Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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42 16.

Von jenem Uferrande aus, an welchem der Deichgraf in seinen jüngern Jahren, nach dem Ausdruck seines Sohnes, die Sandkörner zu zählen pflegte, gewährt Hamburg einen großartigen Anblick.

Eine zweite nicht unansehnliche Stadt, Altona, ist ihr eng verbunden. Thürme, hohe Giebel, Dampfessen, Krahnen und zahllose Schiffsmasten ragen fernhin im wirren Durcheinander empor. Auf der Woge kreuzen sich mit rothen Segeln die kleinen Ever, die, von kraftvollen Ruderern geführt, die Kauffahrteischiffe behend umschlüpfen und vermeiden.

Beim Landen tritt man in eine Welt, die sich ihrer Geschichte und Bedeutung bewußt ist. Diese Straßen und Plätze, diese Vorstädte und Hafenkais sind Lungen, die ihre Luft nicht aus dem kleinen Binnenleben der Nachbarschaft, sondern aus dem unermeßlichen Ocean schöpfen, aus Verbindungen mit England und Amerika und mit letzterem im Norden und im Süden.

Bringe niemand die Anschauungen einer deutschen Residenz oder Provinzialstadt mit! Der Matrose, der Everführer, der Schiffsabläder, der Packknecht, der Hausirer, der Karrenschieber nehmen die nächste Bequemlichkeit der Straße für sich in Anspruch und schleudern mit eingestemmten Armen den, der etwa auf sein Spazierstöckchen mit goldenem Knopf oder seine 43 Glacéehandschuhe als Berechtigung zu Ausnahmezuständen verweisen möchte, in souveräner Machtvollkommenheit auf die Seite; glücklich, wer noch dabei in einen Kram getrockneter Feigen oder frischer Orangen fällt, nicht in eine der englischen Gesundheitsgeschirr- und Wedgewood-Niederlagen, die man an den offenen Straßenecken oder auf ambulanten Karren feil hält.

Vor dem Brande lag die Börse in dem jetzt verschwundenen engen Gewühl jener alten Straßen am Burstah und Rödingsmarkt, deren Häuser manches Menschenalter gesehen hatten. Die Naivetät Hamburgs, die sich so gut mit londoner Civilisationszuständen verträgt, eine Naivetät, die in dem unendlich unschuldigen, so zu sagen schämigen Dialekt, auch selbst beim Blasé, sich wie die Unbefangenheit einer champagnertrinkenden Gurli anhört, war durch manchen verwitterten und nur noch an einigen Aesten zum Blühen und Grünen kommenden alten Lindenknorren ausgedrückt, welcher mitten unter Import und Export, unter Lotteriecomptoiren, Galanterieläden und Austernkellern wie ein Symbol der Unschuld stehen geblieben war. Dieselbe Idylle wiederholte sich beim Anblick der Gemüsekörbe der Vierlanderinnen und des verschwenderischen Ueberflusses, mit welchem aus rothen Blechkübeln die Milch durch die Straßen zu fließen scheint. Auch dicht an der alten Börse säuselten noch einige Linden- und Akazienbäume in die »Ueberschreibungen« von Mark Banco hinein und mancher gefühlvolle Wechselsensal nahm nach vollbrachter Feststellung der Tagescurse seiner Gattin noch einen der Kanarienvögel mit heim, welche vaterstädtische »Gemüthlichkeit« am Eingange der alten Börse zu verkaufen gestattete. Es sah ringsum eng, alt, holländisch aus. Nicht des stark vertretenen jüdischen Elementes, sondern der Bauart einer vor dem Regen schützenden Halle und des im Freien liegenden Parquets wegen glaubte man in den Vorhof einer alten Synagoge zu treten.

44 Zu den Gemüthlichkeiten Hamburgs oder den hamburger »Ironieen des Satan«, wie Dr. Heinrich Klingsohr, als er Lucinden von Hamburg erzählte, sagte – an dergleichen Kraft- und Schlagworte waren auch seine hamburger Freunde gewöhnt – gehört im Sommer das idyllische Wohnen der Geldleute unter Gras und Blumen vor den Thoren der Stadt.

Es ist wahr, die Atmosphäre Hamburgs bekommt im Sommer etwas Mephitisches. Aehnelt sie auch nicht ganz dem Duft der pariser innern Stadt, wo die Gewürze, Kaffeebohnen, Pfeffersorten, Zimmetarten aller Zonen zusammenzukommen scheinen und die Kehle zum Ersticken zusammenschnüren würden, wenn die penetrante und vom pulverisirten Theriak erfüllte Luft nicht mit den Gerüchen von ranziger Butter und altem Käse wieder gemildert und gefeuchtet würde, so gesellen sich zu den ganzen und gestoßenen Gewürzen in Hamburg noch die Ausathmungen der Kanäle oder Fleete, vorzugsweise jene sonderbaren Oelgerüche, in die vom 52. Grad nördlicher Breite an alles in Europa, was da lebt und webt, eingehüllt ist. Das ist von diesem Breitengrade an ein Malen und Klecksen mit Oelfarbe an jede Wand, jedes Holz, jeden Stein! Der Nordländer liebt die grelle Farbe mehr als der Südländer. Wir glauben wunder, welche Farbenreize der Spanier für seine Kleidung sucht. Die andalusische Tänzerin kleidet sich in Gelb und Schwarz. Der Nordländer will rothe Halstücher, malt sich grüne Häuser, bestreicht seine Windmühlflügel, seine Segel, seine Milchkannen, seine Gartenzäune, schläft in gold- und grünlackirten Bettstellen, hat überall den Farbentopf und den Oelkrug in der Hand, bepinselt und beglänzt Diele und Treppe und Fußboden und Fensterrahmen. Kein Wunder, daß die beengte Lunge sich in jenem frischen Wiesengrün ausathmen will, das dann glücklicherweise dem Hamburger bis dicht unter die Thorsperre wächst.

45 Die großen Kaufleute fahren um drei Uhr in ihre prächtigen Villen, die an der Elbe liegen; aber ein solcher kleiner Exporteur in Kleesaat, wie Herr Carstens, geht nach vollbrachtem Tagwerk erst eine Stunde in die Börsenhalle, wo er in die Schiffslisten Australiens blickt, um sich nach »Susanna Maria«, einer gesunden, vollwangigen, frischen Bark, zu erkundigen, die nach Adelaide einige hübsche Dosen jener Panacee der Ackerwirthschaft, der Kleesaat, bringen soll. Sie ist noch nicht angekommen am Orte ihrer Bestimmung, die Susanna Maria, sieht er, aber ein anderes – wir reden in der Naivetät dieser oft so unschuldig verkannten Geldseelen –»nettes und schoines« Ding, die »Meta Carstens«, ist sehr guter Dinge in Baltimore eingelaufen und bringt den dortigen Farmern das, was ihnen auf ihren Acres jetzt lieber ist als eine Kunde von der endlich errungenen Freiheit Germaniens. Kleesaat ist ein specifisch europäischer Artikel, ohne den es keine ausführbare Brache und keine Hebung des Viehstandes gibt; wie am Neckar, so am Missouri; die Kühe werden, wenn sie frisches Heu im Stall bekommen, schöner, als wenn sie draußen im Freien sich noch so grünes Gras zerzupfen und nebenbei immer doch etwas verschlucken können, was ihnen nicht bekommt, wenn es auch nicht der übelberufene Duwock ist, über welchen sich eben noch bis halb vier Uhr Herr Carstens in eine noch nicht aufgeschnittene und bei Hoffmann und Campe erschienene Broschüre vom Pachter Staudinger vertieft hat.

Die Kleesaat ist eine der vorzüglichsten Branchen des europäischen und namentlich des deutsch-böhmischen Exports, eine Entdeckung, die nur leider von Herrn Carstens nicht allein gemacht wurde.

