Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom, I. Buch
Karl Gutzkow

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31 4.

Der Stadtamtmann war in der Lage, gerade ein Mädchen zu bedürfen. Er bot Lucinden an, zu seiner Frau zu ziehen. Für die Confirmation versprach er unverzüglich Sorge zu tragen. Sie nickte einfach: Ja! saß bis auf weiteres im Nebenzimmer des Amtssaales eine halbe Stunde allein, setzte im Geist einen Brief auf, den sie an ihren Vater schreiben wollte, und folgte dann dem Stadtamtmann, als er sein Vormittagsgeschäft hinter sich hatte, in einiger Entfernung in seine Wohnung.

Die Polizeidiener ersparten ihr die Gefahr, noch einmal zur »gnädigen Frau«, wie sie lachend titulirt wurde, zurückzukehren, und versprachen ihr alles Ihrige abzuholen und nachzubringen.

Lucinde schaute und hörte hinein wie in eine fremde Welt. Daß sie einer schrecklichen, abscheuerregenden, wie es hieß und auch später im Wochenblatt unter der Rubrik Polizeibericht zu lesen war, »zuchthauswürdigen« Behandlung entronnen war, das fühlte sie eigentlich selbst nicht so recht. Sie ließ sich's von den Leuten nur sagen und nahm's dann hin in der Auffassung, wie die es wollten.

Die Frau Stadtamtmann hatte nichts gegen die Anordnungen ihres Gatten einzuwenden. Nur schien ihr die Zumuthung, das neue Mädchen erst confirmiren lassen zu müssen, umständlich. Indessen sagte sie zu. »Henriettens« Anblick – dieser veränderte 32 Name blieb auch hier – that ihr wohl. Die Frau Stadtamtmann war gerade in der Hoffnung und sorgte dafür, schönen Formen zu begegnen. Der Anblick des anziehenden, schlanken, gesunden Mädchens that ihr wohl.

Es kommt oft vor, junge Confirmandinnen zu sehen, die nur gleich am Altar stehen bleiben sollten, um sich den Ehesegen geben zu lassen. Auch Lucinde war auf besondere Bitte des Amtmanns schon nach vier Wochen ein solcher Spätling unter den weißgekleideten Kindern mit ihren Rosaschärpen und Myrtensträußchen. Der Superintendent gestattete die schnelle Beförderung, denn von einer Schulmeisterstochter setzte er lange Zeit genossene religiöse Bildung voraus. Der Gute wußte wol nicht, daß man sich nirgends mit dem lieben Gott weniger Sorge macht als in Pfarr- und Schulhäusern. Da steht man mit dem Himmel auf dem Fuß des Empfangendürfens im Négligé. Gebetet hatte Lucinde außer vor und nach der Schule nur beim Eierkochen. Pflaumenweich liebte der Vater die Eier und dafür genügten zwei Vaterunser.

Der Wildling stand nach vier Wochen unter den Confirmandinnen.

An Wuchs ragte sie nun hier nicht mehr vor allen hervor; es gab schon ebenso aufgeschossene Blondinen und Brünetten wie sie, zu denen sich der Herr Superintendent nicht gar zu sehr zu bücken brauchte, wenn er ihnen Sonntags darauf den Kelch reichte; aber Lucinde war schon voll, kräftig in den Schultern, stark in den Hüften, und wenn auch im allgemeinen ihr scharfgeformter Kopf noch nichtssagend war, so wagte sie doch einen Umblick in der Kirche, der ihr ganz keck, vorwitzig und weltlich stand. Manchem mußte sie auffallen. Sie stand wie ein Heidenkind, zerstreut und ohne alle Andacht, obgleich ihre schwarzen Bänder auf Trauer deuteten. Zugegen war niemand, 33 den sie kannte, außer einer alten Magd aus dem Hause, das der Stadtamtmann bewohnte. Diese hatte ihr ein vergoldetes Gesangbuch geliehen und sie auf ihrer Kammer ausgeschmückt, so daß sie hernach zur Frau Stadtamtmann hintreten konnte und deren ganzen Beifall fand. Diese neue »gnädige Frau« schenkte ihr ein schwarzes Halsband von Sammt mit einer Stahlschnalle, die auf dem brünetten Halse funkelte wie eine Broche von Diamanten. Ja sie wurde, als sie aus der Kirche zurückkam, mit Chocolade empfangen. Die Herrschaft war gut und freundlich gegen sie.

