Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

73 17.

Eines Tages, an einem schönen Nachmittage, saß Klingsohr wieder am Alsterpavillon unter seinen Freunden.

Sie waren heute zahlreicher denn je vertreten, da man aus dem schönen wallenden blauen Bassin nächstdem ein Wettrudern veranstalten wollte, zu welchem einige von ihnen als Comitémitglieder gehörten. Noch wünschten sie sich über mancherlei dabei zu beobachtende Vorschriften vor der entscheidenden Sitzung zu verständigen. Schon baute man auf einigen Kähnen ein Gerüst, das in bunter Ausschmückung in der Mitte des Bassins als Festtribüne vor Anker liegen sollte. Die Masse der Bevölkerung wogte hin und her. Klingsohr war vorm Dammthor gewesen und hatte, wie schon oft, Lucinden nicht gefunden.

Diese konnte das Einerlei der Beethoven'schen Sonaten, der grünen Erbsen und vaterstädtischen Münzen nicht länger ertragen und hatte nach rechts und links ihr Terrain erweitert. Menschen, die von einer frischen und lebenskecken Kraft sich bestimmen lassen, finden sich überall. Lucinde hatte die ganze Reihe der Sommerwohnungen von Nr. 25 bis 40 diesseit der abgeblühten Hollunderhecke und jenseit von Nr. 45 bis 60 durchbrochen und dort durch Vermittelung von Kindern, hier durch einen entflogenen Papagai, da durch ein am Buschwerk des Gitters beim Vorüberstreifen hängen gebliebenes Tuch, dem man von innen 74 Abhülfe spendete, eine Bekanntschaft nach der andern geknüpft. Zum Schrecken der beiden Damen Carstens war sie überall einheimisch geworden, sowol bei Menschen, die jährlich 10000 Mark einnahmen, als bei solchen, die vielleicht nur auf 4000 kamen, und sogar den Winter über die Sommerwohnung nicht verließen; »ja bei Juden sogar«, bei Lotteriecollecteuren und Hausmaklern sprach sie ein und wußte alle Geheimnisse der jungen Mädchen und jungen Frauen, der Matronen, sogar der Ehemänner und Greise. Ihre Zutraulichkeit befremdete erst, dann entzückte sie. Die fremdartige, für süddeutsch geltende Aussprache, der geringe Werth, den sie auf ihre Anmuth legte, ihre Neigung zum Necken gefielen so ausnehmend, daß sogar Eifersuchtsscenen ausbrachen, zunächst darüber, wer sie am längsten und am öftersten besitzen konnte. Lucinde erkannte sich kaum selbst wieder in diesen Erfolgen. Die alte Erfahrung, daß in ein steifes, allzu geregeltes Treiben ein glücklich organisirter Geist mit den leichtesten Mitteln Leben und Bewegung bringen kann, bestätigte sich aufs neue. Sie staunte über das, was sie zu Stande brachte. Alle Herzensgeheimnisse von einem Dutzend junger Mädchen kannte sie, und Männer, die sonst auf Spaziergängen kalt vorübergingen, waren ihr jetzt in dem geheimsten Charakter derselben enträthselt. Sie half, wo sie konnte. Sie selbst erntete Huldigungen in solchem Uebermaß, daß sie nicht wußte, was damit anfangen. Noch entdeckte sie alles Klingsohr und nahm dessen Warnungen auf. Bald aber stellte sie Vergleiche an und gerieth in Neckereien und Versteckspiele, ganz in der ihr eigenen Weise, die allen und keinem gehörte. Dann folgte freilich auch die Reaction. Hier war eine Eitelkeit verletzt, dort ein Verdacht übertrieben worden; schon gab es Vorwürfe, Verfeindungen; Freundschaften lösten sich im Lauf eines einzigen Abendspazierganges in entsetzliche Enthüllungen, Racheplane und Warnungen auf. Hütet euch vor der! riefen die 75 einen, während die andern noch das treueste und edelste Herz liebkosten und nur ein Kind der Natur in Lucinden sahen, dem niemand gram sein könne, selbst wenn es unüberlegte Streiche machte. Kein Wunder, daß in diesen immer mehr zunehmenden Wirren Klingsohr oft stundenlang bei Sophia Carstens, die etwa Erbsen kernte, oder Meta, die »Lieder ohne Worte« spielte, oder bei Nikolaus, der in die Geschichte der alten hamburger Bürgermeister verloren war, verweilte und von seiner in Feld und Wald verflogenen Liebe nichts finden konnte.

