Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Fünfundzwanzigstes Kapitel: Zwei Welten.

Bordighera, sechsten April.

Mein liebster Harro!

Heute habe ich den Frühling gesehen. Er kam übers Meer, und wo er den Strand betrat, da lief unter den Palmen ein grüner Hauch. Da standen zwischen dem Grün weiße, gelbe und feuerrote fremde Lilien, wie Flammen schlugen sie aus dem weichen Grase auf. Hohe Zypressen schauten auf sie herunter, und damit sie nicht so einsam blieben in ihrer Höhe, schlangen sich Teerosen an ihren Stämmen hinauf und drückten ihre sanften Blumenwangen an die rauhe Rinde und verbanden sie mit ihren Ranken und ketteten sie aneinander und lächelten dazu mit ihren deinen, blassen Gesichtern. Kennst Du die Olive, die auf der gelben Felswand ihre feinen Zweige in hundertfältigem Schattenspiel abzeichnet? Und die so alt und zerklüftet und zerrissen ist, daß Maßliebchen in ihren Stamm hineingewandert sind und da wohnen und leben?

Nun kennst Du sie aber nicht mehr, die alte Seele. Sie blüht über und über von rosa Rosen. Bis zum Wipfel sind sie gestiegen, ihr Grün sieht man nicht, nur die rosa Köpfchen und das silbergraublaue und das leuchtende Rosa zusammen, wie lachen einem da die Augen!

Die liebe, alte, feine Seele mit ihren Rosenkränzen!

Dann ging wohl der Frühling mit seinen leichten Füßen die Schlucht hinauf, wo hinter der Felswand die Palmen stehen. Die grüßen ihn ein wenig, ihr Freund ist ja der glühheiße Sommer, der ihnen die alte Heimat wieder bringt, sie rühren sich nicht viel. Da verfängt sich des Frühlings blauer wehender Mantel an einer Mimose.

Wie flammt sie auf! Ein Berg von purem Gold ist sie geworden, der herausschießt aus dem Gestein und alles ringsum mit seinem Goldstaub und Duft erfüllt. Wie ein Wunder steht die Mimose da, als wäre sie heute verpflanzt worden aus dem Paradiesesgarten. Und der Frühling mag wohl eine Weile bei ihr stehen und mit seinen strahlenden Augen um sich sehen. Und da steht zwischen den stolzen abweisenden Palmen ein schlanker dunkler Baum. Ein Hauch darüber, und nun steht er in weißen Blüten, der Kirschbaum, und trägt seine Last von Blütennestchen auf den schwanken Zweigen.

Wie ist er so traut, der Baum aus der Heimat. Ach, nimm einen Zweig davon, holder Frühling, und steck ihn dir auf deinen Hut und trage ihn über die sieben, sieben Berge und die Schnee- und Eispaläste nach der geliebten Sonnenhalde, wo jetzt erst die schüchternen Maßliebchen und die gelben Hungerblümchen stehen zwischen den Steinen. Und laß den bittersüßen Hauch hereinwehen, daß er aufsehen muß von seiner Arbeit und hinausschlendern und ins Tal sehen!

Du hast gewiß nicht gewußt, Harro, daß es so viel Nachtigallen in der Welt gibt, wie sie hier beisammen wohnen? Es scheint zurzeit ein großer gelber Mond, vor dem sich die Lisa fürchtet, weil er so gar nicht ist wie der Braunecker Mond. Und dazu singen die Nachtigallen. Und die Baumfrösche plappern, die kleinen, grünen, wer es am lautesten kann. Sie klappern wie Hunderte von kleinen Mühlen, und auch die mahlen lauter Liebe die ganze Nacht. Man kann gar nicht schlafen vor lauter Liebe.

Vater ist nun in Brauneck angekommen und Tante Helen hier. Wie ist sie so gut und wunderlich. Sie meint, in allem schlage ich aus der Art, und ich dürfe mir nicht einbilden, das Leben werde mich stets wie Biskuitporzellan behandeln, wie bisher.

Und dann küßt sie mich wieder und sagt: »Dir vor andern gönne ich es, daß es nach deinem Herzen geht. Ich möchte wissen, in wieviel Jahrhunderten du die einzige bist von Braunecker Töchtern, die sich nicht vor ihrer Hochzeit die Augen halb ausgeweint hat oder mit Stickrahmen, Papagei und Schoßhund im Prinzessinnenbau hat vorlieb nehmen müssen! O du Biskuitporzellan!«

Und ich muß mich so nennen und mir erzählen lassen, wie man mit dem gewöhnlichen Geschirr, als solches rechnet sich Tante Helen, die doch auch Original Brauneck ist, verfahren hat. Und ich liebe sie innig, die Tante Helen.