Es war eine sonderbare Welt, in die das nun fast funfzehnjährige Mädchen stündlich hier einblicken konnte. Die Gensdarmen gingen ab und zu und der Stadtamtmann, der zwar ein für allemal im Hause und wenigstens bei Tisch mit den Vorkommnissen seines Berufes verschont sein wollte, konnte es nie dahin bringen, daß er bis zum Dessert ohne dienstliche Behelligung gekommen war. Lucinde bediente; auch wenn Gäste geladen waren; sie besaß zwar nicht viel Geschick und machte vieles verkehrt, doch wurde das alles nicht mehr mit der früher erlebten Strenge gerügt. Zerstreut mußte sie schon das ewige Rapportiren machen von dieser Dieberei und jener Gewaltthat. Ihre Phantasie, die lebhaft war, sah ringsum – sie brauchte schon nur an die doppelten Namen der ihr vorerst entschwindenden »Frau Hauptmännin« zu denken – die Welt voll Lug und Trug, und da sich's dabei doch behaglich essen und trinken ließ, so erschreckte sie eigentlich keine Thatsache, selbst kein Diebstahl, kein Mord mehr besonders; sie schüttelte im Gegentheil den Kopf darüber, daß die Dinge des Lebens darum doch alle so glatt, so höflich und vergnüglich vorwärts gingen, während doch tausend Hände daran arbeiteten sie zu verwirren, man sah's nur so nicht auf der Promenade, wenn sie mit den Kindern des Stadtamtmanns 34 ausging und die Leute still standen und die Kinder bewunderten, d. h. sie selbst und ihre auffallende Erscheinung –

Eines Tages erlebte sie auch auf der Promenade, daß ein junges Mädchen, das halb bäuerisch, halb städtisch und schwarz gekleidet war, auf sie zustürzte.

Es war ihre nächstälteste Schwester Luise –

Die trauerte? Um die Geschwister noch?

Um den Vater! Das liebe, freundliche, immer lächelnde Männlein war nicht mehr . . . Luise weinte so laut, daß es ihr Lucinde verbot, »weil ja die Leute still stünden« . . . Sie selbst war wieder nur erblaßt wie damals, als sie plötzlich nicht mehr ihre drei Geschwister hatte. Indem kamen noch zwei andere beflorte Kinder von der andern Seite. Es waren August und Gustav, ihre Brüder. Die hatten das Haus des Stadtamtmanns aufgesucht, dort gehört, ihre Schwester wäre auf der Promenade mit zwei Kindern; nun hatten sie sich vertheilt und eins hatte von hier, das andere von dort gesucht. Der Vater war todt . . . Und wie schmerzlich hatte er geendet! . . . Er war in einen der vier kleinen Bäche gefallen, mit denen Langen-Nauenheim gesegnet ist . . . Spät von dem Vorspann war er heimgekommen . . . Kein Stern blinkte . . . Es war ein großer Nebel und da hatte er eine von den Brücken verfehlt. Erst Morgens hatten sie ihn aufgefunden, wie er lag im kühlen Grunde, aufgehalten von den Wurzeln eines alten Weidenstamms.

Lucinde schüttelte düster den Kopf. Dann rief sie mechanisch des Stadtamtmanns Kindern, die sie führte, ein scheltendes Wort zu; darauf fragte sie, ob die Geschwister schon gegessen hätten. Luise versicherte es und kam auf das schmerzliche Ende des Vaters zurück. Lucinde fragte, was aus dem Hause, aus dem Garten, aus dem Geräth, den Hühnern, der Ziege, der großen Wandkarte geworden wäre. Sie erfuhr, daß alles das theils dem 35 Staate, theils dem Dorfe, theils dem Wirth zum Vorspann und einer alten Frau gehörte, bei welcher sie schon oft zuweilen ihre Betten in Versatz gegeben hatten, wenn sie auf ein paar zusammengerückten Schulbänken hatten schlafen müssen. Luise wollte nun auch dienen und die Kinder brächte man vielleicht in einer Fabrik unter. So hatte es der Gemeindevorstand in Langen-Nauenheim gesagt; sie sollten's einmal so versuchen, und »ging's nicht, so würde wol anders gesorgt werden«. Gustav war acht Jahre alt. In einer Spinnerei vorm Thor suchte man Kinder schon von acht Jahren an; es hatte das in der Zeitung gestanden, in derselben Zeitung, die der Vater immer auf bessere Zukunft zu studiren pflegte und in deren Beiblatt einst seine Phantasieen über den Beruf eines deutschen Volksschullehrers gestanden hatten.

