Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Neuntes Kapitel: Das blaue Männlein.

Papa und Mama sind abgereist nach Berlin, und die weißblaue Fahne hält den Winterschlaf. Die Bäume trauern und lassen alle schönbunten Blätter herunterfallen: es schreien die Raben. Sie wissen, daß bald Schnee kommt. Seelchen lernt nähen und hat die allergeschicktesten kleinen Hände, die Nadel geht immer ganz von selbst dorthin, wo sie sollte. Frau von Hardenstein ist ganz erstaunt darüber und verspricht ihr, daß sie nun bald Weihnachtsarbeiten machen dürfe. Und sie weiß schon, was sie will, einen Stuhl will sie sticken für Harros Salon. Mit schönen Vorhangblumen. »Auf seinem Stuhl sind so häßliche Würmer.«

»Ornamente,« verbessert Frau von Hardenstein, aber Seelchen weiß ganz gewiß, daß es große und kleine Würmer sind, über dem hört man Harros Schritt draußen. O wie lange war er nicht mehr da. Er bringt eine sehr schlechte Laune mit.

»Gib Ruhe, Seelchen, ich bin widerwärtig heute. Ein alter, verdrießlicher, knarriger, schnorziger Höhlendachs. – Ich weiß wirklich nicht, warum ich euch eine solche Laune ins Haus trage.«

»Harro, ist Ihnen etwas Besonderes geschehen? Dieses Wetter ist zu trübselig. – Ich meine, wir machen Licht.«

Es ist sehr behaglich in der alten Lernstube mit ihren alten Empiremöbeln, die blauen Vorhänge werden heruntergelassen, das elektrische Licht glüht auf in der kleinen Glaskrone, auf dem großen Tisch steht ein weißer Rosenstrauß aus dem Gewächshaus.

»Harro, was ist Ihnen geschehen?« »Wie gütig, Frau Mutter, das noch einmal zu fragen. Ich warte ja nur, bis ich mich erleichtern kann. Nein, geschehen ist nichts, nur ein paar Einstürze unterm Steinwerk, die mich in meinem Bett zu verschütten bestrebt waren, es ist ihnen aber vorbeigelungen, – ein Balken hält noch. Maurer steigen herum und werfen Staffeleien über den Haufen... nein, geschehen ist nichts!«

»Wie traurig, Harro! Ich sorge mich um Sie.«

»Seelchen,« rief er, »mache keine rabenschwarzen Augen, wenn du eigentlich graue hast, komm erzähl uns etwas. Wir wollen unser nächstes Fest bereden, das Haselnußfest.«

»Ich war doch schon in Schloß Schweigen mit Papa und Mama.«

»Oh, du warst schon, wie schade, ich hatte mich eigentlich sehr darauf gefreut, es dir zu zeigen. Wie war's? Erzähle, Seelchen! Hast du den alten Spiegel gesehen und die schönen Linden! Wir gehen noch einmal nach Schweigen zur Efeublüte, die muß ja jetzt bald sein, und einmal muß doch wieder die Sonne scheinen. War es schön, Seelchen?«

»Ich habe aus dem Brünnlein getrunken, mit Papa aus silbernem Becher, daß ich es nie vergesse. Daran die Fee saß und der Ritter in eisernem Panzer.«

Harro lacht hell auf und schlägt sich auf die Schenkel.

»Du bist ein lebendiges Märchenbuch... Wie gemütlich ist's bei euch und wie die Rosen duften! Und Frau Mutter strickt an einem Ding, das meine Tante Uli einen Seelenwärmer nennt. Stricken Sie mir doch auch einen, ich kann's brauchen in meinem feuchten, rutschenden Dachsbau. Komm, erzähl vom Ritter und der Fee, Seelchen.«

»Ach, die Geschichte weiß man nicht mehr, und ich mag auch nichts mehr erzählen. Papa habe ich in Schloß Schweigen geärgert und ihm den schönen Tag verdorben, und Mama hat sich darüber gefreut. Und sie mag Schloß Schweigen gar nicht, weil es nach Gespenstern riecht.«

»Wie riechen denn die?« »Altmodisch, sagt Papa, und, Harro, was sind denn Gespenster?«

»Wie kann ich das wissen? – Du mußt dir abgewöhnen, immer zu meinen, ich sei allwissend.«

»Warum hat sich denn der Fürst über Sie geärgert? Sie haben mir gar nichts davon erzählt,« fragt Frau von Hardenstein.