Er würde die Broschüre über den Duwock sicher lieber Sonntag Vormittag, zugleich mit einer verbotenen Schrift von »Harry« Heine, letztere natürlich mit entschiedener Indignation, doch aber 46 theilnehmend, bei sich zu Hause gelesen haben, wenn ihn nicht eine Reihe verfehlter anderweitiger Branchen, Leder, Thran, Gerbstoffe, Talg, zuletzt auf die Kleesaat geführt hätte, einen Artikel, dessen große Erfolge schon andere voraus hatten, diejenigen nämlich, von welchen bereits einige in zierlichen Cabriolets zu ihren Villen am schönen Ufer der Elbe dies- und jenseits Teufelsbrück gefahren sind.

Indessen eine Sommerwohnung zu besitzen erlaubte Herrn Carstens denn doch sein jährlicher Umschlag. Natürlich sich an Tagen, die, wie der heutige, sich auch gar zu heißer Strahlen des Sonnengottes zu erfreuen haben, einer Droschke zu bedienen, um wenigstens durch die schwülen Straßen bis zum Dammthor zu kommen. Seine Verhältnisse sind nicht so ganz »unrespectabel«. Herr Carstens hat nur die unglückliche Manie, alle zwei Jahre, wenn die Kleesaaten ringsum im Vaterlande in schönster Blüte stehen, sich und seinen beiden Schwestern, die ihm in Ermangelung einer Gattin die Wirthschaft führten und »das Leben versüßten«, eine Erholungsreise von sechs Wochen zu gönnen, bei welcher er, wie weiland die im December mir ihren Herren wechselnden römischen Sklaven Saturnalien feierten, so die ersten Gasthöfe besuchte und sogar täglich Clicquot nicht verschmähte, welchen er an den Ufern der Elbe, des nebeligen Klimas wegen, dem Portwein entschieden unterordnete. Außerdem sparten seine liebevollen Schwestern an einer Mitgift, die sonderbarerweise mit den Jahren zwar zunahm, aber an Werth und Reiz für Männer, die etwa danach heirathen wollten, zu verlieren schien; es scheint leichter, 18 Jahre mit 20 000 Mark an den Mann zu bringen, als 45 mit 50 000.

Herrn Carstens unendliche Liebe für seine Schwestern, welche ihm diese jährlich in der Jahreszeit, in welcher wir uns befinden, mit Erdbeerkaltschale oder seinem, in jetziger Saison täglich 47 aufgesetzten Leibgericht, jungen Erbsen mit »Swesern«, ein für allemal vergolten haben wollten, unterließ nicht, diese Mitgift seiner Schwestern – er hatte ja nur diese beiden – bis auf eine Höhe zu steigern, die ihnen allenfalls auch nach seinem Tode erlaubt hätte, die Erträgnisse des Kleesaatexports entbehren zu können. Herr Carstens war immerhin ein ganz »respectabler« Mann von 100 000 Mark jährlichen Umschwungs, von welchem schon ca. 6–7000 Nettoniederschlag übrig bleiben.

Dennoch mußte er vorziehen, interessante Broschüren lieber auf der Börsenhalle zu lesen, als sich deren welche zu Hause aufzuschneiden und selbst zu kaufen. Er mußte vorziehen, nur alle zwei Jahre von Celle bis Wien und von Wien zurück, vielleicht der Abwechselung wegen, diesmal bis Lüneburg, für einen »hamburger Kaufmann« zu gelten. sich in seiner Privatliebhaberei, dem Sammeln alter, auf die hamburgische Geschichte bezüglicher Münzen, zu mäßigen, ja er mußte sich sogar die Unbequemlichkeit aufbürden, seinen Schwestern eine »Gesellschafterin« zu halten, die jedoch für Kost und Logis und den von Meta Carstens ertheilten classischen Pianoforteunterricht ein Supplement hinzu zahlte. Alles das, um nur zwei geliebte Wesen nicht mit Sorgen und schrecklichen Aussichten auf Entbehrungen, z. B. eines Sommerlogis und der winterlichen Anwesenheit bei jeder zehnten oder elften Vorstellung eines neuen Stücks im Stadttheater (das Stück mußte sich »erst bewährt« haben) zu hinterlassen, sintemalen sein Unterleib von früherer leichter Auffassung des Lebens geschwächt war und sein Muskel- und Knochenbau – eine natürliche Folge des hamburger Winterklimas – an Rheumatismus litt, zwei Krankheitsbedingungen, die, wenn sie sich begegneten und den Rheumatismus auf einen der edlern Theile des Herrn Carstens – und die edelsten waren sein Herz und sein Magen – werfen sollten, allerdings seinem Leben plötzlich ein Ende machen konnten.

48 Hier nun, in der vor dem Dammthor in Hamburg gelegenen Sommerwohnung des Herrn Nikolaus Carstens, treffen wir »Fräulein Lucinde Schwarz« wieder, herausgenommen aus Lebensverhältnissen völlig anderer Art, in neuen Umgebungen, neuen Anschauungen, neuen Empfindungsweisen.

Lucinde verdankte diese Uebereinkunft jenen norddeutschen Gütern des Kronsyndikus, wovon das eine in Holstein, das andere in Mecklenburg verpachtet war. Die Kleesaat war auch hier die grüne Spur, die von dem Teutoburger Wald, über den Haarrauch und die Heidschnucken hinweg, mit einem Umwege über die Marschen und Geeste des rechten Elbufers, nach einem noch volle zwanzig Minuten vom Dammthor gelegenen Landsitze führte, der unter ähnlichen Landsitzen mit Nr. 33 kenntlich gemacht war und aus einem Vorgarten von etwa auch dreiunddreißig Schritten, jedoch keineswegs in quadrater Potenz, sondern nur etwa zwanzig Schritten der Breite nach, einem Hause von anderthalb Stockwerken ohne Keller und einem Hinterhofe und Hintergarten bestand, der seinerseits nur zehn Fuß lang und fünf Fuß breit war, einen Holzschuppen enthielt mit einer Hundehütte und die Grube zur Inempfangnahme alles überflüssigen Niederschlags unseres irdischen Daseins. Nach hinten war alles das von einem abgeblühten Hollunderbusch umzäunt und es trennte dies Gebüsch auch diesen Tummelplatz ländlicher Erholung wieder von einem ditto, der mit gleichen luxuriösen Bequemlichkeiten seine Fronte in einer andern Straße hatte und vielleicht dort an einer Nr. 76 oder 77 bemerklich war, wo wiederum nach vorn in gleicher Weise dreiunddreißig Schritte bis zum Straßenstaket Raum geboten wurde dem »Flügelschlag einer freien Seele«. Der Vorgarten in Nr. 33 war zum größten Theil grüner Rasen, an dessen Frische und Ueppigkeit es bei einem landwirthschaftlichen Samenhändler nicht fehlen konnte.

49 Dicht an dem Hause, dessen Fenster so niedrig gingen, daß man sich hätte bequem auf dem Simse derselben niederlassen können, wenn nicht die hanseatische Gewohnheit die Fenster statt nach innen nach außen öffenbar angebracht hätte, war eine, wie sich von selbst versteht, grünlackirte hölzerne Laube befindlich, durchzogen von einer einzigen, bereits von unten her in emporschlängelnder Entwickelung begriffenen Weinranke, deren bisjetzt noch mangelnde Ausdehnung und Blätterfülle einstweilen ein in der Höhe von anderthalb Fuß bereits üppig wuchernder Wald von türkischen Bohnen und Kresse ersetzte.

Vorn und am Rande der Breterwand links und der Breterwand rechts lief eine grüne Wand von spanischem Flieder, einigen Weidenstumpfen mit keck ausschießenden Zweigen und vorn am Eingang zwei duftenden, noch in der Nachblüte befindlichen kleinen Akazienbäumen. Mangelte es an Schatten, so ließ sich von zwei Drittel Höhe des Häuschens eine großartige Markise von roth- und weißgestreiftem Segeltuche niederlassen, die auch über die allzu jugendliche Entwickelung der Laube den Mantel der Liebe breitete. Im Erdgeschoß gab es drei Zimmer: eins zum Speisen, eins zum Wohnen, eins zum Schlafen; dazu eine Küche. Oben wohnte Herr Carstens. Seine Statur war glücklicherweise nicht zu hoch. Er konnte in der zweiten Etage vollkommen sicher sein, die Decke so unbeschädigt zu lassen, wie §. 7 des Miethcontracts bedingte.