Nec impavidum ferient ruinae . . . Latein konnte Lucinde nicht, aber der Stadtamtmann übersetzte so etwas einmal bei Tische, und sie glaubte, es hieß: »Was schadt's!« Es sollte ein Wahlspruch gewesen sein, den ein alter Ritter gehabt. Sie nahm ihn schon oft an, und heute nun, da mußte sie es schon. Sie nahm die Kinder, die alle zunächst doch noch Hunger und Durst genug hatten, mit sich; der Schwester sagte sie gleich die Miethsfrau, wo die wohnte, und wie sie mit der sprechen müsse. Die Frau Stadtamtmann war noch nicht am Ende ihrer Hoffnung, die zwei kleinen Buben vom Lande waren prächtige Jungen, sie gefielen ihr. August und Gustav blieben einen Tag und kamen dann doch nicht in die Fabrik. Der gute Stadtamtmann sorgte dafür, daß sie ins Waisenhaus aufgenommen und »gut erzogen« wurden.

Und nun sind kaum zwei Jahre von dem langen-nauenheimer Auszug vergangen, und welche Veränderungen haben wir! 36 Lucinde fand sich in alles. Sie hatte etwas Wühlendes, Unruhiges und beherrschte jede Situation. Bei Tische wartete sie nicht mehr auf. Der Stadtamtmann fand, daß es kaum noch schicklich war. In die Höhe wuchs ihr Körper nicht mehr, dafür that es ihr Geist, und sie regierte eigentlich das Haus, das sie aufgenommen. Selbstverständlich da, als die Frau Stadtamtmann eines Jungen genesen war, aber auch später. Durch ihre sichere, herausfordernde Ruhe, durch ihr spöttisches Lächeln, leider auch ihren Flunkergeist verdarb sie sich zuweilen ihre Autorität. Lange Ruhe um sie her ertrug sie nicht und übermäßiges Glück oder allzu frohe Selbstzufriedenheit um sich her, der trat sie gern in den Weg, indem sie Schicksal spielte. Der Amme gegenüber lobte sie das schöne Aussehen anderer Kinder, eine Handlung, für die man bekanntlich von jeder Amme vergiftet werden kann. Einem Bedienten, der etwas schwach von Begriffen war und seine Bestimmung verfehlt zu haben glaubte, weil er eine leserliche Hand schrieb, gaukelte sie bald diese, bald jene glänzende Aussicht vor. Hager! rief sie, wenn sie die Zeitung gelesen hatte, in Amerika ist ein Vetter Ihres Namens gestorben, man fordert alle Hagers auf sich zu melden! Mußte Hager gerade die Schuhe oder Messer putzen, so hatte sie, wenn er frei war, die Zeitung verlegt und jagte den beschränkten Menschen wochenlang mit seinen Vermuthungen, welcher von seinen Anverwandten jener in Amerika verstorbene Hager gewesen sein konnte, im Kreise um. Von ihrem Koboldgeist blieben selbst die bei einem Kaufmann dienende Schwester und ihre Geschwister im Waisenhause nicht verschont. Ihr bei aller äußern Ruhe innerlich unruhiger Sinn wuchs mit dem Besuch des Theaters, das sie durch den Stadtamtmann frei hatte, jedoch nur im dunkeln Hintergrunde einer Loge dritten Ranges, während die Herrschaft im zweiten saß. Immer mit leuchtenden Augen kam sie vom Theater heim. Man glaubte natürlich, daß 37 es etwa die Stumme von Portici gewesen, die sie so außerordentlich aufgeregt hatte; aber es waren die Zuschauer, die Logen, die glänzenden Toiletten, die fürstlichen Herrschaften. Die Tischgespräche berichteten nach wie vor von vornehmen Spielern, von zanksüchtigen vornehmen Herrschaften, von allem, was sich nur zur Kenntnißnahme des Polizeirichters einer so ansehnlichen Stadt drängte, und dergleichen angeklagte Leute sah sie dann wieder fröhlich und wohlgemuth und mit Lorgnetten spielend in den allerelegantesten Logen.