In der durch eine solche Nachricht von einer wieder in die Sumpf-, Moor-, Wald- und Sandsteppenwelt hinter Eppendorf hinausgegangenen Wanderung erzeugten Misstimmung war Klingsohr an jenem Nachmittage zur Stadt zurückgekehrt. Das auf der Alster vorbereitete Vergnügen war ein aristokratisches; so fanden sich in dem Kreise, den er betrat, gerade diejenigen anwesend, die ihr Patricierblut in denselben Wallungen kund zu geben pflegten, wie wenn sie zu den »Granden der Ukermark« oder zu Mecklenburgs Vollblut gehörten. Zu den Hofschlittenfahrten unter den berliner Linden können die Farben, welche die Vorreiter tragen, die Farben der Federn, die auf den Köpfen der Rosse wehen sollen, nicht sorgfältiger nach den heraldischen Thatsachen der Familienwappen bestimmt werden, als hier die jungen Doctoren aus den Familien der Millionäre und die künftigen Senatoren und Gesandten der Republik von den Emblemen ihrer Wimpel, den gestreiften Farben ihrer Ruderboote und Ruderer sprachen. Die »Ehre« war in ihrer ganzen, so empfindlichen und bekanntlich nur geringen Elasticität angespannt, und Heinrich Klingsohr gab seine Rathschläge in einem Ton, als wenn er in der That ein rechtmäßiger Sohn jenes Freiherrn von Wittekind war, dessen Processe er nur führte.

In diesem Augenblick geschah ihm etwas Furchtbares.

76 Eine schlanke, hohe Gestalt in schwarzem Frack, mit einem, hierorts auffallenden Orden auf der Brust, drängte sich durch die dichten und dem Alsterspiegel zugewandten Menschenmassen an den von den geachtetsten jungen Männern der Stadt besetzten Tisch. rief einem derselben, dem er den Hut vom Kopfe schlug, ein lautes. fast kreischendes: Hab' ich dich, Schurke! entgegen und schlug mit einer Reitpeitsche auf Schultern, Kopf und Hände desselben so unbarmherzig zu, daß im Nu blutige Striemen auf Stirn und Wangen traten. Man hätte noch Aergeres befürchten müssen, wenn nicht andere dem Rasenden, der, um noch ärger über sein Opfer herfallen zu können, Stühle und Tische umwarf, im Augenblick in die Arme gesprungen wären und mit der äußersten Anstrengung seinem Beginnen ein Ende gemacht hätten.

Der so Getroffene war Klingsohr. Auch den Angreifer erkannte man sogleich. Sowol Klingsohr, soweit er die Besinnung behielt, erkannte ihn wie mehrere in der Gesellschaft. Es war kein anderer als ein älterer göttinger Studiengenosse, Freiherr Jérôme von Wittekind.

Der Kammerherr nannte alsbald seinen Namen selbst und warf zum Ueberfluß noch eine Karte auf den Tisch. Andere rissen ihn fort. Das rege Rechtsgefühl und das schnell entschlossene Naturell der Bevölkerung machte sich in der Beihülfe geltend, die der Mishandelte erfuhr; man riß den Störer des Stadtfriedens nieder und nur die Mitglieder der Gesellschaft, die sein Ueberfall so urplötzlich gestört hatte, konnten sowol die Volksjustiz wie die Arrestation hindern. Alle erkannten, daß hier ein Vorfall stattfand, der einem Ehrengericht angehörte, nicht der Polizei.

Klingsohr blutete. Sowie er zum Bewußtsein gekommen war, wollte er sich entfernen. Kein Wort sprach er, ja er schien dem Ueberfall eine Bedeutung zu geben, die diesen gänzlich dem 77 Bereich fremder Einmischung entzog. Um den Angreifer, dessen stattliche Gestalt imponirte, der sogar sofort eine Erfrischung bestellte und die Börse zog, hatte sich sofort eine Gruppe gebildet. Bald stand es fest, daß eine solche Selbsthülfe doch wol nur die Folge eines äußersten Zwanges gebotener Umstände gewesen, und wenn auch Männer und Frauen riefen: Er ist toll! wenn auch einige der Herren am Tische es überdies bereits gesagt hatten: Es ist der tolle Wittekind! so erblickte man doch zunächst in seiner Handlungsweise nur das Maß, wie weit Rache und langgeschürte Wuth einen Menschen ohne Zweifel begründetermaßen fortreißen konnten. Den Angreifer begleiteten dann über die Straße einige seiner alten Commilitonen auf einige Zimmer, die er, vor einer Stunde angekommen, im ersten Stock der auf zwanzig Schritte nahe gelegenen Alten Stadt London genommen, nun aber auch auf Befehl der Polizei nicht mehr verlassen durfte. Man erfuhr von dem ohne alle Begleitung Angekommenen, daß ihm Klingsohr »seine Braut entführt« hätte.