Mama ist in Wiesbaden, und es wird schwer sein, sie wieder nach Brauneck zu bekommen, gegen das sie nun immer erbitterter ist.

Und das kränkt Vater, der doch denkt, daß es auf der Welt keinen besseren Ort zum Leben und Sterben gibt als Brauneck.

Deine schöne Gruppe von der Prinzessin als Gänsemagd macht allen große Freude. Der Herr Professor setzt sich jedesmal so, daß er sie ansehen kann, und rückt ein wenig daran mit behutsamen Händen, daß er eine andere Silhouette davon bekommt und endlich mit sich im reinen ist, von welcher Seite sie am schönsten ist. Auch findet er, daß er sich noch nicht genug mit diesen interessanten Tieren, den Gänsen, befaßt und ihnen menschlich näher zu kommen versucht habe. Er habe sie bisher nur in gebratenem Zustand geschätzt. Aber dies sei nun ein vollständig überwundener, weil beschämend roher Standpunkt. Er ist überzeugt, daß die vordere Gans die ganze Situation, die dem Kürdchen erst dämmert, längst vollständig durchschaut hat. Darum wandelt sie auch so preislich voran. Und die zweite zischt verächtlich nach dem dummen Jungen, dem Kürdchen, und ist bereit, allerhand Angriffe, sei's von täppischen Bubenhänden, sei's von andern Kreaturen, von ihrer Prinzessin abzuwehren. Ist es nicht lieb von ihm, daß er sich so hinein vertieft hat? Und wie sehr wünscht er ein Bild von Dir zu sehen. Am liebsten den Ehrensaal. Und denke, er hat mir versprochen, uns in Thorstein zu besuchen.

Ach, das fällt mir aufs Herz. Wie ich das zu sagen wage, – es will mir fast bange werden. Weißt du, so:

»Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein –«
Liebster Harro, kann es denn wahr sein!

Deine Rosmarie.

Thorstein, den zwanzigsten Mai.

Liebste, Holdseligste, o du mein blauer Himmel!

Heute solltest Du den Brunnen hören mit seinem Amsellied. Die Amsel sitzt oben auf der alten Tanne und singt und singt. Und was der Brunnen daraus macht, das ist so, wie das, was Du aus meinen Bildern machst. Sein alter grüner Samtmantel leuchtet plötzlich auf, wie berührt von einer Lichtwelle, unsäglich schön ist das! Und zuerst kommt es mir vor, als müsse er leuchten über seiner Musik, wie beseelt sieht er aus. Schließlich wird es mir doch zu merkwürdig, abends schlafen seine Farben ja immer. Da finde ich, daß es der Reflex von dem Sonnenglast auf den neuen Fenstern vom Hause her ist. Eine kindische Freude habe ich darüber, es muß ihn ja auch freuen, daß er nun so beglänzt wird, aus der Sonnenhöhe herunter.

Nun, das wirst Du auch einmal sehen. Und ich verspreche ihm jeden Tag, daß die Holdseligste einmal auf seinem grüngrünen Rande sitzen wird, ihre langen Flechten herunterhängen lassen, und sein dunkles Auge das Weiß und Gold widerspiegeln wird. Dann ist ja die Fee von Schloß Schweigen wieder zu sehen. Weißt Du die Geschichte immer noch nicht?

Gestern war Vater da, und wir stiegen wohl zwei Stunden lang überall herum zwischen Kübeln und Leitern und dem lieblichen Duft der Maurerspfeifen und -Koteletten. Was das letztere ist, wage ich meiner Mondscheinprinzessin nicht mitzuteilen. Es scheint den Leuten ein Lebensbedürfnis zu sein, und auch Vater hat großmütig über das eigentümliche Parfüm hinweggesehen. Er war zum Glück recht befriedigt, und ich habe ihm schwören müssen, alle Arbeiten, die nicht mit Pinsel und Palette gemacht werden können, wie Bildhauen, Schnitzen, nur unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit zu verrichten. Freilich, das Schmollzimmer, das Deine Panneaux bekommt und in dem ich die Decke male, – ich will doch auch bei Deinen Kunstwerken vertreten sein, kann ich eben nur an Ort und Stelle malen. Ich verklackere mich noch entsetzlich bei der Plafondmalerei. Auf dieses wagte ich ihn nicht aufmerksam zu machen. Ich werde eben die Türen schließen.