Die Hauptsache an einer solchen hamburger Sommerwohnung ist nur, daß ein Raum vorhanden ist, wo der »Kohlencomfort« stehen und der Theetopf sieden kann. Die grünen Erbsen und gebackenen »Sweser« mochte man im Hause verzehren, Speisegeruch ist überhaupt der Nachbarschaft wegen »nicht genteel«; aber der Theetopf hat sein unbestrittenes Recht. Auch in Nr. 33 stand er um 7 Uhr Abends auf dem eisernen Kohlengerüst; das 50 Tischtuch wird in der Laube ausgebreitet, die Markise in die Höhe gezogen und das altsächsische »Ich bin Herr in meinem Hause« in einer Weise geltend gemacht, daß man sich vor den Augen der Welt weder im Nähen, noch Stricken, noch Sticken, noch Lesen, noch Schlafen, noch Rauchen, noch Wiegen in einem amerikanischen Wiegestuhl, noch Erscheinen in einer glänzenden Hausjacke von Pferdshaartuche irgendwie stören läßt. Den Vorübergehenden fällt nichts auf, weder eine grüne Brille noch eine graue Katze, weder ein schwarzer Hund noch ein rother Papagai, weder ein gelber Strohhut von vier Ellen Umfang noch eine schlangenartig gewundene Cigarrenspitze von schönster hellrother genueser Korallenarbeit. Letztere war eine Neigung zur Koketterie des Herrn Carstens, wie jene sogenannten Nizzahüte eine der mehreren, jedoch erlaubten seiner beiden Schwestern.

Wir finden Lucinden wieder, wie sie sich schon am Millernthor von Angelika Müller, die zu einer hier etablirten reichen Handelsfamilie aus Antwerpen zog, um im Hause Lesen, Schreiben und Rechnen nach katholischen Bedingungen zu lehren, getrennt hatte. Die Braut Dr. Püttmeyer's, des Hegelstuhl-Aspiranten, wurde von einem eleganten Wagen im Hafen in Empfang genommen. Lucinde aber fuhr in einem Fiaker ins Comptoir des Herrn Nikolaus Carstens am Rödingsmarkt, einer düstern, mir Bäumen besetzten holländischen Gracht. Hier im Lärmen der sich durch den Kanal fluchenden Schiffer, der Krahnenwinder, der Führer von schwerstampfenden, schellenbeladenen Lastrossen wohnen bleiben zu sollen, hätte ihr die Sinne benommen. Sie wurde sofort in die »schöne Natur« vors Dammthor dirigirt und fuhr dorthin, erwartungsvoll, was ihr das Schicksal an neuen Prüfungen und läuternden Vorbereitungen fürs Leben bescheren würde.

Anfangs kam sie sich in ihrer neuen Lage wie eine Gefangene vor. Man hatte ihr gesagt, ein älterer Herr, 51 Junggesell mit zwei Schwestern, pflegte, obgleich alle drei in sehr »respectablen« Verhältnissen lebten, doch »zur Zerstreuung und Belebung des Hauses« bald eine junge Baronesse vom Lande, die sich in den neuern Sprachen und der Musik vervollkommnen sollte, bald eine Engländerin, die an der besten Quelle deutsch zu lernen beabsichtigte, bald eine Binnenländerin, die zu viel Thee und Zwieback und zu wenig Roastbeef genossen und der nun Wasserluft, Milch und Wiesengeruch gut thun sollte, liebevoll in die Gemeinschaft einer stillen Familie aufzunehmen.

Mit jenem hamburger Schein urweltlich angeborener Solidität und einer Gemüthlichkeit, die selbst in Geldsachen nicht aufhört; mit jenem kindlichen, sich wie von selbst verstehenden Fallenlassen des Tons, wenn dabei auch einige hunderttausend Mark Banco genannt werden; mit jenem gewissermaßen weiter nicht zur Sprache kommenden zufälligen Schlußschnörkel eines gleichfalls nur der Form wegen aufgesetzten Contracts war eine Pension von 1500 Mark Courant für sie bewilligt worden. Diese leichte und graziöse Behandlung des Geldes, das nur vor dem Wechselgericht oder bei der ersten und zweiten Prätur eine ernste und dann zuweilen recht nachdrückliche Bedeutung annehmen kann, imponirte Lucinden ebenso sehr, wie die schnell eroberte Freundschaft, die ihr zwei Damen entgegentrugen, die das »süße Mädchen« behandelten, als hätten sie Lucinden schon aus Langen-Nauenheim her gekannt, wie sie noch barfuß unter den Enten in den Bächen herumkrebste, an welchen gerade auch solche Weiden standen, wie sich zwei hier hinter das Staket her verirrt hatten, zum Beweise, wie feucht, nach Herrn Carstens Rheumatismus zu schließen, die Luft und der Boden war. Ja, es war im Verkehr gleich alles hier so sicher, so fest, so unbeschreiblich gediegen, solid, leidenschaftslos, gewiegt, so ganz in einer ihr neuen Art und unendlich imponirend. 52 Selbst die großen Nizzahüte, die einem Schattengeber, den auch auf Schloß Neuhof die Lisabeth trug, fast gleichkamen, machten Lucinden eine Weile sprachlos. Doch ängstigte sie es bald, daß beide Schwestern, Sophia sowol wie Meta, mit ihren Hutkrämpen fast ihre ganze Sommerwohnung unter Schatten setzen konnten.

Lucinde wußte einige Tage lang im wörtlichen Sinne weder aus noch ein. Schon gleich, als sie den Winkel sah, in dem sie schlafen sollte, kamen ihr die Tage bei der alten Buschbeck in Erinnerung. Das Erwachen, Ankleiden hinter Bettschirmen, die erste Anlage und spätere Vollendung der Toilette zu dreien in demselben Zimmer, und das alles verbunden mit dem im ländlichen Négligé eingenommenen ersten Frühstück nebst Fleisch und Eiern, dazu Herr Carstens im Sommerrock, mit der gewundenen Korallenspitze im Munde, dann das Rühmen des rings von den allerdings vorhandenen Wiesen in die »Gärten« hereinwachsenden »grünen Gras-Gottessegens«, das unleugbare Klingeln wirklich vorhandener Kühe und die allgemeine Bewunderung dann, beim »gebildeten Gespräch«, das überhaupt in Aussicht gestellt wurde, vor drei alten hamburger Kupfermünzen, die Herr Carstens als Perspective künftiger geistiger Genüsse gestern mitgebracht hatte, dann der umständliche, zärtliche Abschied des Bruders, wenn er ins Geschäft ging, und all diese täglichen Vorgänge in einer sich immer gleichbleibenden Cadenz des Gemüthlichen, des Sichvonselbstverstehenden und gleichsam Uraltewigen und auch noch nach Jahrtausenden Sosichgleichbleibenden – das machte ihr einen Eindruck, als hätte sie müssen in die eingehegten Wiesen hinüberspringen und zunächst gleich bei den Melkerinnen drüben, die vor den großen rothangestrichenen Kübeln saßen, Hülfe und Unterhaltung suchen.

Allmählich aber fand sie sich zurecht, besonders als die jüngere 53 Schwester – mit welcher Bezeichnung indessen ihr Alter nicht etwa aus dem Beginn der Vierziger zurückverlegt werden soll – ihre Hauptsorge entwickelte, das Spiel am Piano. Das stand im Wohnzimmer, dicht in der Nähe der in der Entwickelung begriffenen Laube. Man konnte die »Sonate pathetique« nicht schmelzender, die »Eroica« nicht feierlicher vortragen, als Meta Carstens that. Lucinde fühlte, was sie hier lernen konnte. Die andere Schwester, Sophie, handelte wol unterdessen mit einem jungen bäuerlich gekleideten und an einem Schulterquerbalken ein Dutzend Gemüsekörbe tragenden Burschen um junge Erbsen und ein fliegender Metzger brachte die vielbesprochenen »Sweser«. Das Plattdeutsche, dem Lucinde auf Schloß Neuhof kaum entronnen zu sein glaubte, tauchte aufs entschiedenste wieder auf. Diese Sprechart stand den Schwestern, besonders wenn sie mit den Vierländern verkehrten, ganz zierlich und erhöhte den Eindruck des Gelassenen, Soliden, Leidenschaftslosen und »Respectabeln«, welches letztere Wort immer das dritte war. Die kalte Ruhe aber wieder, mit der die Schwestern – Meta stand dann zur Unterstützung der Debatte mitten aus dem dritten Satz der »Eroica« auf – die grünen Erbsen auf die Hälfte hinunterbieten und mit einem: »Ne, Ne, Ne, min Jong! Hol di jo nich op, min Jong!« den Handel abbrechen konnten, stand in so seltsamem Widerspruch mit der Süße des Tons, daß sie immer nur schwieg und horchte und über so seltsamer Gegenwart die Vergangenheit vergaß.