Wirr genug waren die nähern Angaben des Racheschnaubenden; aber kannte nicht jeder das Räthselhafte der Persönlichkeit, mit welcher Klingsohr in Hamburg aufgetreten war? Der Kammerherr konnte, wenn er einen seiner tobsüchtigen und bösen Gedanken unausgesetzt verfolgte, mit Consequenz verfahren wie ein Vernünftiger. Jetzt war er heiter, lachte, ließ Champagner kommen, behielt seine alten Freunde bei sich und widersetzte sich der Anordnung eines Ehrengerichts keineswegs. Die Satisfaction, die als dem so schmählich Gezüchtigten gebührend sogleich anerkannt wurde, versprach er ohne weiteres geben zu wollen, drang aber auf Eile, wobei er sich benahm, als drohten bei Verzögerung Gefahren für ihn und andere. Niemand begriff dabei recht, wie mit einer gewissen lachenden Geberde der längst als schwachsinnig Bekannte immer auch die Freude über seine Flucht 78 aus einer, wie es schien, gewaltsamen Absperrung kund geben konnte.

Klingsohr wurde sofort in seine Wohnung gefahren. Ihn begleitete der andere Theil der gemeinschaftlichen Freunde. Als man von einer durch die Kugel herbeizuführenden Entscheidung sprach, sprang er auf, stieß das Gefäß mit kaltem Wasser, woraus man die Umschläge anfeuchtete, die die Striemen seines Antlitzes kühlen sollten, zurück und blickte starr ins Leere, wie schaudernd vor einer gräßlichen Gedankenverbindung. Dann sank er in einen Sessel zurück, dumpf vor sich hinbrütend, das Haupt aufgestützt und den Kopf schüttelnd wie über das Unerklärlichste der Welt. Die vor einer ganzen Stadt erlittene Beschimpfung war groß genug. um diesen starren Ausdruck, der sich bis zum Ausbruch eines jeweiligen bittern Lachens steigerte, nur allein seinem Ehrgefühl zuschreiben zu können. Nannte man jedoch den Kammerherrn verrückt, so schüttelte er den Kopf und that, als wäre sein Beleidiger der Weisesten einer und von Gott selbst gesandt.

Daß Jérôme von Wittekind in dem Grade schwachsinnig war, wie ihn Lucinde kannte, wußte man in diesem Kreise noch nicht; man hatte vor Jahren in Göttingen des Verkehrten genug von ihm erlebt, aber selbst Klingsohr kannte ihn nicht in seinem ganzen Zustande. Einem der Freunde, einem Arzt, der lange bei dem Thema der Narrheit des Beleidigers verweilte, unterbrach er die Rede. Seiner Aufregung und dem Mismuth, zur Herstellung seiner mishandelten Ehre – wie einmal die Logik des Duells mit sich bringt – nun noch sein Leben preiszugeben, mußte man zuschreiben, wenn seine Aeußerungen herauskamen wie Schauder über die Fügungen des Geschicks. Dumpf sprach er in Stellen aus den Tragikern aus, daß das Schicksal seine Verhängnisse durch unsere eigene Thorheit und Leidenschaft vollziehen lasse.

79 Ebenso wichtig, wie die Vorbereitung zu einem Duell, die Klingsohr als den Abschluß des die ganze Stadt erfüllenden Vorfalls ruhig geschehen ließ, war die Fürsorge, die man zu treffen hatte, um besonders auch Lucinden vor dem Kammerherrn zu sichern.

Sofort wurde eine Mittheilung nach der Sommerwohnung des Herrn Carstens gemacht, mit der Warnung, Fräulein Schwarz nicht einem Ueberfall bloßzustellen, der bei dem Charakter einer solchen Leidenschaft, wie sie der Kammerherr zur Schau getragen, leicht in noch einer andern Gewaltsamkeit bestehen konnte.