Als ich neulich ganz verkleistert und ein Anblick zum Erschrecken in mein Atelier kam und eine halbe Stunde brauchte, das Zeug aus meinen Haaren zu kriegen, – natürlich hatte ich beständig meine Kappe verloren – da erquickte es mich ordentlich, abends von Michel Angelo selbst zu lesen, wie er seine Qualen beschreibt, als er die Sixtina ausmalte. Die betreffende Schilderung habe ich markiert, damit ich, wenn je Vater etwas von den Farbenorgien auf meinem Kopf, Kittel und Händen erfahren sollte, es ihm gleich vorhalten kann. Er muß dann wenigstens die gute Gesellschaft anerkennen, in der ich mich befinde.

Aus dieser abendlichen Lektüre darfst Du übrigens nicht schließen, daß ich über Büchern sitze. O nein, ich arbeite wie ein Pferd, bis zwei Uhr nachts zuweilen, und wie ich auf meine Lagerstätte komme, weiß ich am andern Morgen gar nicht mehr. Es ist eine Wonne, so zu leben. Es fliegt mir auch alles. So habe ich noch nie in Farben und Formen geschwelgt.

Ach Liebste –, eine Bitte von Deinem demütigen Harro! Versuche Dir auszudenken, daß das Braunecker Zeremoniell in mein Haus, fast hätte ich gesagt, meine Ruine, verpflanzt, Deinen untertänigsten Diener tief unglücklich machen würde. Die langen Mahlzeiten in der Zeit, wo die Arbeit am meisten fördert, das beständige Auf- und Abflirren von unbeschäftigten Lakaien in Schokolade- oder andern Farben! – Weißt Du, bei Euch sah ich sie gar zu oft, wie sie die Kastanien krummlehnten. Überlege Dir, Liebste, ob Du dies alles zu Deinem Glücke für unbedingt nötig findest. Ob Du Dir deklassiert vorkämest, wenn Dir einmal ein nettes, sauberes, freundliches Mädchen in einem weißen Häubchen die Schüsseln hereinbrächte? Wenn Dich aber nur die leiseste Furcht anwandelt, in diese Niederungen herabzusteigen, so will ich mich bescheiden. In einigem aber ahnt mir jetzt schon, daß ich stets hartnäckig bleiben werde. Das liegt schon daran, daß Du einen um sein Brot arbeitenden Mann haben wirst. Ich weiß wohl, daß Du mich gerne auf Daunen betten möchtest und jede Plage und Sorge von mir fernhalten und kein rauhes Lüftchen an mich heranlassen, wie Du ja jetzt schon Versuche machst.

Aber in mir ist etwas, was nur bei dem Knechtsschragen, auf dem ich immer noch liege, und im Kampf mit dem Sturmwind gedeihen kann. Laß Dir das alles durch Dein liebes Herz gehen, und das wird Dir das Rechte schon zeigen. Du hast ja von allen Menschen mich immer am besten verstanden, schon als Du ein kleines Kind warst und eigentlich das alles, was Du von mir hörtest, weit über Deinen Horizont gehen mußte.

Aber Du hattest eben den sechsten Sinn! Und namentlich für mich. Was sagst Du zu dem Plafond im Schmollzimmer? Ich habe mir Deinen Brief vom Frühling noch einmal geholt und habe daraus die Idee genommen. Den Frühling selbst zwar, in seinem blauen Mantel, so lieb mir das Bild ist – aber ihn an der Decke aufzuspießen, das widerstrebte mir. Er könnte einem doch da oben zu viel werden. So ist's eine Symphonie in blau geworden. Blau, blauer, am blauesten, sagte Dein Vater bei unsern Morgengängen an der Riviera. Blauer, abgetönter Himmel und darüber ein Flug Zugvögel, gegen die dunkeln Schwingen wird das Blau erst recht leuchtend. Und der Abschluß ein leichtes Goldgitter, über das ein Frühlingsregen emporquillt, Goldregen, Flieder, Apfelblütenzweige, ein glutiger Rotdorn. Ist Dir das nun so lieb? Um Deine Panneaux, soweit sie fertig sind, bitte ich, es wird gut sein, wenn ich sie zuweilen hinhalte, sie zu befestigen wage ich nicht, von wegen meiner Klackerei. Und nun meine ich, die Stücke schließen immer schmale holzgeschnitzte Bäumchen ab, nur wenig erhaben, die sich nach oben verästen, alles in Gold, und damit zur Decke überleiten. Dazwischen immer wieder die graugrüne Wandbespannung, damit alles nicht unruhig wird.