Klingsohr kam dann endlich auch aus Göttingen. Daß die Pensionärin die Verlobte eines Doctors der Rechte war und dieser selbst ein mit der Durchführung wichtiger adeliger Processe betrauter Advocat, der eine Zeit lang in hiesiger Stadt wohnen wollte, das wurde schon in der Correspondenz über die Marschen und Geeste hinweg von Schloß Neuhof aus nach dem Rödingsmarkt berichtet.

54 Klingsohr besaß seinerseits selbst etwas von der eigenthümlichen Art der Studirten, die in hanseatischen Städten den Ton angeben. Er hatte meist seine Ferien bei hamburger Freunden verlebt und verkehrte in Göttingen überhaupt nur mit Studenten, die unter sich plattdeutsch sprachen. »Selbst ist der Mann!« scheint die Devise aller dieser jungen hamburger Aerzte und Advocaten zu sein. Klingsohr fand hier die liebsten Genossen seiner Studienzeit wieder. Gleich den ersten Abend, wo er zum Thee in der hoffnungsvollen Laube blieb, fand er auch bei den Damen und bei Herrn Carstens einen außerordentlichen Anklang. Bei Herrn Carstens besonders, seitdem er mit ihm über den alten Seeräuber, den Störtebeker, gesprochen. Als die Hinrichtung desselben erzählt werden sollte, brach Klingsohr zwar ab, versprach jedoch Herrn Carstens einige Münzen über die Einführung des soester Stadtrechts in Hamburg zu bringen, die er noch von seinem, natürlich mit großem Leidwesen in diesem Kreise betrauerten Vater aus der Deichgrafenzeit her besaß. Eben schwamm darüber Herr Carstens in Entzücken und notirte sich den Gegenstand zum Nachschlagen in den reichen Bücherschätzen der Börsenhalle, als Klingsohr auch schon Meta gewonnen hatte durch eine Parallele zwischen Mozart und Beethoven, indem er jenen mit Rafael, diesen mit Correggio verglich und bei den Schwestern dadurch die Schleusen wegzog von verhaltenen seligsten Erinnerungen an die dresdener Galerie, Brühl'sche Terrasse und sächsische Schweiz. Ein Wort gibt dann das andere. Sophia Carstens bewunderte des Doctors Kunst, sich plattdeutsch auszudrücken. Man merkte dies Talent bei der Plage aller Sommerwohnungen, den Bettlern, die er plattdeutsch über ihre Herkunft und sonstige »Poesie des Zigeunerthums« examinirte. Sophie fand, indem sie trotz dieser Poesie lächelnd lieber die Thür des »Gartens« abschloß und mit wenigen Schritten wieder hinterm Theetopf saß, eine Bürgschaft seines Gemüths 55 darin, daß er die lieblichste und sanfteste Sprache von der Welt über seinen Reisen und gelehrten Studien nicht vergessen hatte.

Mein guter Vater, sagte der Doctor mit melancholischem Ausdruck der Miene und eine Weile die Cigarre aus dem Munde nehmend, mein Vater haßte die plattdeutsche Sprache. Er duldete schon nicht, daß sie drüben in Stade, wo er wohnte und wo er meine Mutter geheirathet hat, in seinem Hause gesprochen wurde. Auch auf der Buschmühle, wo alles plattdeutsch spricht, mochte er sie nicht hören. Er nannte sie eine faule und bequeme Bauernsprache, nur gemacht für das Ideal des zufriedenen feudalen Schlaraffenthums. Wenn er über irgendeine Trägheit in seiner Nähe in Zorn gerathen konnte, über ein Gehenlassen wichtiger Dinge, über Gesinnungslosigkeit in großen patriotischen Fragen, so rief er: »Sitt ick in gooder Roh', rook min Piep Toback dato!« Er glaubte damit das Wesen des Plattdeutschen getroffen zu haben.

Die drei Geschwister Carstens hatten das unglückliche Ende des berühmten Mannes beweint und verriethen nur durch Achselzucken ihr Bedauern über diesen Mangel bei soviel anderweitigen Vorzügen.

Lucinde aber konnte nicht umhin, die gleiche Abneigung auszusprechen. Das ist ja eine Sprache, sagte sie, die eines Mannes gar nicht würdig ist! Man glaubt sie nur hinterm warmen Winterofen oder aus einem großen Backtroge heraus hören zu können, in den man sich mit der gestreiften Schlafzipfelmütze gelegt hat, um noch die Wärme nachzugenießen. Plattdeutsch ist eine Sprache, mit der man nur über saure Milch und ob die Gurken schon blühen, reden kann. Will man einen Gedanken aussprechen, so läßt sie uns gleich im Stich. Jeden Buchstaben, der im Aussprechen Kraft und Energie erfordert, läßt sie aus ihrem Alphabet ausfallen; alles schlorrt darin wie in niedergetretenen alten 56 Pantoffeln. Schleppt das und schlendert und ist dabei so kalt, so eingebildet! Der Buchstabe S wird T, Ch wird K, das A vernergelt sich in E. Ganze Buchstaben und Silben fallen weg, um nur schnell wieder zum Ofen zu kommen. »Geschlagen« ist »Slân«, »aufgestanden« ist »upstân«. Von den erhabensten Dingen spricht diese Sprache wie von Kinderspielzeug und dabei liegt wieder eine Malice, eine Gereiztheit in ihr, die uns z. B. vor den Mägden, wenn diese hier plötzlich hochdeutsch zu sprechen anfangen, einen blanken Schrecken einjagen kann.

Das war freilich eine entsetzliche Anklage! Um so mehr, als die Schulmeisterstochter in solchen Dingen ganz auf ihrem Felde war. Die Schwestern sahen sich nur um, daß weder Nr. 32 noch Nr. 34 sie belauschten. Dort eine Maklerfamilie, die unter sich immer nur plattdeutsch sprach – man konnte die Erwachsenen dann kaum von den Kindern unterscheiden – hier ein Professor vom Johanneum, der diese Mundart wissenschaftlich behandelt hatte und für den Störtebeker und das soester Stadtrecht dem Kleesaathändler von großer Wichtigkeit war, da er die vaterstädtische Neigung desselben wissenschaftlich unterstützte.

Man blickte schweigend und mit flehentlichen Blicken um Widerlegung bittend auf den Doctor, der seinerseits die großen Wasserseen seiner Augen sozusagen übertreten ließ und geschmeichelt über Lucinden staunte, die den Vortheil genoß, den die Verpflanzung aus einem alten in einen neuen Boden immer mit sich bringt. Nichts hebt die geistige Kraft mehr, als sich in Vergleichung bringen zu können mit neuen Eindrücken, sich abgehoben zu wissen von einer gründlich veränderten Folie.