Die Damen des Hauses erschraken nicht wenig, theils über den Vorfall an sich, theils über die in Aussicht gestellten Folgen. Sie beklagten, eine Person aufgenommen zu haben, die nun in der Stadt ein »schönes Gerede« veranlassen würde. Hatte sich Lucinde bereits unter einem Dutzend Familien die verschiedenartigsten Beurtheilungen zugezogen, so gab sie denen, die ihrem Charakter mistrauten, sie der Koketterie und Intrigue beschuldigten, jetzt eine Thatsache an die Hand, die das Urtheil derselben rechtfertigte. Sie war die Geliebte eines vornehmen Adeligen und diesem von Klingsohr entführt –! Schreckensworte für das Ohr der Damen Carstens, die von Lucindens lang dauernden Spaziergängen und Landpartieen und ihrem deshalb spät Abends bis zum Dunkelbraunwerden ziehenden, auf die Kostgängerin wartenden Thee genug indignirt waren.

Als Lucinde die Kunde von dem Vorfall am Alsterpavillon vernahm, überfiel auch sie ein Grauen bei dem Gedanken, dem Kammerherrn zu begegnen. Nimmermehr! rief sie und sah um sich, wie einst ihre Tauben thaten, wenn sie den Stoßvogel erblickten. In dem engen Raum dieses Hauses, selbst wenn man Herrn Carstens hätte veranlassen wollen unten zu schlafen, war kein Versteck zu finden. Auf dem Rödingsmarkt gab es im 80 Sommer nur herabgelassene Vorhänge, jetzt keine Betten, keine Bequemlichkeit, und doch erklärte sie, gern auf der Erde schlafen zu wollen, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, diesem ihr jetzt schrecklichen Verfolger zu begegnen. Aber jedem der drei Geschwister fiel irgendeine Bagatelle ein, die in seinem Nichtbeisein in der Stadt beschädigt werden konnte. Sie erklärten, dann auf einige Zeit lieber alle in die Stadt mit zurückgehen zu wollen, wodurch natürlich der Versteck wieder aufgehoben wurde. Endlich bot sich ein anderes Auskunftsmittel. Die rasch geschlossenen und rasch wieder abgebrochenen Freundschaften mit der Nachbarschaft hatten bei zwei Interessen Stand gehalten, einem materiellen und einem geistigen. Ein Modehändler vom Neuenwall hatte in der jetzigen Saison morte keinen bessern Kunden als die junge Pensionärin des Kleesaatmaklers Carstens. Lucinde war vom Kronsyndikus und Klingsohr reichlich mit Geld ausgestattet. Zu ihren Liebhabereien gehörte es nicht nur, sich zu schmücken, sondern mehr noch, in der Stadt von Laden zu Laden zu gehen und Einkäufe zu machen. Sie hatte die Liebhaberei des Schenkens. Manche von denen, die nichts mehr von ihr annehmen wollten, behaupteten, daß sie sich damit nur das Recht erkaufen wollte, die beschenkten und demzufolge ihr verpflichteten Menschen desto mehr verletzen und ärgern zu können. Die Damen Carstens nannten sie eine Verschwenderin und begriffen nicht, wie sie bei einer Beschwerde darüber von Klingsohr die Antwort bekommen konnten: »Feen schenken gern!« Wußte er doch auch, daß Lucinde darben, auf Stroh liegen konnte ebenso wie in goldenen Palästen wohnen. Bis jetzt hatte sie mit dem Leben nur gespielt; sie schien zu wollen, daß auch das Leben nur mit ihr spielte. Etwas selbst und lange zu erwarten und zu erhoffen, wäre ihr das Drückendste gewesen. Hätte sie damals die Volksjustiz nicht von der Frau Hauptmännin erlöst, sie würde vielleicht noch bei 81 ihr gedient, noch die Zwetschenkerne sich zerschlagen und sie als eine Delicatesse verspeist haben, glücklich, daß es wenigstens nicht die gefangenen Mäuse waren.

Es gibt einen großen Bund in der Gesellschaft, der seine eigenen Mysterien hat, den Bund der Notenkundigen, der einer Verschwörung gegen die musikunkundige Welt nicht unähnlich sieht. Dieser Eifer, sich zu Duetten und Trios zu vereinigen, bei welchen Madame Möller und Fräulein Wulff sangen, Lucinde spielte – der Gesang war ihr versagt –, dann einmal Herr Möller mit der Violine, Herr Wulff mit der Flöte begleitete, dieser Fanatismus, bei keinem Streichquartett der Dilettantenwelt, bei keinem Concert durchreisender Berühmtheiten zu fehlen, dies ewige geheimnißvolle Verbundensein mit Felix Mendelssohn-Bartholdy auf dem Wege der Tonschlüssel in A-Dur und C-Moll – ein ganz eigener Cultus, der, wie es die Dissonanz des Lebens und der Genuß an etwas mehr oder minder rein gestimmter Harmonie einmal mit sich bringt, bis zur souveränen Verachtung aller Uneingeweihten führt und aus Notenkundigen schon die größten Aristokraten und Tyrannen gemacht hat. Madame Möller hatte bei einer zufälligen Anwesenheit in Leipzig von einer Schülerin Mendelssohn's singen gelernt, was so viel war als von ihm selbst. In den Räumen der Sommerwohnung »Möller und Wulff« hatte man Musikaufführungen gehalten, deren Wichtigkeit zwar nicht ganz, aber doch annähernd den Sitzungen des deutschen Bundestags gleich erachtet wurde; auch Meta Carstens schloß sich an, einige junge Buchhalter und Gelehrte spielten Bratsche, Cello oder entwickelten guttreffende Stimmen. In diesem Kreise war es, wo sich Lucinde am längsten hielt. Sie begleitete nur, spielte nur zweite Stimmen und lachte innerlich sowol über die langen Hälse der Singenden wie über die allgemeine menschliche Eitelkeit.

