Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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35 15.

Zwei Tage nach dem Begräbniß seines Vaters sah man den Doctor Heinrich Klingsohr mit dem Kronsyndikus nach der Buschmühle fahren und daselbst das versiegelte Inventarium besichtigen.

Zwei stattliche Mecklenburger, die besten des Stalles, erst kürzlich herübergekommen aus den norddeutschen Besitzungen der Wittekinds, waren dem leichten, eleganten Wagen vorgespannt.

Wieder einige Tage und der Freiherr von Wittekind-Neuhof und Doctor Heinrich Klingsohr reisten gemeinschaftlich nach jener großen nördlicher gelegenen Stadt, in welcher der Regierungsrath Friedrich von Wittekind eben zum Oberregierungsrath ernannt worden war. Auch ihm waren düstere Gerüchte zu Ohren gekommen über den Tod des Deichgrafen. Um so freudiger überrascht mußte er sein durch den Besuch des mit seinem Vater so traulich verbundenen Sohns desselben. Man sprach mit Unbefangenheit von dem Vorgefallenen und als jenes grünen Tuchkragens Erwähnung geschah, der an der Mordstätte wäre gefunden worden, hieß es, daß durch eine Nachlässigkeit unbegreiflicher Art ein so wichtiges Hülfsmittel der Entdeckung plötzlich wäre abhanden gekommen.

Alle diese Gespräche fanden in Gegenwart der neuen Frau von Wittekind statt. Es war eine Heirath, die erst jetzt die 36 Billigung des Kronsyndikus erhalten hatte. Eine nicht mehr junge, unvermögende, dem Sohne durch Gewohnheit und manche, wie man sagte, schmerzliche Erinnerung werth gewordene Witwe eines geliebten Freundes und Amtscollegen, eines Herrn von Asselyn.

Der Oberregierungsrath fand einen Vorschlag, den sein Vater machte, sehr annehmlich. Doctor Klingsohr sollte die mecklenburgischen und holsteinischen Güter der Familie bereisen und sich in Altona nach der Lage von Processen erkundigen, deren die Familie über diese Besitzthümer mehrere zu führen hatte.

Der Doctor kannte Hamburg und freute sich auf einen ihm bekannten zerstreuenden und anregenden Aufenthalt, dessen Kosten der Kronsyndikus trug.

Den Kammerherrn hatte der Kronsyndikus zum Grafen Zeesen geschickt und zwar schon am Tage nach seiner stürmischen Abreise auf das Vorwerk Eggena. Daß der Unglückliche Widerstand leisten wollte, verschwieg der Vater nicht, ebenso wenig wie den Zwang, den man anwendete, diesen Widerstand zu brechen. Der Vater hatte ihn kurzweg binden lassen. Der später nachgeschickte Diener des Kammerherrn meldete, Graf Zeesen böte alles auf, seinen Herrn zu zerstreuen und zu fesseln. Er sänge ihm geistliche Lieder vor und bespräche die Visionen, die der Kammerherr zu haben glaubte. Inzwischen wäre der Kammerherr bettlägerig geworden; die in der Nähe wohnende Verlobte des Grafen, das Freifräulein von Seefelden, sorgte für ferne Verpflegung.

Alle diese Veränderungen gingen auch an Lucinden nicht spurlos vorüber. Sie erschütterten sie nicht minder wie den Doctor und den Kronsyndikus. Der Doctor, der ihr unter allen Umständen jetzt wirklich als des letztern natürlicher Sohn erschien, wiederholte mit scheuem Niederblick, ernst und verstört, wie er sich jetzt fast immer zeigte, Betheuerung seiner Liebe über Betheuerung; der Kronsyndikus hatte Ursache, die Vertraute aller Geheimnisse, 37 die beide im stillen Verkehr wieder aufnahmen, mit Aufmerksamkeit und Schonung zu behandeln. Sie erhielt Beweise einer Freigebigkeit, die an dem sonst geizigen Manne auffallend war. Da nicht gezweifelt werden konnte, daß sie das Ziel ihrer Herzenswünsche in einer Vereinigung mit Heinrich Klingsohr finden mußte, so wurden die Aenderungen ihrer Lebensstellung dahin getroffen, daß sie diesem nahe bleiben, vorläufig aber noch so weit von ihm getrennt werden sollte, um keinen Anstoß zu geben.

Vor allem fehlte ihr manche Vervollständigung ihrer Bildung. Es war die höchste Zeit, das Chaos ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse zu lichten. Diese Anordnung wurde mit Fürsorge getroffen. Man hatte eine Familie ausfindig gemacht, bei welcher sie, nicht sogleich in Hamburg selbst, wohl aber dicht in der Nähe auf dem Lande, wohnen sollte.