Wie Lucinde denn aber auch gar so bitter und fest sprach, merkte der Doctor erst, daß sie sich äußerlich verändert hatte. Er musterte sie, immer noch schweigend und mit staunender Bewunderung. Ihr Körper hatte sich wie zum Abschluß entwickelt 57 unter dem Einflusse des Erlebten. Immer mehr gewann vielleicht der charakteristische Ausdruck über den ideal-schönen die Oberhand. Ihre Züge glichen jetzt jenen seltsamen Köpfen, die uns aus irgendeiner hervorspringenden Besonderheit sogleich unvergeßlich sind, die aber auch Gefahr laufen können, mit schwindender Jugend die Anmuth zu verlieren. Hier, wie sie eben noch, während dieses Streites, eine Fliegenjagd eröffnet hatte, dabei einen gleichfalls runden Hut, der jedoch um einen Fuß weniger Umfang hatte als bei den Fräulein Carstens, abriß und ihn zum großen Schrecken derselben sogar auf eine Wespe warf, blieb der Eindruck einer Amazone, welche mit der Kraft noch die Verschmitztheit verbindet. Der leise geöffnete Mund zeigte die Zähne; das Haar war, weil eine Toilette in dem engen Raum nicht mehr möglich wurde, fast um die Hälfte von ihr gekürzt worden; sie trug es nun in großen und cylinderförmigen Wellen zusammengebunden um den Scheitel und im Nacken. Um den Hals lag ein Collier von antiker Form, das ihr der Kronsyndikus von den Schätzen mitgegeben, die angeblich seiner Frau, vielleicht einer seiner Italienerinnen gehört hatten, und den halbentblößten Arm schmückten zwei desgleichen reich mit Perlen und Rubinen besetzte alterthümliche Armbänder. Sie besaß eine ziemliche Auswahl solcher Schmuckgegenstände und jenes Fräulein Angelika Müller, mit dem sie gereist war, hatte beim zufälligen Anblick des geöffneten Kastens, der sie enthielt, zu ihrer Freude gesagt: Alles alt, aber gerade jetzt modern!

Das Unvergeßliche an Lucindens Aeußerm waren vorzugsweise ihre schwarzen und wie von einer Entzündung aller feinsten Aederchen bis in die Wangen rings umschatteten Augen, ein plastisch gleichmäßiges Oval des Kinns, dann ein stetes Lächeln am kleinen Munde und in der Haltung ein fortwährend grübelndes Niederblicken, wie wenn sie auf dem Boden etwas suchte, 58 was sie verloren. Wenn sie genannt wurde, dachte man an diese Einzelzüge ebenso schnell wie bei den Fräulein Carstens an die langen Nasen derselben; denn man hätte glauben können, diese Damen stammten aus dem urweltlichen Geschlecht der Saurier, von welchem bekanntlich nur noch das Krokodil, das Chamäleon und die Eidechse als Reste übrig geblieben sind.

Klingsohr sah zwar auf die Uhr und sprach von einem Spaziergang am Rande der Alster. des nahe gelegenen Flüßchens, an dessen Ufern sich nur Sand aufwellt, aber auch alte, schöne, sturmerprobte Eichen stehen, in einer Pracht und Fülle, als hätten sie schon den hier einst lebenden Klopstock zu seinen Bardengesängen begeistert. Die Familie hatte jedoch die Freude, daß er zuvor noch den schwebenden Kampf aufnahm und im Plattdeutschen gerade, statt Schläfrigkeit und Trägheit, Energie und Thatkraft fand.

Wenn, liebe Freundin, sagte er, diese Ihre Holzpantoffeln und gestrickten blauweißen Nachtmützen rasch zum Ziele kommen wollen und die Sprache kurz nehmen, so ist damit nicht der Ofen gemeint, sondern die Sache selbst, um die es sich in der Gemeinde, auf dem Acker oder auf dem Schlachtfelde handelt. Man nimmt bei uns in der deutschen Niederung die deutsche Sprache gerade so, wie sie so auch der Engländer nur brauchen konnte, der allerdings das, was noch für die Ideenwelt meines Vaters fehlte, aus der Bretagne herübernahm. Gibt es schlagfertigere Volksstämme, als die Dithmarsen und Friesen waren und noch sind? Hat diese rasche und behende Sprache, die sich mit keinem weitläufigen und unbeholfenen »Aufgestanden« aufhält, sondern rasch und flink vom »Upstân« spricht, nicht die schöne Eigenschaft, Bauer und Edelmann beinahe gleichzustellen? Sie macht aus den Bekennern dieser Mundart eine einzige Familie. Wenn sie vielem Philisterhaften einen Vorschub zu leisten 59 scheint, so leistet sie ihn in Wahrheit doch nur der Einwurzelung des persönlichen Stolzes auf eigenen Besitz, eigenen Grund und Boden. Die Neuerung, deren Ideen sich allerdings nicht nach plattdeutschen Lauten ausdrücken lassen und, wollte man von Verfassungen und Aehnlichem darin sprechen, eher wie Spott klingen würden, ist diesen Stämmen fremd; aber hat es nicht sein Gutes, daß wir noch im Vaterlande Schanzen und Wälle der frei bewahrten Selbständigkeit gegeneinander aufwerfen können? Die Einheit ist ein schöner Klang; aber sie gewinnen auf Kosten unserer bessern Natur? Wer möchte das befürworten um solchen Preis! Der Deutsche bildet nur ein geistiges Volk. Seine Kraft liegt auf der Scholle, die er vertheidigt, seiner Sitte, seiner Sprache, seinen Ueberlieferungen. Mit dem überall aufgepflanzten Einheits-Banner, einem schwarzweißen oder schwarzgelben oder schwarzrothgoldenen sogar, würden wir unsern besten Gehalt verlieren, und so ist auch die plattdeutsche Sprache nur Hemmschuh zu desto sichrerer Fahrt. Nivellirenden Staatsmännern gegenüber schützt gerade sie Person und Gemeinde.

Wenn die Damen Carstens Romane lasen, so suchten sie glücklicherweise immer gerade das, was andere überschlugen. Sie strichen sich gern sogenannte schöne Gedanken an und schrieben sie hernach in ihre Sammlungen zur erhebenden Lectüre in Augenblicken der Sehnsucht und des Sichnichtverstandenfühlens oder zur Stammbuchbenutzung für Freunde oder Reisebekanntschaften. Diese Erörterung, die der Doctor ihnen da anzuhören zumuthete, nahmen sie für eine ihrem Geiste dargebrachte schmeichelhafte Huldigung. Schon weckte auch diese Rede die überraschte Aufmerksamkeit der Nachbarschaft. Fernerhin war der Uebergang in die gerade schwebende Frage des Zollvereinsanschlusses die leichteste Folge dieser Meinungsäußerung, für welche dann Lucinde keinen Widerspruch hatte. Sie ließ den beiden 60 Damen den Triumph, durch die Festhaltung ihrer heimischen Sprache auch den Kaffee, den Zucker und den Wein vor den Gefahren des Untergehens in deutscher Allgemeinheit gerettet zu sehen. Lauschte nebenan auch der Professor vom Johanneum, so mußte er seine Freude gehabt haben an Klingsohr's Rede. Er würde nicht Anstand genommen haben, ihn zu einem Bekenner der Schule Justus Möser's zu machen, einer Schule, die bekanntlich keine Wiedergeburt Deutschlands zulassen würde, wenn nicht auch in ihr Rechnung getragen würde dem Ewig-Osnabrückischen.

Der Abend wurde kühl, wie es die vielen Wiesen nach Untergang der Sonne mit sich bringen.

Klingsohr wollte an die Alster und bat um Lucindens Begleitung.

Diese warf ihre Mantille um, einen Hut über und begleitete ihren Freund, wohin er sie zu führen gedachte.

Es gab hier draußen, trotz der volkreichen Stadt, die zu einer bestimmten Stunde wie im Nu durch die theuere Thorsperre die Bevölkerung in ihre Wälle und Mauern zurückdrängt, einsame und stille Wege. Sie waren ländlicher Art, führten durch Weidenalleen, über Wiesen, an Bächlein entlang, führten durch kleine Birkengehölze und endeten in parkähnlichen Vergnügungsorten, die jetzt von Menschen bereits entleert waren.

Der Himmel wurde dunkler und dunkler und ließ schon einzelne Sterne blicken. Die Sichel des Mondes stand länger, aber sie war noch matt und füllte sich mit vollerm Lichtglanz erst gegen Mitternacht.