82 In das dieser Familie gehörende Haus auf dem Neuenwall flüchtete sich Lucinde. Madame Möller und Fräulein Wulff schliefen zu ihrem Schutze in der Stadt mit ihr. Aus dieser verschwiegenen Einsamkeit entstand eine Frequenz, welche die des im Parterre befindlichen Sommergeschäfts übertraf. Herr Noodt hatte den Aufenthalt bald erkundschaftet und gönnte Herrn Wulff nicht die beständige Nähe Lucindens und machte Besuch und Fräulein Smidt fürchtete diese Annäherung und machte sich selbst bei Madame Möller zu schaffen und Fräulein Jansen fürchtete wieder, Herr Gensler würde demselben Triebe folgen, und suchte die Fährte auf, die auch endlich nicht nur Herr Gensler, sondern auch Herr Burmester, Herr Johannsen und Herr Wilckens gefunden hatten. So verstrichen drei Tage in einem nicht endenden Klingeln der Dielenthür und einer Aufregung der an Lucindens Verborgenheit betheiligten Personen, die sich nur durch Musik beschwichtigen ließ; man sang, man stritt über Noten und Tonarten und da der Flügel fehlte, sang man Scalen und Solfeggien und stritt über den größern Werth der Schumann'schen oder der Mendelssohn'schen Lieder.

Um ein Wesen, das sich in dieser Lage so benehmen konnte und nur auf das dringendste Verlangen der Damen Carstens zu bewegen war, einige Zeilen des Bedauerns an Klingsohr zu schreiben, ihm ihre Flucht, ihre Sicherheit, ihren Antheil an seinem schmerzlichen Erlebniß auszudrücken, schoß sich dann, zwei Tage nach der erhaltenen öffentlichen Beschimpfung, Klingsohr mit seinem Jugendfreunde hinter Ottensen auf zehn Schritt Barrière.

Man hatte vorher vieles erwogen. Klingsohr hatte sich mit den Secundanten eingeschlossen, hatte von seinen Verpflichtungen gegen den Kronsyndikus gesprochen; immer aber trat allen Abmahnungen, die aus seinem Innersten hervorbrechen wollten, 83 das Bild entgegen: Vor einer ganzen Stadt mit der Reitpeitsche durchgehauen! Die Satisfaction konnte nur in einem Duell bestehen.

Man hatte die Formen des Duells so leicht wie möglich gemacht, die Distanzen nach den größten Maßen genommen und dennoch – nachdem der Kammerherr, ohnehin abgekühlt und von der Gefahr erschreckt, einen verfrühten Schuß ohne zu avanciren blindlings abgefeuert hatte, schoß ihn Klingsohr mit seinem ersten Schuß und auf einen einzigen Anschlag nieder.

Die Kugel drang zwischen die untern Rippen in Blutgefäße, die sich augenblicklich zu entleeren begannen. Eine Secunde stand noch Jérôme, entfärbte sich, suchte sich zu wenden und sank entseelt zu Boden.

Nach vollbrachter That wurde Klingsohr von seinen Freunden dringend aufgefordert, den im Gehölz befindlichen Wagen zu besteigen. In dieser menschenbesäeten und gutbewachten Gegend mußten zwei Schüsse selbst in der ersten Morgenfrühe auffallen. Der mitgenommene Arzt erklärte, jeder Versuch, den Gefallenen ins Leben zurückzurufen, wäre vergebens. Klingsohr zeigte einen dumpfen Schmerz. Er stand erstarrt und mochte sich nicht trennen von der Leiche. Laßt mich! rief er und schleuderte die, die ihn fortziehen wollten, zurück.