Wenn wir in den fertigen Räumen einmal halb so viel Genuß haben werden, wie es mir die Arbeit daran gibt, so werden wir nie nötig haben, länger als eine halbe Stunde zu schmollen.

Ich sehe mit Stolz, daß ich bereits den vierten Bogen ergreife. Nie habe ich noch an irgend wen einen Brief auf die dritte Seite des ersten Bogens gebracht.

Nimm's nicht allzu tragisch. Liebste, um was ich dich gebeten habe. Du sollst ja glücklich sein. Das ist die große Hauptsache. Und zeigt es sich, daß es ohne Schokoladene nicht geht und ohne den ganzen Train, den Du von Kind auf gewöhnt bist, so wird sich das auch finden. Nur in einem kann ich nicht nachgeben. Was meine Arbeit betrifft. Das wirst aber Du am allerwenigsten verlangen.

Leb wohl, Holdseligste, Süßeste! Wenn ich doch einen blauen Himmel malen könnte, so blau, so blau, wie ihn deine Liebe über mein Leben ausgespannt hat.

Dein Harro.

Brief der Fürstin von Brauneck an ihre Freundin Gräfin Effie Thara.

Meine liebe Effie!

Also Du hast auch schon ein Gerücht gehört und fragst nun, wie es denn möglich sei! Nun, ich muß Dir leider alles bestätigen ... Du wirst mir zutrauen, daß es mir darin wie in andern Dingen gegen die Einsicht gegangen ist. Du sagst, die Sache habe die Herrschaften so peinlich berührt, daß Du Dich beeilt habest, sie vorerst zu dementieren, bis sie sich an den Gedanken etwas gewöhnt haben. Nun, ich sehe nicht ein, was dabei herauskommt. Denn an der Sache selbst wird nichts mehr zu ändern sein. Der Fürst ist ganz verändert seither. Ganz eisern starr, und wie ich bemerke, kommt er immer mehr unter den Einfluß dieses zielbewußten Intriganten. Daß ich traurige Tage verlebe, wirst du mir glauben. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, nach Brauneck zurückzukehren, wo es mir jeden Tag geschehen kann, daß ich diesem Mann begegnen muß. Er sei zwar noch nicht in Brauneck gesehen worden, aber der Fürst reitet ganz offen jede Woche hinüber. Du hast mit Recht gesagt, daß es eine schwer erklärliche Kurzsichtigkeit war, daß wir Rosmarie nicht eine einzige Saison in Berlin gegönnt haben, wo sie doch andere Menschen kennen lernen, überhaupt hätte vergleichen können. Nun ist sie mit ihren neunzehn Jahren, wo andere erst aus der Kinderstube treten, schon fürs Leben festgelegt.