Eines Tages that sie einen tiefen Einblick in das innerste Lebensgetriebe . . . Das glänzendste Waarenmagazin der Stadt war ein sogenannter Bazar, in welchem alle Modeartikel und Bedürfnisse einer eleganten oder auch nur comfortablen häuslichen Einrichtung, soweit sie Stoffe betraf, verkauft wurden. Ein unternehmender Kaufmann im Anfang der mittlern Jahre leitete dies Geschäft, wie man sagte, nicht ganz mit eigenem Gelde. Sein Savoirfaire kam ihm jedoch zu statten, um die höchste, hohe und mittlere Gesellschaft an sich zu ziehen. So gefällig die Formen des Mannes waren, der in seinem schwarzen Frack mit weißer Halsbinde die Honneurs seines mit mindestens einem Dutzend Commis ausgestatteten Geschäftes machte, so entschieden wußte er in geeigneten Fällen aufzutreten. Schon oft war in seinem großen und schwer zu beaufsichtigenden Geschäft gestohlen worden, sogar während des Verkaufs, und oft schon hatte er, wenn entweder der Stadtamtmann bei ihm oder er bei jenem zu Tische war, erklärt, er würde niemand schonen, wenn er beim Handverkauf einen jener eleganten Diebe entdeckte, und sollte es der Vornehmste sein. Schicken Sie nur sofort zu mir, hatte der Polizeirichter erwidert. In solchen Fällen muß man der Schlange gleich auf den Kopf treten!

Und eines Tages schickte der Kaufmann; der Stadtamtmann 38 möchte eiligst, aber selbst kommen, hieß es, er möchte einen seiner Gehülfen, aber vorläufig nur in der Ferne, bereit halten . . .

Der Stadtamtmann war nicht gegenwärtig. Und da auch Hager, der Diener, nicht zugegen war, so mußte Lucinde die Mantille überwerfen und auf das Amthaus laufen.

Aber auch dort fand sie ihren Herrn nicht.

Da sie ihn auf dem Casino vermuthete, so eilte sie ins Casino und nahm sofort einen der Polizeidiener mit. Ihr Weg führte sie an dem großen Magazin des Kaufmanns selbst vorüber, in dessen obern Räumen dieser auch wohnte. Da ihre Herrschaft in die letztern beschieden war, so glaubte sie vernünftig zu handeln, wenn sie die Stiege hinaufging und dem Kaufmann wenigstens den Polizeidiener anbot, der ja solange unten, wie zufällig, bei einer glänzenden Carrosse, die am Hause stand, warten konnte . . . Da das ganze Haus nur allein von dem Kaufmann bewohnt wurde und oft der Verkehr in den obern Räumen mit dem Magazin, das zwei Stockwerke einnahm, der allerlebhafteste war, so konnte es Lucinden nicht wunder nehmen, den Eingang der Wohnung offen zu finden. Auch stand auf der Treppe ein Bedienter in Livree, der auf seine Herrschaft zu warten schien und nicht unmöglich zu der unten harrenden Carrosse gehörte, die ein Wappenschild schmückte.

Aber noch mehr Thüren standen offen und augenscheinlich herrschte in der Wohnung die größte Verwirrung, wie sie wol nach aufregenden Entdeckungen stattzufinden pflegt. In dem hintern Zimmer glaubte Lucinde einen Wortwechsel zu hören. Niemand war zugegen, außer einigen Kindern des Kaufmanns, die sorglos umherrannten. Ist der Vater da? fragte Lucinde. In seinem Bureau! hieß es. Die Bedienung schien ausgeschickt zu sein; auch die Mutter war nicht anwesend. Lucinde kommt näher; die Teppiche dämpfen ihren Tritt, und schon übersieht sie im 39 Geist, was drinnen vor sich geht. Sie zieht die Thüren hinter sich zu und steht unentschlossen, ob sie klopfen solle oder nicht . . . Nein! ruft der Kaufmann. Sie wieder, Frau Baronin! Sie sind es jetzt fünfmal gewesen! Ich schwöre Ihnen, daß ich keine Rücksicht mehr kenne! Eine Dame Ihres Standes! Schämen Sie sich! Aber ich schone Sie nicht mehr, mögen Sie auf ewig gebrandmarkt bleiben! Nicht fünf Minuten noch, so werden Sie vor dem Richter stehen! Einen Kaufmann systematisch zu bestehlen, wie Sie es jetzt schon seit Jahren gethan haben! Pfui der Schande!

Inzwischen hörte man eine weibliche Stimme Beschwörungen und Betheuerungen ausrufen, die von Thränen erstickt wurden.