Da Heinrich Klingsohr erst nach Göttingen zurück mußte und bei allen diesen Anordnungen von seiten des wie verwandelten und ganz außerordentlich milde, zahm und nachgiebig gewordenen Kronsyndikus eine Zartheit und Schonung der Sitte und des Anstandes beobachtet wurde, wie wenn es sich wirklich um eine künftige Schwiegertochter desselben handelte, so gab man Lucinden sogar bis nach Hamburg eine Begleiterin mit, die in der vom Oberregierungsrath bewohnten Stadt gewählt wurde und die ihr auf halbem Wege entgegenkam, an dem Tage, wo der Kronsyndikus und Klingsohr sie auf ihrer Abreise vom Schlosse begleiteten.

Die Abreise fiel mancherlei Umstände wegen auf einen Tag, wo der Kronsyndikus und Klingsohr in Lüdicke einen Termin abhalten mußten in Angelegenheiten des, wie es schien, wirklich gravirten Stephan Lengenich, an welchem selbst die Lisabeth irre geworden war, seitdem der Kronsyndikus von seiner Reise zum 38 ältesten Sohn zurückgekommen und ihr eine funkelnde, schwere goldene Kette mitgebracht hatte, wozu, wie der Alte hinzufügte, »jetzt nur noch die Uhr fehle«. Sie thut das Ihrige, sich auch diese zu verdienen.

Diesen Termin in Lüdicke hatte man für kurz gehalten; es dauerte jedoch fast eine Stunde, daß Lucinde auf dem Marktplatz der kleinen Stadt in ihrem vorn und hinten bepackten Wagen harren mußte. Sie konnte bei dem immer gleichrinnenden Strom eines schön geformten alten Rolandsbrunnen, an welchem sie hielt, bei diesem nicht endenden, immer gleichmäßigen Wasserstrahl – der Zeit gedenken. Was hatte ihr diese nicht alles schon gebracht! Was hatte die Zeit nicht schon alles ausgelöscht! Auch das Bild eines auf schaumbedecktem Rosse den steinigen Grund hinterm Park vom Düsternbrook her Emporstürmenden, auch das Bild von der Waldhütte, von den Tannen, vom Monde, der Großmutter, ihrer selbst am Spinnrade, von dem durch die kleinen bleigefugten Scheiben hereinlugenden wilden Jäger mit der rothen Feder am Hute, der dann wieder der Franciscanerbruder Herr von Buschbeck aus Java war. Alles hatte sich ihr schon gebleicht. Denn zu oft hatte der Doctor bestimmt und fest wiederholt und dann der zu Gnaden wieder angenommene bucklige Musikant, vorzugsweise der seit einigen Wochen ganz besonders elastische »schöne Enckefuß« bestätigt: Der Kronsyndikus war allerdings am Platze der grauenvollen That und hatte gesehen, wie der Deichgraf dort getödtet lag; das Entsetzen, man könnte ihn, der ihn in Gedanken tausendmal todtgeschlagen hatte, selbst für den Mörder nehmen, hatte ihn von dannen gejagt, und wenn es geschienen, als jagten gerade ihn die Furien, so wäre es die alte Freundschaft für den Deichgrafen gewesen, die in seinem Herzen trotz des spätern Zerwürfnisses in der That unerstickt geblieben wäre. So erzählte man, so stand alles fest. Und wenn Lucinde 39 den Doctor dann selbst fragte: Bist du wirklich der dritte Sohn? so sagte dieser geheimnißvoll: Störe die Ruhe der Todten nicht! – – In seiner Liebe war der Ausdruck stärker und leidenschaftlicher noch als sonst geworden, wenn auch mit einer mehr unheimlichen als beglückenden Wirkung für sie.

Vom Amte kamen endlich beide Männer kreidebleich zurück. Sie behaupteten, der Querfragen doch müde geworden zu sein und ließen den Wagen einem Gasthause zurollen, um sich zu erfrischen. Lucinde stieg nicht aus. Sie musterte vom Wagen aus das Wirthshaus, den Garten desselben, eine gewisse kleinstädtische Zierlichkeit in den bemalten Staketen, in einer mit grotesken Wandgemälden geschmückten Kegelbahn, in einem ausgestopften Uhu innerhalb einer von Singvögeln belebten Volière. Bei einer großen schwarzlackirten Kugel, die im Garten als Reverbère für die »schöne Aussicht« gelten sollte, gedachte sie des armen, um sie betrogenen philosophischen Drechslers, der den Grafen Zeesen recht eindringlich jetzt an sein Familienstatut, die Stiftung eines Irrenhauses, erinnern mochte. Im Hinblick auf diese beiden Männer athmete sie wahrhaft auf, endlich in gesundere Lebensluft zu kommen. Ja es that ihr wohl, im Saale des Gasthauses durch die geöffneten Fenster, unter ausgestopften Vögeln, Käfern, gespießten Schmetterlingen, Kupferstichen von englischen Pferden und ähnlichen Herrlichkeiten eleganter Wirthsstuben jener Gegend, so traulich hinterm Champagnerglase zwei feste, kraftvoll verbundene Männer zu sehen. Sie liebte Trotz und Kühnheit. Auch ihr war Stephan Lengenich längst der Schuldige. Seinen bösen Sinn hatte sie selbst gekannt, sein Drohen ja selbst gehört. Sie hatte alles das gerichtlich hier in Lüdicke in einem frühern Termin bezeugt und beschworen.