Ja, meine liebe Effie, nur eines möchte ich dazu sagen... Du ahntest nicht, wie schwer es gewesen wäre, Rosmarie nur wenigstens annähernd in eine gesellschaftsfähige Form zu bringen. Ihre Taillenweite beträgt achtundsechzig Zentimeter. Ich sage nichts weiter. Dann ihre Füße. Sie behauptet, nur sandalenähnliches Zeug tragen zu können, und so wandelt sie mit breiten, formlosen Latschen herum. Die Herrschaften sollen gesagt haben, sie habe einen wundervollen königlichen Gang. Wenn ein solcher Gang nur mit diesem Schuhwerk zu erkaufen wäre, so möchte ich darauf verzichten. Die Dame, die Ihrer Majestät Kleider schneidet, verriet mir auf flehendes Bitten ein Geheimnis, wie ich Rosmarie noch in erträgliche Form bringen könnte in kurzer Zeit. Sie müßte wenigstens sechs Wochen lang Tag und Nacht eine Corsage aus allerfeinsten Gummischnürchen tragen, das sei das einzige nach so langer Vernachlässigung. Aber wie brächte ich Rosmarie dazu? Sogar schwerlich nach einer gesellschaftlichen Niederlage, wenn sie die überhaupt merkte. Du ahnst also ein wenig die Schwierigkeiten, die ich mit meiner Tochter habe. Nun, als Künstlerfrau kann sie ja aussehen, wie sie will, und ihrem Manne wird sie ja auch so genügen. Er ist ja ganz verbauert. Es ist eigentlich schade um ihn. Früher war er trotz seiner Wunderlichkeiten doch ein Kavalier. Aber nun dieser lange Umgang mit Künstlern, Modellen oder wer weiß was, es ist ja wohl zu begreifen. Früher pflegte ihm auch etwas anderes zu gefallen. Im Juli soll die Verlobung veröffentlicht werden, bis dahin soll Rosmarie in Baden bei meiner Schwägerin Helene bleiben. Du kennst sie ja und ihre Originalitätssucht und wirst Dich nicht verwundern, daß sie der Sache bei ihrem Bruder auch gar keine Schwierigkeiten machte. Die Gute wird immer dicker und bekommt den Anflug eines tüchtigen Schnurrbärtchens. Augenblicklich steht sie sich sehr gut mit Rosmarie, die ihren Eigentümlichkeiten zu schmeicheln versteht. Darin ist Rosmarie überhaupt groß, sie hat sich sogar an mich gemacht, aber ich durchschaue sie eben doch zu gut und kann zu wenig vergessen, was sie mir alles hinterrücks zuleid getan. Und ins Gesicht. Das beliebt sie aber vollständig vergessen zu haben.

Hier bin ich ja eine Weile vor ihr sicher, ich habe Lenette bei mir, ihre Verlobung ist nur noch eine Frage der Zeit, allerdings erleben wir immer noch manches Aufregende. Ich habe die Pferde da und reite viel, Lenette und ich verkehren viel mit den Schwelms, die hier in der Nähe ihren Sitz haben. Dorthin reite ich, meist in Begleitung des jungen Arno Schwelm, der sehr amüsant ist. Er ist auch ein guter Schütze, und in Schwelm ist eine sehr schöne Schießbahn. Wir schießen oft, und ich komme ihm immer mehr nach. Neulich habe ich ihn sogar übertroffen. Wir schossen lange, ich ohne besonders gute Resultate. Da meinte er, ich schieße zu temperamentlos. Die Scheibe interessiere mich offenbar nicht genug. Ich sollte versuchen mir vorzustellen, daß ich anstatt nach der langweiligen Scheibe nach etwas schieße, was mich bedrohe, oder, lachte er, was ich hasse. Dem Betreffenden schadet es ja nichts. Er hat manchmal solche Einfälle. Du weißt, daß er großes, ja fast unheimliches Glück bei den Frauen haben soll. Von mehreren Duellen, die er gehabt hat, weiß man. Einmal saß er ja ein ganzes Jahr auf der Festung, die Geschichte wird aber nicht weiter erzählt. Er ist sehr hübsch, nur hat er zweierlei Augen, eins blau, eins braun, was seinem Gesicht etwas Zerrissenes gibt. Ich wundere mich, wie außerordentlich eifrig er auf seine täglichen Ritte ist, und ich muß sagen, ohne das Anregende und ein wenig Aufregende seines Umgangs käme ich hier um vor Langeweile und Herzenskummer. Lenettes Fata sind auch manchmal ermüdend mit zu genießen.

Aber ich vergesse zu sagen, daß ich nun nach seiner Anweisung mit Phantasieanschluß schoß und Treffer über Treffer hatte.

Meine neuen Pariser Frühsommerkostüme sind eingetroffen und im ganzen befriedigend. Zu manchem wird man freilich in Brauneck scheel sehen, wo man das Altväterische, Biedere liebt und einen am liebsten auf das Matronenhafte festnagelte. Nun, ich hoffe, nur kurz in Brauneck zu bleiben. Die Luft ist dort so tot und schwer. Jeder Gegenstand von Pietätsstrahlen umgeben und unverrückbar dort, wo er einmal sitzt. Und nicht einmal ein Auto habe ich noch, mit dem ich mich doch schnell einmal dieser Atmosphäre entziehen könnte. Und dann kommen die Verlobungsfeierlichkeiten und vermutlich einige offizielle Empfänge (fürchterlich langweilig und angreifend!). Ach, habe nur ein wenig Mitleid mit Deiner Charlotte.


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