nähe und seiner Absicht. Er lag auf den Knieen, faltete die Hände, die er lässig niedergleiten ließ, und betrachtete die Erwachende, wie wenn er eine überirdische Erscheinung angebetet hätte.

Ihr Erwachen schien den Fremden mit großer Freude zu erfüllen. Er war hoch und stark, ein Mann eher noch in jungen als in mittlern Jahren. Sein Antlitz, soweit der schon nächtlich gedunkelte Abend erkennen ließ, war voll, geröthet, beides 64 fast im Uebermaß. Die Art und Farbe der Augen ließ sich vor dem Schirm einer leichten Sommermütze, die er trug, nicht erkennen. Auch seine übrige Tracht war von leichtem, hellem Sommerstoffe, bis hinunter zu den Gamaschen, die er trug. Das Halstuch war mit einem Ring zusammengebunden, dessen weiße Steine wunderbar funkelten. Eine schwere goldene Kette hing über die offene Brust hinweg über ein sauber gefälteltes Hemd. Von der grünen Waldeseinsamkeit stachen die weißen Glacéehandschuhe ab, die auch dieser Fremde wie Oskar Binder trug und trotz seines Knieens und seiner wie anbetenden Geberde nicht ausgezogen hatte.

Noch ehe Lucinde sich in diesen seltsamen Anblick gefunden, wurde sie von dem fremden Manne angeredet. Es war in einer fremden Sprache, die aber einige deutsche Laute untermischt hatte, und das so richtige und volltönende Laute, wie wenn ihm jene doch nicht recht geläufig war.

Die sich gleichbleibende Stellung und ehrfurchtsvolle Anrede des Fremden überraschte Lucinden jetzt so, daß sie sich erhob und einige Worte sprach:

Wer sind Sie? Wo bin ich?

In diesem Augenblick kamen aber auch schon aus dem Walde einige Leute und brachten einen großen Tragsessel. Ein älterer, schwarzgekleideter Mann führte sie und näherte sich mit Anweisung der Stelle, wohin sie ihm mit dem Sessel folgen sollten. Da er Lucinden schon aufgestanden und jetzt wie auf der Flucht fand, rief er ihr entgegen:

Mein junges Kind! Fürchten Sie sich nicht! Sie sehen hier nur die Sorge des Herrn Kammerherrn! Wir waren im Begriff, Sie auf diesem Stuhl in meine Wohnung zu bringen!

Lucinde war sich ihrer eigenen Abenteuerlichkeit zu sehr bewußt; 65 wie hätte sie von den Männern, statt Aufklärungen zu geben, welche verlangen können –!

Sie müssen ermüdet sein! Setzen Sie sich! Diese Leute sind stark genug, Sie den Weg, der nicht zu kurz ist, in meine Wohnung zu tragen!

Wiederholt sprach so der Neuhinzugekommene, ein hagerer, langer Mann, von gelassenem Wesen. Sie mußte nach Tracht und Haltung in ihm einen Dorfgeistlichen vermuthen.

Der als Kammerherr Bezeichnete war aufgestanden und hielt sich immer nur in einiger Entfernung, faltete die Hände und betrachtete Lucinden wie ein Wunder, das sie in dieser Umgebung, in ihrem wilden und doch wieder eleganten Aufzuge allerdings war. Ermüdet und schwach bis zum Umsinken, ließ sie sich die Dienstleistungen der Leute gefallen, duldete, daß man sie auf den Sessel hob, diesen dann kräftig erfaßte und sie so aus dem jetzt schon vom Monde beschienenen und von Leuchtkäfern und schwärmenden Phalänen belebten Schilfmoor in den dunkeln Wald zurücktrug. Dabei sprachen die Träger nichts als was zur Verständigung des bessern Handhabens des Stuhles gehörte; auch die beiden andern, der Kammerherr und der, den sie für einen Geistlichen hielt, folgten schweigend.

Lucinde, so dahingetragen den schmalen düstern Waldweg, glaubte noch immer zu träumen, und doch war alles Wirklichkeit. Diese geisterhaften Lichter, die der Mond zwischen die hohen Stämme warf, waren zu natürliche. Das Gefühl, einer neuen Gefahr entgegenzugehen, konnte hier nicht aufkommen. Die beiden Männer blieben zwar in lebhaftem, wie sie hörte, jetzt in vollkommenem Deutsch geführten Gespräch zurück, aber die gutmüthigen Mienen ihrer Träger ließen auf ehrliche Dorfbewohner schließen.

Lucinde war so angegriffen, daß sie mit sich geschehen ließ, 66 was man thun wollte. Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels und hörte nur. Endlich vernahm sie das Schlagen einer Thurmuhr und Hundegebell. Sich ein wenig aufrichtend, sah sie einige Lichter blinken, auf die man in gleichmäßiger Bewegung zuschritt. Der kleine Zug kam in ein stilles, schon in nächtlicher Ruhe sich wiegendes Dorf. Die hintern Begleiter hatten eine Straße abgeschnitten und waren den Trägern voraus. An der Kirche lag ein stattliches Haus, welchem letztere durch ein zur Seite liegendes großes Hofthor schneller beikommen wollten; doch der Kammerherr sprang heran und rief ein gellendes: Nein! indem er auf den Haupteingang des Hauses selbst zeigte. Seine Gestalt und Stimme gewährte in diesem Augenblick einen ängstlichen Eindruck. Lucinde hätte gewünscht, von ihm minder geräuschvoll geehrt zu werden.

Daß sie sich in einem evangelischen Pfarrhause befand, bemerkte sie bald an der Umgebung, die immer lebhafter und zahlreicher wurde. Eine freundliche Frau beklagte sie, erklärte sie ohne Zweifel für verirrt, für krank, und rühmte den Kammerherrn, der eine Unglückliche entdeckt hätte, die an jener Stelle im Walde unfehlbar die Nacht würde haben verbleiben und sich vollends verderben müssen.

Man trug Lucinden eine Treppe hinauf, in ein zwar niedriges, aber freundliches und sehr geräumiges Zimmer, neben welchem ein Cabinet mit Bett sich befand. Alles war schon hergerichtet zu ihrem Empfang. Jeder griff zu, jeder bot ihr Hülfleistung; nur der Kammerherr stand unausgesetzt von fern und betrachtete, was er sah, wie eine Märchenerscheinung. Jetzt übersah Lucinde die ganze lange, starke, breitschulterige Persönlichkeit, deren zartes, fast süßes Benehmen mit diesem Aeußern in einem fast komischen Contraste stand. Ihre Erklärung, daß sie sich verirrt hätte, genügte vorläufig und verhinderte alle weitere Nachforschung. Man 67 war bedacht, sie mit Speise und Trank zu versorgen und ihr die Ruhe eines weichen Lagers zu gönnen. Auch unterwarf sie sich jedem, was man zu ihrer Stärkung und Bequemlichkeit ersann. Sie war das willenlose Echo jedes gesprochenen Wortes bis auf ein: Gute Nacht! das man ihr zurückließ und das sie ebenso erwiderte. Sie hörte noch etwas wie den gezogenen Ton eines Wächterhorns und entschlief.


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