»Ich habe mich geschämt. Ich sollte nicht auf den Zehen gehen, und als ich den Vorhang küßte, war Papa zornig ... Und das mußte ich doch.«

»Warum denn, Seelchen?«

»Ach Harro, ich mußte! Ich konnte in dem Zimmer doch nicht laut sprechen, in dem sie lag ... sie ... ach nun sind wir wieder an ihr, der Frau mit dem Silberkleid. Ein blaues Männlein hing von der Decke,« das Seelchen weint fast, »und Papa will mir's nicht glauben.«

»Das mußt du deinem Vater nicht übelnehmen, wenn ich hinübergehe, werde ich wohl auch kein blaues Männlein sehen. Wir sollten Kompagniegeschäfte machen ... deine Augen und die meinen ... Nun und sie! Wieder im Silberkleid und den ...«

»Harro, ich möchte Sie dringend bitten,« unterbricht Frau von Hardenstein.

»Entschuldigen Sie, Frau Mutter, aber das blaue Männlein, das ist doch gestattet!«

Seelchen stellt es dar mit einem blauen Regenmantel und Kapüzchen.

»Und das sonderbarste an dem Männlein war, hinten wuchs ein Hirschgeweih heraus und darauf steckten Kerzen.«

»Ach, du meinst eine Leuchterfigur ... Und darum heißt das Schloß Schweigen! Ach, wenn du's nur auch lerntest, Seelchen. Natürlich am rechten Fleck, meine ich ... Aber dein Männchen hat mich doch gefreut, das gäbe eine feine Leuchtfigur für ein Musikzimmer, Seelchen. Will mir's doch merken. Und das Männlein muß eine Laterne tragen, worin das Licht ist. Schweigen!« Auf dem finstern langen Heimweg sinnt der Thorsteiner so vor sich hin – das blaue Männlein ... Kein Mensch weiß, warum das Schloß Schweigen heißt. Wo die Herren ihre lärmenden Jagden abhielten. »Ich muß doch den Domänenrat fragen, wie lange das Schloß nicht mehr bewohnt war.«

In der Ruine lärmen immer noch die Maurer, und weder Ofen noch Wände haben Vernunft angenommen. So wandert der Thorsteiner am nächsten Tage nach Brauneck. Er erfährt nicht viel. Seit zweihundert Jahren ist das Schloß nicht mehr dauernd bewohnt, vor achtzig Jahren ist es neu eingerichtet und das alte Gerümpel hinausgeworfen worden. Der Fürst hält sehr darauf, daß nichts geändert wird. Schon im sechzehnten Jahrhundert hieß es Schweigen. Ob der Fürst wohl gestattet, daß man ein wenig da herumstöbert ...

»Herr Graf, ich fürchte, Sie finden nichts als alte Töpfe. Die Küche ist eine Sehenswürdigkeit, noch mit der ganzen Einrichtung. Hier ist das Inventar, alles bis auf den letzten Bratspieß aufgezeichnet – ja, wir halten Ordnung in Brauneck. Wenn Sie sich für alte Töpfe interessieren ... Was sammelt man nicht alles ... Sollten Sie irgend etwas Interessantes finden, so wird es den Fürsten sehr freuen.«

Harro hat kein besonderes tendre für alte Töpfe. Da es immer noch herunterrieselt ... ein grauer, farbloser Herbsttag – die Maurer in der Ruine – er hat bereits die großen Stiefel an ... An einem solchen trostlosen Tag müßte Schloß Schweigen seinem Namen Ehre machen.

Harro geht durch den tropfenden Wald, wo es rauscht und rauscht vom Regen und dem Fallen der Blätter, die wie große traurige Schmetterlinge sich langsam herabsenken. Smaragdgrün sind die Wiesen mit den letzten frierenden nackten Herbstkindlein. In Wettermantel, Kapuze und hohen Stiefeln – wie genießt man die Regenwelt. Wie jeder Baum seine Regenlast anders trägt, am schönsten die Birke, an deren feinem Gezweig die glänzenden Perlen wie Geschmeide hängen. Im Tannenwald ist's am heimlichsten, da klingt's auf dem Nadelboden, wenn das Dach den Regen hindurchläßt, da webt's von Nebelfetzen, und an den Stämmen stehen wie aus feinstem mattem Gold die Elfenringe der Pilze.