Wir beschwören dich! rief man. Klingsohr! Die Flurschützen kommen!

Klingsohr blieb starr und schauderte nur.

Der Frevel ist bestraft, wie er's verdiente! rief man. Komm!

Klingsohr beugte sich mit einem Knie, stemmte das Haupt auf das andere Knie und faßte die erkaltete Hand des schon Verblichenen. Die lange herculische Gestalt lag marmorblaß, die Lippen waren krampfhaft geöffnet, wie wenn von ihnen ein Wort noch hätte kommen sollen, das ein so plötzlicher Tod abschnitt.

84 Da jeder Lebenshauch geschwunden war, so nahmen die Secundanten die wichtigsten Dinge aus den Taschen der Leiche, um sie selbst bis auf weiteres liegen zu lassen, amtliche Rencontres zu vermeiden und vorläufig nur sich selbst zu flüchten.

Mit Widerstreben wurde Klingsohr in den Wagen gezogen.

Man sah Menschen dem Gehölz zueilen, glaubte aber den Vorsprung noch frei. Die Rosse zogen an, der tiefe Sand gestattete kein schnelles Ansprengen. Kaum hatte man das Gehölz hinter sich, als der Flurschütz mit einigen schnell herbeigerufenen Landleuten ihnen in die Zügel fiel.

Jetzt, wie zur Besinnung kommend, sprang Klingsohr auf, riß die eine der noch geladenen Pistolen an sich und erschreckte dadurch seine Freunde so, daß sie sich nur damit beschäftigen konnten, ihm die gefährliche Waffe zu entwinden. Darüber verloren sie den Vortheil, entweder zu entkommen oder, wie wol in solchen Fällen geschieht, sich durch Bestechung loszukaufen. Sie mußten ihre Namen nennen und versprechen, mit dem Wagen dem Flurschützen zu folgen. Auf dem Stadthause in Altona wurde ein Protokoll aufgesetzt. Klingsohr, dem nur zunächst an der würdigen Bestattung seines Opfers lag, mußte zurückbleiben. Die andern entfernten sich auf Ehrenwort.

Nach einer so ernsten Wendung war für niemand der Boden unter den Füßen mehr hinweggenommen als für Lucinden. Sie kehrte auf die erste Schreckenskunde zur Carstens'schen Familie zurück, aber der Fall wurde so vielfach erörtert, mindestens so oft erzählt, daß sie Gegenstand der allgemeinen Neugier und keines ihr günstigen Urtheils wurde. Der Schimpf, der Klingsohr angethan gewesen, war bestraft; ihn erwartete ein Spruch der Richter; nur sie, die Veranlassung dieser blutigen Scenen, ging frei aus, und jetzt konnte selbst die Musik nicht mehr ihren klingenden Schild über sie breiten. Sie fühlte ihre 85 Lage und zum ersten mal war ihr Nr. 33 gerade recht; die zwei Bettschirme, die sie von den Schwestern trennten, ließen ihr gerade so viel Raum, wie sie auf einige Tage bedurfte. Daß in solchen Lagen Naturen wie die ihrige allein stehen, aber auch ganz allein, das erfüllte sie mit Bitterkeit. Sie machte sich Geständnisse über sich selbst, über ihre Umgebungen, über ihre Grausamkeit gegen Klingsohr. Sie liebte ihn nicht mehr. Was traf sie da nach ihrer Meinung weiter für eine Schuld! Diese ganze Umgebung war ihr peinlich geworden, da schon lange alles das es wurde, was sie durchschauen konnte. Sie hatte angefangen, sich fortgesetzt einzureden, daß diese Welt eine ganz nichtige, nur dem Schein huldigende, daß diese Menschen alle, die sie bevölkern, nur Puppen wären, die an den Drahtseilen einiger klugen Matadore tanzten. Welche Narrheiten rechts und links! Diese Schwestern, die einen Bruder tyrannisirten, nur um ein gesichertes Alter zu haben! Pedantinnen in jedem Wort, das sie sprachen, in jedem Schritt, den sie thaten, immer nach dem Wetter lugend, auch in geistigen Dingen, immer bedacht, was werden die Leute dazu sagen! Und Herr Carstens selbst, eitel auf eine Liebhaberei, zu deren Betreibung er nur die Geduld, nicht die Kenntnisse besaß, sonst stundenlang beschäftigt mit dem Selbstrasiren seines Bartes, mit dem Knüpfen seiner Halsbinde! Dieser Professor links, bei jedem Worte, das er sprach, sich umsehend, wie dessen Wirkung wäre, die Silben zählend, als wenn er die deutsche Sprache erfunden hätte und sie schonen und nicht allzu gemein machen müsse! Diese Frauen überall von Haus zu Haus; jede versunken in ihr eigenes Interesse, in ihre Kinder, ihre Möbel, ihre Tassen, ihre Kleider, ihre etwaige Schönheit! Des Prahlens mit Gefühlen da, mit höhern Absichten dort kein Ende! Die Musiknärrinnen vollends schon die lächerlichsten von allen! Nun entdeckte sie, daß sie viel mehr 86 wußte als sie alle, daß sie Gesichtspunkte hatte, während alle im Nebel tasteten; denn keines wußte vom Leben selbst so viel, als sie doch schon erkannt hatte oder als sie Klingsohr verdankte, der so viel Ahnungen und Lichtblicke in ihr geweckt hatte. Doch auch für diesen ergriff sie kein reines Mitgefühl mehr. Sie hatte die Vorstellung von sich, daß ihr im Leben irgendein weit größeres Ziel beschieden wäre und daß alle diese Begegnungen, die sie bisjetzt erlebt hätte, nur dazu dienten, ihre Entwickelung zu fördern. Nur die Schlangenhäute waren es, die sie abstreifte. Seit dem Tode Jérôme's rechnete sie auch schon Klingsohr tiefinnerlich zu dem, was für sie abgethan war.