Das stille, heimliche Käferleben in Büschen, an Hecken und Zäunen regte sich. Die Phosphorfunken, die man haschte, wurden auf der Hand zu kleinen Käfern mit punktirten Flügeldecken. Der sumpfigen Natur konnten die Frösche nicht fehlen, 61 diese Kukuks der Wasserwelt, die ihr Einerlei zum besten zu geben nicht müde werden. Friedlich ernst rauschten, von einem leisen Luftzug erregt, die berühmten Eichen der Alster. Fernher brauste das Gewühl der großen Stadt, die in der Abendstunde die durch die Arbeit gebunden gewesenen Sinne entfesselt; Musik tönte herüber von einem Kranze von Lichtern, der um das Bassin des Jungfernstiegs immer reicher und voller sich hinzog.

Gerade hierher nun nach soviel Erlebtem versetzt zu sein, war für beide wunderbar genug. Klingsohr legte den Arm um Lucinden und wiederholte die Betheuerung seiner Liebe. Er hätte, sagte er, ein reiches Feld von Thätigkeit in den verwahrlosten Processen der Wittekind'schen Familie gefunden, es könnte sich wol bis zum Winter hinziehen, daß er hier zu bleiben hätte –

Und dann? fragte Lucinde, die für den Freund eine gleiche Wärme wie damals auf Schloß Neuhof nicht mehr fühlte.

Was wir erlebten, erwiderte dieser, kam so unglückselig störend, kam so die nächste Besinnung raubend, daß ich noch keinen Plan für die Dauer gefaßt habe. Ach und wie oft ist mir's dann wieder, als sollt' ich dich umfangen und dich mit mir hinabziehen in Tod und Vernichtung! Sieh den geisterhaften Schein der Wellen! Wie still und geheimnißvoll sie dahinfließen!

Lucinde wandte den Kopf zu dem Sprecher empor. Er hatte ihr den Hut abgenommen, weil der Rand desselben ihn hinderte, sich fester an sie zu schmiegen. Letzteres that Klingsohr mehr, als sie erwiderte. Sie fand ihn schwankender, haltloser, als sie von Männern seiner Art geglaubt hatte. Und bei dem »geisterhaften Schein« der Wellen auch ihres unglücklichen Vaters gedenkend, schüttelte sie's fast wie Frost. Sie sagte wie mit bewußtester Prosa:

Warum denn sterben!

62 Ein Seufzer entrang sich seiner Brust –

Wie drüben in der Stadt die Wagen rollen! fuhr sie fort. Wie die Musik so lustig klingt! Das alles ruft uns ja und will genossen sein!

Klingsohr lüftete den Sommerhut und fuhr sich erregt durch sein krauses, röthlich schimmerndes Haar. Die Narben an Stirn und Wangen zuckten. Laß uns von dem Schilf da fort! sagte er und zog Lucinden vom Ufer mehr der Baumallee zu.

Blicke auf Vergangenheit und Zukunft mußten sich jetzt von selbst ergeben.

Klingsohr sprach viel und schnell durcheinander vom Tode seines Vaters, von der Schuld des Stephan Lengenich, die sich immer mehr als erwiesen herausstellte. Er wiederholte, wie schon oft: Der Schrecken über den einsamen Anblick des Erschlagenen, das Entsetzen, daß man ihm hätte die That zuschreiben können, hatten den Kronsyndikus in Verwirrung gebracht, und, was mehr ist, hinter dem Hasse gegen meinen Vater barg sich Freundschaft. Vom Schicksal desselben erschüttert, unfähig, der Erste zu sein, der es anzeigte, sprengte er nach Neuhof zurück, konnte die Todesnachricht nicht über seine Lippen bringen, verbrannte in einem Anfall von Großmuth alles, was er noch von Schuldforderungen in der Buschmühle hätte geltend machen können, und bot mir seinen Schutz und sogar den Vaternamen an und mein ganzes Glück in dir! Stephan Lengenich ist der Mörder. Die Feinde meines Vaters waren ja zahllos. Auf jedem Waldwege begegneten ihm Männer, die ihm den Gruß verweigerten. Ich hörte einmal klagen, daß man auf der Buschmühle Feuer angelegt gefunden. Man verschwieg es, weil gerade meinen Vater Verlust der Popularität schmerzen konnte. Hoch immer auf dem Schilde aller wollte er getragen sein. Er konnte keine Gegner dulden, ohne sich nicht von der Nichtigkeit ihres Hasses überzeugen zu wollen. That er's dann, so 63 verwirrte sich der Hader nur erst recht. Feindschaft, die auf Antipathie beruht, vermittelt sich schon bei einer günstigen Gelegenheit zum leidlichen Auskommen; tauscht man aber mit ruhiger Ueberlegung Warum gegen Warum aus, so treten erst recht die Verletzungen ein, die unheilbar sind. Diese Tage sind düster, aber sie liegen hinter uns. Vor uns winkt die Zukunft. Kehr' ich nach Göttingen zurück, so sollst du die Muse meiner Studien sein. Lass' ich mich von Freunden, deren ich hier nur zu viele fand, bereden, hier zu bleiben, so findest du dich in diese neuen Anschauungen. Komme, was kommen mag:

Wenn ich dich nur habe,
Wenn du mein nur bist!

Nun war Klingsohr im gewohnten Zuge und drückte sie, dichtend und phantasirend, wilder an sich, als ihr wohlthat, ihr, der nur Horchenden.

So gingen sie bald wieder am Schilf des Ufers oder suchten, um nicht im Sande zu versinken, grüne Stellen. Weiter kam ein Weidengebüsch. Da blieben sie stehen und Klingsohr ergab sich mit neuen Betheuerungen seinem ganzen Gefühl, das jetzt ein lebhafteres und herausforderndes wurde.

Lucinde schwieg nur. Es war ihr nicht als wäre sie die Mitschuldige eines Mitschuldigen; aber irgendetwas blieb im Dunkeln. Eine gewisse Kluft zwischen Klingsohr und ihr vermochte sie nicht mehr auszufüllen. Sie wußte nicht, woran es lag, daß sie sich ihm plötzlich gewachsen fühlte, ja ihn übersah. Die Zauber des Fesselnden waren ihm plötzlich für sie abgestreift, und so bedeutsam seine Rede blieb, seine Thatkraft vermißte sie, und selbst seiner Rede, seinem Humor, seinen Versen, hörte sie Gebundenes, Unfreies ab, ja eine Gefallsucht, für die sie nur noch keinen rechten Ausdruck hatte. Und doch gerade in Klingsohr hatte sie 64 Ausdehnung und Raum zu finden gehofft wie im Universum, das er sonst auf seinen Schultern zu tragen schien! Nun gefiel ihm sogar diese enge begrenzte Welt, in welche man sie versetzt hatte. Es war eine Freiheit, die ihr Zwang erschien. Und die Zumuthung, daß sie ihm Stab, sie ihm Stütze sein sollte! – –

Er begleitete sie in das kleine Haus zurück, in die Mausefalle, wie sie es nannte. Sein Abschied war stürmisch; sie sagte ihm kühl eine Gute Nacht!

Zehn Uhr Abends war's. Dennoch sieht man Klingsohr noch nicht in seine Wohnung gehen, sondern in einen der Pavillons eintreten, die sich am Alsterbassin befinden.

Musikklänge, Tabackrauch, die Düfte von Grog und Punsch wirbeln in allen diesen Pavillons –

Hier begegnen sich der Einheimische und Fremde –

Draußen vor der Thür stehen Sessel, auf denen man, wenn die des Nachts sich zuweilen sanft wieder mildernde Wasserluft es gestattet, die wogenden Menschenmassen an sich vorüberziehen läßt, wol auch die auf dem Wasser noch mit chinesischen Lampen dahinrudernden Gondeln verfolgt und ein Bild voll Leben und Bewegung in sich aufnimmt, das nur in der Ferne eine einzige große Windmühle unschön, aber charakteristisch begrenzt.

Diese Pavillons sind so bequem gelegen, daß man sich ihrer kleinen Ecksitze im engern innern Raum gern als Stelldicheins für Freunde bedient. Manche Tische werden von einer Gesellschaft, die immer dieselbe ist, in Beschlag genommen, entweder bei schönem Wetter draußen oder bei unfreundlichem drinnen. Im Winter ist man jedenfalls sicher, immer eine Gruppe von Bekannten an einer und derselben Stelle zu finden.