Trotz des Champagners stiegen ihre beiden Begleiter zu ihr schweigsam und ernst ein. Sie blieben noch einige Stunden an 40 ihrer Seite sitzen bis zu einer Station, wo sie Extrapost nahmen und zurückreisten. Von der großen Stadt, wo der jetzige Oberregierungsrath wohnte, sollte ihr auf einige Meilen schon eine Begleiterin entgegenkommen, die sich ihr anschließen würde bis Hamburg, wo sie unter Klingsohr's Augen ihre Ausbildung vollenden sollte.

Der Abschied des Kronsyndikus von Lucinden war inniger fast als der des Doctors. Dieser gab nur die Hand und sprach, wie wenn Abschiede nicht zu seinem »System« gehörten, vom baldigen Wiedersehen. Jener hatte Thränen im Auge. Der Kronsyndikus weinte! Er war seit Wochen um Jahre älter geworden. Seine Augenbrauen sahen nicht mehr so gelblichweiß aus als sonst, sie hatten sich ganz gebleicht. Die hohe Gestalt schien, wenn sie sich unbemerkt glaubte, kaum Kraft zu haben, sich so zu halten, wie dem Inhaber des Wappens vom gekrönten und aufgebäumten Lindwurm geziemte. An Geld und Gut war Lucinde so ausgestattet, daß sie sorglos in die blaue Weite fahren konnte. Nach acht Tagen schon versprach Klingsohr in Hamburg bei ihr zu sein.

War das alles, wie es so kam, ging und was es bedeutete, räthselhaft genug, so konnte sie durch ihre Begleiterin, die nach einigen Meilen Alleinfahrens ihr entgegenkam, erinnert werden, wie alles im Leben nur Bild und ein Gleichniß ist. Diese Dame war, wie Klingsohr und der Kronsyndikus ihr schon gesagt hatten, die Braut des »Sehers von Eschede«, jenes Dr. Laurenz Püttmeyer, der auf die Philosophie des Pythagoras zurückgekehrt war und aus mathematischen Figuren das Weltall erklärte. Sie hieß Angelika Müller, war eine hohe, schmächtige, blasse Blondine am Ende der zwanziger Jahre. Bei jeder Anrede erröthete sie. Sie schien ein Gemüth von Weihe und Innigkeit. In Hamburg war sie von einer dort wohnenden katholischen 41 Familie als Erzieherin berufen worden und gestand sogleich mit größter Sicherheit, daß sie den Dr. Laurenz Püttmeyer von Eschede für den einzigen berufenen Denker unserer Zeit halte und daß sie gelobt hätte, nicht früher seine Hand anzunehmen, bis er in Berlin den erledigten Lehrstuhl Hegel's erhalten hätte. Lucinde glaubte an diesen hohen Geist. Auch der Kronsyndikus hatte erklärt, daß die Drechselbank für den Kammerherrn eine Quelle lehrreicher Unterhaltung geworden wäre, seitdem er die bedeutungsvollen Würfel und Pyramiden des Dr. Laurenz Püttmeyer aus ihr herstellte.

Mit dieser Begegnung auf mancherlei neue Eindrücke angewiesen, fuhr Lucinde in ihrem schwer bepackten Miethwagen die Landstraße hinunter. Die Lerchen wirbelten, aber von Westen kamen düstere, den Athem benehmende Wolken, der den dortigen Gegenden eigene Haar- oder Höhenrauch. Doch schienen die Menschen der Ebene diese Dünste gewohnt. Sie arbeiteten im Felde. Lucinde glich selbst diesen Fluren, auf welchen schon so voll geerntet war und über die schon wieder die Pflugschar ging, um noch in diesem Jahr von der Natur neue Triebkraft zu gewinnen.

Noch war sie sich völlig unklar. Man hätte sie in Hamburg in die Schule schicken können, sie würde gegangen sein – und mit der Mappe unterm Arm.


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