Die dunkeln Mauern von Schloß Schweigen verlieren sich in den Nebelhimmel. Der Bergfried sieht wie ein phantastisches Ungetüm aus. Harro stöhnt vor Entzücken. Ein Riesenschloß von Dämonen bewohnt! Das ist das Wetter für Schweigen! »Ich darf nur deinen Spuren nachgehen, Seelchen, so habe ich Glück! Ich könnte jetzt zu Hause sitzen, bei Staub und Mörtelgeruch. Das liegt so da, kein Mensch sieht's! Dort aus der Mauerluke müßte ein kleines rotes Licht hervorbrechen, wie ein böses Auge, daß man sieht, die Dämonen, die schlafen nicht – sie wachen. Und ich sollte nun nicht im Lodenmantel dastehen, sondern neben einem müden Schimmel mit Eisenhaube und verbeultem Harnisch ... und vor mir noch die alte Zugbrücke, dort sind die steinernen Angeln, in denen sie lief. Das Seelchen kann dazu dichten, was der Ritter vor der Geisterburg will ... sie wird es schon wissen ... Ich brauch's nur zu malen ... Herrgott, ist das eine Freud!« –

Es ist eine lange Andacht, die der Thorsteiner vor der düstern, eingenebelten Burg hält, eine gesegnete Stunde, wie sie den Glücklichen wird, die die sehenden Augen haben, den Narren und Träumern.

Endlich zerreißt ein Windstoß den Nebel und ein stärkerer Regen prasselt nieder, – und er erinnert sich, daß er alte Töpfe ansehen wollte und merkt, daß es eiskalt geworden ist. »Wenn die Dämonen mir zum Empfang einen Hexenschuß schicken, soll mich's nicht wundern!« brummt er. Die Försterin ist sehr erstaunt über den Besuch und läßt ihn freundlich mithalten an den Leberspätzlen, die sie für sich und die zwei Rotköpfchen gekocht hat. Sie wohnen noch nicht lange in Schweigen, und die Försterin weiß nichts von altem Gerümpel. Auf dem Dachboden liegt auch nichts mehr. Sie hielten auf Ordnung. –

»Ordnung, heilige Himmelstochter,« seufzt Harro über seinen festen Leberspatzen. Aber dann bekommt er alle Schlüssel und kann den kurzen Nachmittag so gut anwenden als er will. So riechen also Geister. Die Stuben, deren schmale Fenster noch durch die Efeuranken verdüstert sind, sehen so finster aus wie möglich. Die reizenden Rokokomöbel sehen ganz verdrossen drein, und die Porzellanschäferin dort muß es sicher frieren. Und nie hat Harro Spiegel gesehen, die mehr darnach aussahen, als ob sich plötzlich von hinten ein zweites Gesicht hinter dem eigenen präsentieren könnte. Die heilige Himmelstochter herrscht wirklich überall, bis zum obersten Dachboden, wo in einer vielversprechenden Kammer sich schließlich nur wohlgehaltene Gastbetten vorfinden, die auf Jagdgäste warten. Die Küche ist sehr interessant, aber Harro bringt für die schönsten ziselierten Messingmörser nur ein schwaches Interesse auf. – Nirgends ein blaues Männlein! Harro findet seine Idee, darnach zu suchen, nun sehr absurd und lächerlich. Das Schloß ist gründlich untersucht, aber es gibt noch Nebengebäude. – Dort in dem Anbau neben dem Palas die kleinen vergitterten Fenster. Das sei die Schreinerstube, belehrt ihn das rotköpfige Försterkind. Darin wären einmal Räuber gewesen, und deshalb sei Vaters Flinte immer geladen.

»Wollen wir zu den Räubern oder fürchtest du dich?« Das Rotköpfchen lächelt zu ihm hinauf, der lange Herr sieht aus, als traute er sich mit allen Räubern, und sie kennt den Schlüssel. Ein großer, finsterer Raum, der Harro der Inbegriff von all dem Düstern, das er heut gesehen, erscheint, öffnet sich ihnen, sehr groß und so nieder, daß Harro kaum aufrecht stehen kann. Die fernen vergitterten Fenster scheinen ins Unendliche zu verdämmern. Altes Handwerkszeug liegt herum, die niedrige Decke tragen rohe Holzsäulen.