Der Kreis, in welchem sich Klingsohr hier bewegte, ist ein den Hansestädten eigenthümlich angehörender.

Der Kaufmann ist dort der bestimmende und maßgebende 65 Theil der Bevölkerung; zu seiner Ergänzung gehört aber der Arzt, der Advocat, auch der Schriftsteller und Gelehrte überhaupt, denn am Bedürfniß des gedruckten Buchstabens fehlt es durchaus nicht und eine diesen Städten ganz ausschließlich angehörende Literatur beeifert sich es zu befriedigen. Die Achtung vor den Wissenschaften ist nicht gering. Man kann aber auch sagen, daß die, welche zu ihren Bekennern gehören, nichts unterlassen, was die Geltung derselben mehren muß. Nirgends äußert sich der Arzt, der Advocat und Schulmann mit solcher Bestimmtheit wie unter Kaufleuten und niemand unterwirft sich ihnen dann auch so unbedingt als diese. Englands Parlament ist ein Beweis, wie der Nimbus der Studien sich vorzugsweise in einer großen geschäftlichen Welt erhält. Diese Aerzte und Advocaten sind es vorzugsweise, die den öffentlichen Geist bestimmen und das Endurtheil auch in den Familien geben, denn, wie jene schon ohnehin die Frauen regieren, so werden zu jeder Berathung von größerer Wichtigkeit diese hinzugezogen. Die einen unter ihnen folgen dem allgemeinen Geiste des Erwerbs und nehmen früh eine praktische Richtung an, streifen den Idealismus ab, reden mit dem gemeinen Mann in seiner Sprache und nehmen die materielle Welt ganz so wie sie ist; die Wissenschaft wird ihnen zur melkenden Kuh; sie verschmähen selbst die Intrigue nicht, und werden in der oft bis zum Lieblosen gehenden Entfaltung des schroffsten und einseitigsten juristischen Verstandes unterstützt von denen, die ihre Spitzfindigkeit in Anspruch nehmen, bewundern, rühmen, reichlich belohnen. Die andern sind, wie die menschlichen Entwickelungen durch die angeborenen Anlagen bestimmt werden, ihrerseits wieder von einer desto idealern Haltung. Sie scheinen das Alltägliche zu verachten, vertreten die Gedankenwelt, hüllen sich in einen Nebel mystischen Eingeweihtseins, sind entweder Freimaurer oder Pietisten 66 oder Poeten oder alles zu gleicher Zeit und in verschiedenen Lagen; nur benehmen sie sich überall wie ein Besonderes, Vornehmes, auch wol ewig Akademisches, und man darf hinzufügen, daß auch diesen Männern der Erfolg nicht fehlt. Jetzt, wo die materielle Richtung überwiegt, mag das Häuflein dieser mit dem Rufe des Geistreichen vorzugsweise ausgezeichneten Adepten der Wissenschaft geschmolzen sein. Noch in den dreißiger Jahren war der Zusammenhang Hamburgs mit den idealern Richtungen des Vaterlandes ein inniger, und die schöne, maßhaltende, sich selbst beschränkende Weise manches dort früher gefeierten Namens wird noch jetzt bei den Nachlebenden nicht verklungen sein.

So scheiden sich beide Richtungen im Alter. In der Jugend gehen sie noch mehr zusammen. Der Scharfsinn des einen findet seinen Widerpart am Wissen des andern, der Rabulist der spätern juristischen Praxis streitet noch mit Hartnäckigkeit für Schelling oder Hegel, denen er die Schärfe seiner Unterscheidungen zugute kommen läßt. Allen aber gemeinsam ist auf lange Zeit, oft bis in die ersten Jahre der Verheirathung hinein, das lebendige Festhalten der Erinnerung an das akademische Leben. Die von Göttingen oder Heidelberg mitgebrachten Anschauungen werden nicht nur in den Kaffeehäusern festgehalten, sondern oft auch noch in dem Wäldchen hinter Wandsbeck, in den Hohlwegen hinter Eppendorf – Man setzt die Feindschaften, die man von der Hirschgasse in Heidelberg, von Ulrici in Göttingen mitbrachte, in der Vaterstadt fort und wechselt auch wol im nahen holsteinischen Sachsenwalde Kugeln um dieselben Bagatellen, um welche man am Neckar und an der Leine »auf krumme Säbel losgegangen«.

In diesen Kreis seiner Freunde kehrte Heinrich Klingsohr, mit Enthusiasmus empfangen, zurück. Die grüngelbweiße Farbe hatte immer mit der rothweißen harmonirt; gehörten doch beide dem 67 großen Bunde des Plattdeutschen an. Klingsohr traf junge Advocaten und Aerzte, Assistenten am Krankenhause, gelehrte Speculanten, die durch irgendein Organ, das Ohr, das Auge, oder als Juristen durch Wechsel- oder Staatspapierrecht sich eine Specialität zu schaffen suchten, andere, die auf eine Anstellung in der Verwaltung rechneten und sich mit Statistik der Ein- und Ausfuhr beschäftigten, Schulmänner, die vor drei Herren und siebzehn Damen Vorträge über Spinoza hielten, andere, die eine alte Neigung zum Schriftstellerthum nicht länger zu verbergen brauchten, sondern nun, sie wußten nicht wie, durch irgendein Angebot der vielen hier erscheinenden Zeitungen Redactoren wurden, Candidaten, die noch nicht nöthig hatten, das Haar zu scheiteln und den Blick zu Boden zu schlagen, da die Aussicht zu einem Pfarramt in der Stadt erst über eine lange Probezeit auf dem Lande oder ein mühseliges Lehramt geht – kurz, in diesen, natürlich unausgesetzt von Cigarrenwolken eingehüllten Kreis trat Klingsohr ganz so wieder ein, wie er ihn von seinen frühern Besuchen her kannte. Selbst in Göttingen als Privatdocent hatte er den Zug zum ewig Studentischen nicht aufgeben können. Er fand hier alle alten Anekdoten wieder, alle alten Stichwörter und Stichblätter des Witzes, alle alten Spitznamen; man lachte ebenso auf gegenseitige Kosten wie bei Bethmann in Göttingen, mit der gleichen, oft nahen »maliciösen« Anstreifung an die »touchirende« Grenze und mit derselben Empfindlichkeit, wenn diese wirklich überschritten und eines jener Worte gesprochen wurde, in deren Entgegennahme der »Mann von Ehre« sich in Deutschland vom »Philister« zu unterscheiden hat. Zwischendurch galten die Gespräche der aufgeregten Zeit, den Streitigkeiten des Tages, den Vorkommnissen der innern städtischen Verwaltung, den Persönlichkeiten der einzelnen Theilnehmer des Kreises und vorzugsweise den Frauen.

68 Letztern widmete man ganz den Antheil, der ihnen überhaupt gebührt; erhöhen aber mußte sich derselbe im Munde junger Männer, von denen selbst die, welche den Reiz des Frauenthums mehr als sich geziemt hätte schon auf sich hatten wirken lassen, nicht in eine souveräne Verachtung desselben, die den Blasirten eigen ist, versunken waren, sondern aus dem Wüsten und Wilden sich ganz so wie Heinrich Klingsohr selbst zu dem Bedürfniß aufschwangen, in den Frauen das Madonnenhafteste von der Welt zu finden und sie anzubeten wie die eigene verlorene Unschuld und Jugend. Die dem Fremden fast unglaubliche Möglichkeit, daß sich in Hamburg überhaupt Sitte und Unsitte in strengster Geschiedenheit erhalten können, war auch in diesem Kreise bewiesen. Man konnte der tollsten Phantasie und einer grauenerregenden Kenntniß aller Nachtseiten im Frauenleben den Zügel schießen lassen und war wiederum, wenn der Name einer Unbescholtenen genannt wurde, einig in dem Preise ihrer seidenen, dem Bilde einer Katharina von Siena entsprechenden Augenwimpern, dem Preise ihrer Hände, deren Durchsichtigkeit und Weiße nicht anders als mit der Zierlichkeit der Hände eines van Eyck und Memling verglichen wurde, dem Preise ihrer Augen, die wegen ihrer etwaigen träumerischen Unbewußtheit und gläubigen Zuversicht geradezu katholische genannt oder ihrer irrenden, rein nur innerhalb des instinctiven Lebens bleibenden Unschuld wegen mit den sanften Augen einer Gazelle verglichen wurden. Ein Drängen aus dem zu reich genossenen, in seinen Untiefen zu sehr erkannten Alltäglichen zum reinern Licht empor besaßen alle, und die Art, sich ihre läuternden Flammen anzuzünden, war seltsam genug. Mancher betete in diesem Sinne die Tochter eines Millionärs der Gröninger Straße an, mancher aber auch nur die eines armen Handwerkers von den »Vorsetzen« oder »Raboisen«.