Lassen Sie! Ich habe kein Mitleid mehr! rief der Kaufmann. Seit Monaten beobachte ich Sie! Seit Monaten bemerke ich, daß jedesmal nach Ihrem Besuch im Magazin ein Packet Spitzen, eine Lage gestickter Taschentücher oder Seidenzeuge oder Foulards fehlen. Ich habe die Discretion gehabt, den Verdacht meiner Leute von Ihnen abzuwenden! Nur allein ich habe mit Ihnen verkehren wollen, so oft Sie das Magazin betraten! Heute endlich seh' ich die rasche Handbewegung, als Sie eben einen Ihrer maskirten Käufe abschließen! Ich folge Ihnen, Sie verlassen den Laden, ich begleite Sie und am Wagen entdeck' ich, was Sie inzwischen unter Ihrem Mantel verborgen hatten! Schande! Aber ich kenne keine Schonung mehr!

Lucinde hörte, daß der ungeduldige Kaufmann sich näherte, um zu sehen, ob nicht endlich der requirirte Stadtamtmann kam. Jetzt aber auch vernahm sie plötzlich einen heftigen Fall und die herzzerreißende Klage einer Schluchzenden: Auf meinen Knieen beschwör' ich Sie, Herr Guthmann! Ich werde alles erstatten! Machen Sie mich nicht unglücklich!

Es währte der Auftritt noch eine Weile so fort, bis sich die 40 Vorwürfe und Drohungen milderten, das laute Schluchzen der Dame sich legte, zuletzt alles still wurde – todtenstill. Es wurde so still, so unheimlich, daß es Lucinden vor Schreck kalt überrieselte. Sie konnte nicht ganz den Vorgängen mehr folgen und dachte sich irgendeine Gewaltthat. Leise, athemlos, unsicher auftretend zieht sie sich an die Thür zurück, klinkt diese wieder leise auf und schleicht sich durch die Zimmer nach vorn auf den Vorplatz zurück, wo der galonirte Bediente wartet. Eine so anziehende Erscheinung wie Lucinde brauchte hier nicht zweimal zu fragen, um den Namen seiner Herrschaft zu erfahren. Der Diener nannte eine der ersten Damen der Stadt.

Nicht lange dann währte es, so kam der Kaufmann mit der Herrschaft des Bedienten aus seinem Bureau zurück. Es war eine schlanke, magere, noch junge Dame, die Lucinde schon oft im Theater gesehen hatte, eine Frau, von Jugendreiz und Anmuth noch überstrahlt. Sie lächelte verlegen . . . Auch der Kaufmann lächelte . . . Sie schienen etwas verabredet zu haben, etwas besprochen, was vielleicht nicht ganz erledigt war. Die Dame zögert . . . Der Kaufmann beruhigt sie mit einem süßen Bitte! Bitte! . . . Dann steigt die Dame die Stufen nieder. Lucinde wird kurz und barsch befragt, was sie wolle? Der Kaufmann kennt sie doch sonst, sah sie doch oft, war doch immer sehr artig gegen sie . . . In diesem Augenblick war er wie abwesend.

Als Lucinde in stotternder Unsicherheit die Meldung macht, daß der Stadtamtmann nicht zugegen gewesen wäre, daß sie aber vom Amte jemand mitgebracht hätte, der unten warte, entschuldigte sich Herr Guthmann mit jetzt sich findender Artigkeit wegen »vergeblicher Bemühung«. Mit einem auszurichtenden Gruße an ihre Herrschaft und mit dem Auftrag, einen stattgehabten »Irrthum« anzudeuten, steigt Lucinde die Treppe nieder. Unten 41 rollt eben die prächtige Carrosse ab. Den mitgebrachten Gensdarmen mußte Lucinde gehen heißen.

Diese Scene veranlaßte in ihr Aufregungen, die sie kaum beherrschen konnte. So hatte ihr noch nie das Herz geschlagen, so war ihr noch nie das Blut durch die Adern gerollt. Sie verschloß das Erlebte tief in sich. Nicht Schonung oder vielleicht eine angeborene Discretion war es, was sie zu dieser Verschwiegenheit bestimmte. Entweder fürchtete sie zu verrathen, daß sie schon trotz ihrer Jugend eine solche Scene verstanden hatte, oder man darf glauben, daß sie einen Genuß darin fand, ein so wunderbares Erlebniß ganz allein für sich zu besitzen, ganz allein für sich zu genießen und Dinge zu kennen, welche die Nacht mit Grauen bedeckt.


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