»Hier kann unmöglich je etwas anderes geschreinert worden sein als Särge,« denkt Harro, »Särge für alle Braunecker. Rotköpfchen, geh und bitte die Mutter um eine Kerze ...« Er läuft herum, gebückt, die Hände in den Hosentaschen. »Haben das die Dämonen wohl zu Winterställen für ihre Lindwürmer gebaut ... für Menschen kann das doch nie gedacht gewesen sein, wie ein Saal ist's aus einem bösen Traum; immer niedriger wird er, bis man schließlich kriechen muß, – puh ... ein wahrer Alp ... der Teufel hol ...«

Die alten Säulen erfahren nicht, was der so viel Angerufene in seiner bunten Rumpelkammer versorgen soll, Harro sitzt plötzlich auf einem Sägebock, es brummt ihm wie hundert Hummeln vor den Ohren, über seine Stirne rinnt ein Blutstreifen. »Nun, ich muß sagen, ganz, was man von den Dämonen erwarten sollte!«

Da kommt die Kleine mit der brennenden Kerze herein und stellt sie auf den Boden und fängt gellend an zu jammern: »Räuber sind da ... Dein Blut läuft heraus!« und rennt, so schnell sie die Füßchen tragen, zum Eingang zurück. Harro wischt sich das Blut von der Stirne.

»Wo der Teufel hab ich mich so fürchterlich angestoßen?«

Er nimmt die Kerze, da, der vorspringende Balkenkopf, wenn man so unmöglich lang ist! Der Balkenkopf. Herrgott! ... Zu – einem hockenden Männlein geschnitzt, das den Finger an die Lippen hält, das Röcklein gegürtet, das noch Spuren blauer Bemalung trägt. Und wie er jetzt die Säulenreihe hinabgeht und sie mit seiner Kerze ableuchtet, da trägt jeder Balkenkopf das Zeichen, manchmal nur in einem Stückchen blauer Bemalung oder in einem Stück des Kopfes. Von allen Seiten haben sie herabgesehen, drohend, warnend, lächelnd auf die Knappen, die wohl in dem unheimlichen Saale tafelten.

Die Försterin kommt, von zwei weinenden Rotköpfchen, die an ihrem Rock hängen, begleitet.

»Herr Graf, Sie haben ein Unglück gehabt, Sie sehen ganz weiß aus! Es ist ein zu wüster Ort.«

»Gar nicht, Frau Försterin, man muß sich nur darin zu benehmen wissen, und Leute ohne Augen bekommen eben eins vor den Kopf. Sie geben mir ja schon eine Leinenbinde. Nimmer weinen, Klärle, die Räuber sind fort, da muckst keiner mehr ... Wenn ihr ausgeweint und eure Näschen geputzt habt, mach ich von jedem von euch ein Konterfei.« »Ach, das wäre mir eine Ehre,« sagt die Försterin errötend. »Das kann ich doch nicht verlangen! Und ich darf einen Kaffee machen; die Kälte geht heute bis auf die Knochen.« – –

Es ist schon stockfinster, die Frau Försterin hält überselig zwei feine Blättchen in der Hand. – »Ach, schenken Sie uns doch wieder einmal die Ehre, Herr Graf!« Und Harro wandert den finstern weiten Weg wieder zurück, und so todmüde er ist, so spannt er sich doch noch eine Leinwand auf in den großen Rahmen, den ihm Märt gezimmert hat.

Noch im halben Dämmer und mit schmerzendem Kopfe steht er am andern Morgen davor und bewegt den Gedanken. Sage ich's nun dem Seelchen, daß ich ihr blaues Männlein gefunden habe, oder nicht? – Sie kam niemals in die Schreinerstube, die Frau Försterin entsetzte sich über seine Anfrage ... Da müßte sie sich doch schämen vor den Herrschaften: mit dem »wüsten Gruft«. Aber der Fürst soll es sicher erfahren, er wird des Kindes Fragen nicht vergessen haben. Und er beschließt, dem Fürsten es in der Form mitzuteilen: Schloß Schweigen habe ihm die Anregung zu einem neuen Bilde gegeben und er habe dabei eine Schnitzerei entdeckt, die sich auf den Namen des Schlosses beziehe ...

Und das Seelchen! Nein, er darf Frau von Hardenstein nicht in ihre pädagogischen Maximen hineingreifen ... Also erfährt das Seelchen nichts vom blauen Männlein. Und Harro geht auch nicht wieder nach Schweigen und malt sein Bild aus dem einzigen Eindruck heraus.

Und es wird ein stiller Winter, aber der Ruinengraf feiert doch wieder Weihnachten! Der Fürst hat sich zwar nicht gedacht, daß seine kleine Tochter immer noch allein bleiben sollte in Brauneck, nun sie wieder eine Mutter hat; aber kaum ist die Kleine in Berlin installiert, bekommen die Portierskinder in Palais Brauneck Diphtherie, und der schwer erschreckte Fürst flüchtet seine Kleine nach Brauneck. Und warum sollte sie nicht dableiben den Winter über, die Fürstin findet, daß dies alles so vereinfacht!


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