Auch jenes »hehre Gnadenbild«, zu dem Klingsohr aufblickte, 69 war gleich nach seiner Ankunft allen bekannt geworden. Daß es sich um die Pensionärin einer »respectabeln« Familie handelte, wußte man. Man machte an der Sommerwohnung des Herrn Carstens Fensterpromenade, um den Schatz zu sehen, der einem »Abadonna« noch vor seinem gänzlichen Fall oder seiner Läuterung vom Himmel beschert werden konnte; denn in diesem Kreise galt Klingsohr für einen jener gefesselten Titanen, die früher oder später den ewigen Göttern des Olymp den Garaus machen konnten. Er hieß einer von denen, die eine unberechenbare »Zukunft« hatten. Ein einziges Publikum hatte er in Göttingen gelesen, das aber von einigen Hundert Studenten besucht worden war, während er eine Vorlesung über Privatrecht nicht zu Stande bringen konnte. Aber in jener Vorlesung über »Dante's Zeit- und Weltanschauung« elektrisirte er seine Zuhörer in einem Grade, daß man an Klingsohr nicht anders dachte als gleichsam an einen Evangelisten, der immer ein wildes Thier neben sich sitzen hat. Die Drachen und Greife Dante's zogen seinen Ruhmeswagen; sein Schweigen war so bedeutungsvoll wie die Geheimnisse der Apokalypse, sein Reden war Prophetenthum. Daß er arbeitete, stand fest. Wenn er um zwölf Uhr von der »Kneipe« gekommen war, »sah man noch bis drei und vier Uhr Licht bei ihm«. Seine Versicherung, er würde ein neues System des Staats-, des Natur-, des Völkerrechts, eine neue Philosophie der Geschichte, eine neue Geschichte der Literatur, eine neue Ausgabe des »Sachsenspiegel«, eine Zusammenstellung der Fragmente des Ciceronischen Buchs »De Republica« bringen, eine Geschichte der italienischen Städtebünde, eine Abhandlung über die Verjährungsfristen, eine neue Begründung des Steuerwesens und eine Kritik Adam Smith's nach dem System der Bienenkörbe, alle diese Verheißungen fanden den vollständigsten Glauben. Für jedes dieser epochemachenden Werke hatte er die leitenden Gesichtspunkte schon 70 fertig und wußte sie an geeigneter Stelle so anzubringen, daß man jahrelang von dem Gedanken sprach – den Sie, wissen Sie, Klingsohr, damals auf dem Ritt nach Münden, am Zusammenfluß der Werra mit der Fulda, auf der reizenden kleinen Insel (dem »Taufkissen der dort geborenen Weser«, konnte er einwerfen) aussprachen? Klingsohr strich sich die kurzen röthlichen Locken und lächelte dann nur. Er lächelte nicht etwa geschmeichelt – die Werthschätzung verstand sich von selbst – er lächelte voll Wehmuth, wie ein Träumer, dem man von einem »Märchen aus alten Zeiten« sprach. In solchen Wehmuthsaugenblicken konnte er, war es Abend und saß man im Freien, stundenlang auf ein einziges Sternbild blicken, die Kassiopeja, und ohne eine Miene zu verziehen so viel Bier oder Wein oder Grog »vertilgen«, wie ihm auf ein Klappern mit dem Zinndeckel oder das Rütteln einer leeren Flasche oder das Anklingen mit dem Stahlbügel der Cigarrentasche an ein leeres Glas von einem kundigen »Gleich-Gleich-Herr!« hingestellt wurde. Begann er dann endlich nach solchen Pausen zu reden, so war es eine neue Lesart im Tacitus, die er so lange überdacht hatte, oder ein Irrthum in Vega's Logarithmischen Tafeln. Je seltsamer, je abstruser seine Aeußerung, desto mehr imponirte sie.

Jetzt wieder saß Klingsohr im Alsterpavillon bis zwölf Uhr Nachts mit derselben Beharrlichkeit und in demselben Wechselverkehr mit den »Gleich-Gleich-Herr!«'s wie sonst. Aber »zerrissener« und wüster als sonst war seine Art, bitterer sein Humor; Scherze, die er oft bis zur Ausgelassenheit über einen und denselben Gegenstand »zusammenjeanpaulisiren« konnte, flossen nicht mehr von seinen zuweilen krampfhaft zuckenden Lippen. Man brachte bei Beobachtung dieser Veränderung den ihn betrübenden Tod des hochgefeierten Vaters in Rechnung, dann die Liebe zu dem Elfenkinde vor dem Dammthor, das alle gesehen und wegen 71 ihrer fremdartigen, hier zu Lande nicht üblichen Art des Aussehens und Benehmens bewunderten. Einige »schlechte Witze«, die dieser oder jener sich erlaubt hatte, waren nahe an die »touchirende« Grenze gegangen, da aber durch energische Erklärung ein für allemal beseitigt worden. Als man von einem bei dem Kleesaatmakler Carstens in »Correction« gegebenen »Röslein auf der Heiden« sprach und das Rauhe Haus erwähnte, hatte sich Klingsohr vom Tische erhoben, wie wenn jeder Zoll an ihm auf zwei hinauswüchse und sein Haupt geradezu bis zur Kassiopeja hinauf wollte; er sprach dabei kein Wort, nur sein in der Regel ausdrucksloses Auge starrte irr wie an einem ergrimmten Thier. Von Stund' an war das Gespräch über diese Liebe rein und unentweiht, wenn man auch nicht begriff, wie sie den von einem solchen Besitz Beglückten nicht mehr beleben und erheitern konnte.

Des Geldes, das allerdings sonst, wenn es mangelte, dem »Weltschmerz« Vorschub zu leisten pflegte, besaß Klingsohr genug. Wie kam er zu dieser verstimmten Laune, diesem schlendernden, dicht an den Häusern entlang schleichenden Gang, diesem Niederblicken, diesem heftigen Aufschlagen der Gläser, daß sie oft in Scherben zersplitterten, diesem erbitterten Angriff auf Richtungen, denen man ihn verwandt geglaubt hatte, dieser gehässigen Verfolgung alles dessen, was lebensvoll und fröhlich sich um ihn her tummelte?

Einige Aufsätze schrieb er damals für Blätter, die seine Freunde redigirten. Die darin enthaltenen doctrinären Behauptungen gingen selbst diesen zu weit. In einer Republik von Bürgern rühmte er den Adel, nannte diesen von Gott eingesetzt, stellte ihn wie eine Leuchte hin, die das Dunkel der Zeiten erhellen sollte, pries ihn seiner Einseitigkeit wegen, in welcher die Bürgschaft seiner Kraft läge, ja schloß damit, daß kein Denker besser die Zeit erfaßt hätte als 72 jener Ludwig von Haller zu Winterthur in der Schweiz, derselbe, der Luther'n einen sittenlosen, entlaufenen Mönch genannt hat.

Diese Artikel erregten Widerspruch. Sie würden in dem Kreise, der Klingsohr bewundernd umgab, eine Spaltung hervorgerufen haben, wenn nicht seiner Vergötterung des Adels mit der schneidendsten Ironie die Nemesis gefolgt wäre.

Sie erregte das Aufsehen der ganzen Stadt.


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