Was aber beginnen? Zurück mochte sie in nichts! Das Verhältniß zum Kronsyndikus mußte nun wol aufhören! Ihr Verlobter war der Mörder seines Sohnes geworden! Jetzt erkannte sie, daß Klingsohr unmöglich des Kammerherrn Bruder sein konnte! Die Rolle, die sie in jener Schreckensnacht auf Schloß Neuhof angefangen zu spielen, schien ihr zu Ende. Aber diese unbestimmte Gegenwart konnte doch auch nicht bleiben. Und sollte sie mit ihren seidenen Kleidern und Hüten »betteln gehen«, sie dachte an Flucht. Sie schrieb einige Briefe. Einen an ihre Geschwister, die aus dem Waisenhause zu Meistern gegeben worden waren, um Handwerke zu erlernen, einen sogar nach Eibendorf an den Pfarrer, einen wagte sie auch an den Kronsyndikus. Die Empfindungen, welche die Situation der Anzeige des erlebten Schrecklichen mit sich brachte, waren ihr geläufig, sie schrieb sie mit der größten Gewandtheit nieder. Auch dachte sie an jene Angelika Müller, mit der sie nach Hamburg gereist war. Irgendwo hoffte sie auf Rath, nur nicht in ihrer nächsten Umgebung oder von Klingsohr.

Von diesem bekam sie aber täglich einen Brief. Die Sprache darin war besonnen. Er sagte, daß seine jetzige Lage ihm 87 wohlthäte; es läge ein unendlicher Trost darin, sich einmal so recht von dem Gesetz des Lebens, wie es ist, von den eisernen Armen der natürlichen Folgen unserer Handlungen gehalten zu sehen und keinen freien Willen mehr zu haben. Er bat sie, eine Weile auszuharren, bald würde sein Geschick entschieden sein; ein Jahr Festung würde nicht ausbleiben: er würde diese Strafe in einer schönen Stadt am Busen der Ostsee zu verbüßen haben; wenn er wüßte – und er wisse es gewiß – daß ihm in sein dunkles Leben nur der Glanz ihrer Liebe schiene, so könnte er sein Loos nur preisen. »Es liegt«, schrieb er, »ein Zauber im Dulden und Gehorchen; es liegt ein Zauber im Müssen, die wahre Freiheit im Sichgefangengeben! Schon mit dem entströmenden Blut meines unglücklichen Opfers wurde mir leichter! Ich hätte mit seinen rinnenden Tropfen selbst sterben können! Daß ich diese That auf dem Gewissen habe, drückt mich nicht zu sehr. Die Beschimpfung, der ich vor Hunderten von Zeugen ausgesetzt war, überschritt jedes Maß. Der Kammerherr war nicht in dem Grade geistesschwach, daß er nicht mit kluger Berechnung einen so boshaften Plan ausführen konnte. Alle meine Richter sind voll Theilnahme und schon meine Freunde geworden. Der Greis auf Schloß Neuhof wird seinen Sohn von mir nicht fordern, von mir nicht, Lucinde! Ich schrieb ihm nicht. Theile Du mir mit, was er Dir antworten wird, falls Du ihm den Vorfall anzeigst, wie schon andere thaten. Sag' ihm, daß ich ihm das Vaterherz, das er mir einst schenken wollte, jetzt zurückgegeben hätte und meinen Weg auch über die Wälle einer Festung hinweg finden würde; irgendwohin komm' ich schon, wo ich mit Dir, Lucinde, meine Hütte bauen kann! Lies Bernardin de St.-Pierre! Und lerne englisch! Diese britische Literatur hat Freude an den Dingen, wie sie sind! Es geht nichts über die Ergebung, nichts über die Geduld, die sich mit einer Blume und 88 einem einzigen Sonnenstrahl beschäftigen kann! Sieh, hier hab' ich ein Zimmer, angenehm, geräumig, aber das Licht fällt von oben, die untern Fensterladen sind geschlossen und nicht zu öffnen. Zwischen den Ritzen stiehlt sich ein Sonnenstrahl hindurch. Ich beobachte ihn stundenlang. Er geht wie der Schatten eines Sonnenuhrzeigers im Kreise. Es ist Nichts, ein Schein und doch wie wesenhaft! Die Atome zittern und tanzen in ihm! Ohne diesen Strahl würden die Atome sinken und nicht, für mich wenigstens, dasein, aber in ihm wirbeln und erhalten sie sich und immer rundum. So halten sich die Welten! In einem höhern Sonnenstrahl werden wir einst das selber sehen, selber fühlen! Wie überflüssig alles Wissen, wenn man das weiß! Ich brauche kein Buch mehr. Man hat mir Bücher und Schreibpapier angeboten. Ich will nicht mehr haben als ich brauche, um an Dich zu schreiben. Lesen ist mir verhaßt. Jeder Buchstabe, der nicht aus der Welt jenes meines einzigen Sonnenstrahls kommt, thut mir weh. Menschen! Menschen! Ihr dünkt euch so viel! Ich könnte alles hingeben wie ein Mönch, wenn nur im Klostergarten ihm sein kleines Blumenbeet bleibt!«

Für Lucinden waren diese Klagen nicht im mindesten rührend. Sie schrieb, aber gerade diese Klagen beantwortete sie nicht. Sie überließ sich scheinbar Klingsohr's Anordnungen, besprach jedoch eine Reise nach England mit Herrn Carstens, der schon, um sie zu entfernen, in Correspondenz mit jenem Pächter stand, dessen Bekanntschaft er die Pensionärin verdankte. Nach dem Glauben der Nachbarn war Lucinde schon fort und manchem ihrer Nekrologe oder ägyptischen Todtengerichte, die ihr vor dem Fenster und hinter herabgelassenen Vorhängen draußen in der Laube von einem Einsprechenden gehalten wurden, konnte sie selbst zuhören.

Am Tage nach der Beisetzung des Kammerherrn war ihre Ungeduld kaum noch zu halten. Die Verantwortlichkeit des 89 Hauses für sie hatte sich aufs höchste gesteigert. Die Damen Carstens schliefen nicht mehr ruhig. Sie schlossen Lucinden am Tage ein, sie versagten sich selbst den Genuß der Natur, gingen nicht aus, verschlossen sogar das Piano, nur damit sich Lucinde nicht durch Spielen verrieth.

Noch den dritten, vierten Tag ließ sie sich durch eine Reisebeschreibung über England beschwichtigen. Am fünften aber drohte sie mit einem Sprung aus dem Fenster. Sie hatte gerade beide Schwestern, die sie verzweiflungsvoll an den Kleidern hielten, hinter sich, als ein eleganter Wagen draußen am Staket vorgefahren kam mit zwei Bedienten, von denen einer die Livree des Schlosses Neuhof trug.

Der Schlag öffnete sich und ganz in Schwarz gekleidet trat, unterstützt von dem andern Diener, eine lange, hagere Gestalt aus dem niedergelassenen Schlage.

Excellenz, der Kronsyndikus! rief Lucinde und wäre fast aus dem Fenster und dem Ankommenden an den Hals gesprungen.

»Um alles in der Welt« von den Schwestern um Anstand und »sittliches Betragen« ersucht, hielt sie sich zurück und bedeutete die Wächterinnen, daß sie denn doch eilends selbst Seiner Excellenz entgegengehen möchten.

Die Schwestern, »zwei Seelen und Ein Gedanke«, drängten sich schon vor einem Spiegel, um ihre Frisur, ihre Kleider zu ordnen. Dies währte lange. Der Kronsyndikus war inzwischen im Garten und pochte schon an die seither immer verschlossen gebliebene Hausthür.


 << zurück weiter >>